Anna fror.
Sie trug einen Wollpulli, ihren Skianorak, Mütze und Handschuhe und sogar ihre Skihose, doch es war gar nicht so leicht, sich warm zu halten, wenn man in solch einer eisigen Kälte nichts anderes zu tun hatte, als zu warten.
Sie hatte die letzten beiden Schulstunden geschwänzt, um sich auf den letzten Kampf mit dem Mädchen gut vorzubereiten. Am Morgen hatte sie eine ganze Sporttasche voll warmer Klamotten mitgenommen und zu den Fundsachen geschmuggelt, wo sie ganz sicher niemandem auffallen würde. In der Mittagspause holte sie die Tasche, ging mit ihr auf die Toilette und zog sich um. Sie wartete in voller Montur in einer der Kabinen, bis die Pausenglocke zum Unterricht läutete, dann schlich sie sich hinaus.
Sie machte sich direkt auf den Weg zu den Ruinen.
Alles war noch genau so, wie die beiden es am Abend hinterlassen hatten. Sie hatten befürchtet, dass irgendjemand ihnen vielleicht gefolgt sein und die Falle zerstört haben könnte. Oder, noch schlimmer: selbst hineingefallen war. Aber alles sah gut aus. Es hatte sogar noch mehr geschneit, genau wie sie es sich gewünscht hatten, sodass die Falle jetzt unter einer dicken Schneedecke verborgen war.
Anna setzte sich auf die Steinmauer hinter dem Todesschlund und wartete.
Sie sah sich um. Wirklich ein seltsamer Ort.
Es wäre gut, mehr über ihn zu erfahren und herauszufinden, was damals wirklich geschehen war. Unglaublich, zu all den Fenstern hinaufzusehen und sich vorzustellen, dass dort überall Menschen gewohnt hatten.
Die Stille war bedrückend.
Plötzlich knirschte es hinter ihr, doch als sie sich umdrehte, sah sie nicht Margrét und das Mädchen, sondern einen kleinen Jungen mit einem roten Spielzeugauto. Er stand einfach da, ein paar Meter von ihr entfernt, und sagte nichts.
Sein Gesicht war nicht zu erkennen.
»Haaallo. Bist du allein hier?«
Der Junge zeigte keine Reaktion.
Irgendetwas an ihm war merkwürdig, doch Anna konnte nicht sagen, was es war.
Er stand mit gesenktem Kopf da, in einer Faust das Auto.
Doch dann hob er seinen Kopf wie in Zeitlupe. Anna hatte das Gefühl, ihn etwas sagen zu hören,
geh weg schnell fort von hier du bist hier nicht zu Hause
doch sein Mund blieb geschlossen.
Schon wieder hörte Anna etwas hinter ihrem Rücken. Als würde jemand durch den Schnee auf sie zustapfen.
Schnell drehte sie sich um, doch da war niemand.
Auch im Schnee keine Spuren außer ihren eigenen.
Sie wandte sich wieder dem Jungen zu: »Hast du das auch gehört …?«
Doch es war niemand mehr da.
Verwirrt drehte Anna sich im Kreis. Sie war allein in den Ruinen. Dort, wo gerade noch der Junge gestanden hatte, war der Schnee glatt und unberührt.
Sie war ganz steif vor Angst.
Was ging hier bloß vor sich?
Hatte sie Halluzinationen?
Sie schloss die Augen, ließ sich mit dem Rücken gegen die Steinmauer fallen und rutschte an ihr herunter, zitternd vor Kälte und Furcht.
Sie war den Tränen nahe. Wenn doch bloß Margrét und das Mädchen endlich kämen, sie wollte nicht mehr allein sein. Dies war kein guter Ort, das spürte sie ganz deutlich.
Sie wollte die Sache jetzt so schnell wie möglich hinter sich bringen und dann nach Hause.
Da hörte sie schon wieder etwas. Es kam immer näher.
Anna traute sich kaum, die Augen zu öffnen. Sie hob die Lider nur ein winziges bisschen – und sah nichts.
Mit einem Schluchzen machte sie die Augen ganz auf.
Es war nichts und niemand zu sehen.
Langsam stand sie auf und spähte in alle Richtungen. Sie hatte das Gefühl, leise Stimmen aus dem Todesschlund zu hören. Als würde sich dort jemand unterhalten.
Anna wich zurück, bis sie mit dem Rücken wieder an der Mauer stand, von der sie sich nicht mehr wegtraute. So konnte sie wenigstens niemand mehr von hinten überraschen.
Jetzt weinte Anna. Sie konnte nicht mehr.
Da, schon wieder ein Geräusch.
Diesmal kam es von oberhalb der Mauer.
Ganz langsam drehte Anna den Kopf.
Über ihr thronte das Mädchen. Es war noch immer in Annas Gestalt, doch so hatte sie selbst noch nie ausgesehen. Die Haare standen in alle Richtungen, struppig und zerzaust. Die Augen funkelten gelb und hatten nichts mehr mit Menschenaugen gemein. Mit krummem Rücken hockte das Mädchen auf der Mauer wie ein Wasser speiender Dämon.
Und lachte.
Ein widerliches, tiefes, röchelndes Lachen.
»Du bist bemitleidenswert, Anna«, sagte es mit dröhnender Stimme. »Und du auch.«
Die letzten Worte galten Margrét, die keuchend angerannt kam.
»Anna, ist alles okay?«
»Ja. Mann, bin ich froh, dich zu sehen!«
Margrét war ganz außer Atem. Sie war so schnell gerannt, wie sie konnte, und hatte trotzdem nicht mit dem Mädchen Schritt halten können. Den ganzen Weg zu den Ruinen hatte sie eine Mordsangst gehabt, dass das Mädchen irgendetwas mit Anna anstellen könnte, bevor sie selbst dort eintreffen würde, doch zum Glück war noch nichts passiert. Abgesehen davon, dass das Mädchen immer furchterregender und kaum noch wie ein Mensch aussah.
Mit einem Mal war Annas Selbstbewusstsein wieder da. Sie schlüpfte auf die andere Seite der Falle und baute sich neben Margrét auf. Der Todesschlund befand sich nun genau zwischen ihnen und dem Mädchen.
»Ich will mit dir verhandeln. Gibt es nicht irgendetwas anderes, das ich dir geben kann, damit du mich und meine Familie und Freunde in Ruhe lässt?«
Das Mädchen lachte noch lauter.
»Mir geben? Was solltest du mir denn schon geben? Ich kann alles von dir haben, wenn ich will. Und du …« – es zeigte auf Margrét – »hast einen großen Fehler begangen. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, wenn du niemals im Leben meine Freundin wirst.« Den letzten Halbsatz spuckte es Margrét in zynischem Tonfall entgegen.
Anna warf ihrer Freundin einen fragenden Blick zu. Was war zwischen Margrét und dem Mädchen vorgefallen?
Da streckte das Mädchen die Hand aus, richtete seinen Zeigefinger auf Margrét und bewegte ihn langsam hin und her.
Margrét schwankte im selben Takt nach links und rechts!
»Lass das, ich will nicht …« Margrét wurde richtig herumgeschleudert. »… das tut weh. Lass. Das. Sofort.«
Das Mädchen lachte so laut, dass es in den Ruinen widerhallte.
Anna versuchte, Margrét festzuhalten, doch da wurde auch sie hin und her geworfen.
Sie musste versuchen, das Mädchen zu stoppen. Aber einfach zu ihm herübergehen konnte sie nicht, dann würde sie selbst in den Todesschlund stürzen.
Also brüllte sie das Mädchen an, es solle endlich damit aufhören und tun, was Anna ihm sage. Tränen der Wut und Verzweiflung liefen ihr über die Wangen. Doch ganz gleich, was sie sagte, das Mädchen ignorierte sie und sprach weiter zu Margrét: »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, wenn du niemals im Leben meine Freundin wirst. Dann bist du mir bloß im Weg und ich sollte dich besser gleich loswerden.«
Margrét schrie wie am Spieß. Sie wurde so heftig herumgerissen, dass ihr Kopf im Takt vom Finger des Mädchens hin und her schleuderte. Das Mädchen grinste und bleckte seine gelben, messerscharfen Zähne. Dann streckte es die andere Hand aus und bewegte den Zeigefinger im Kreis.
»Seht her, was ich kann. Den einen hin und her, den anderen im Kreis. Gleichzeitig! Ich wette, das kriegt ihr nicht hin.« Es lachte gehässig.
Nun wurde Margrét auch noch im Kreis gedreht. Zuerst langsam, doch dann wurden die Drehungen schneller und immer schneller.
Margrét stieß einen langen, herzzerreißenden Schmerzensschrei aus.
Sie wirbelte schneller
und schneller
und schneller.
Anna konnte ihre Freundin gar nicht mehr erkennen. Sie wurde so schnell herumgewirbelt, dass man ihre Umrisse nicht mehr ausmachen konnte. Sie war zu einem undeutlichen, schreienden Strudel geworden.
Aus dem Strudel spritzte Blut.
Das Mädchen hob die Hände über den Kopf.
Der Strudel hob ab.
Das Schreien wurde immer schriller.
Das Mädchen schlug die Hände auf seine Oberschenkel. Das schmale Ende des Wirbels bohrte sich genau vor den Füßen des Mädchens in die Erde, der obere Teil schleuderte in immer größeren Kreisen herum und wurde langsam in den Boden gesogen, wie das Wasser im Abfluss einer Badewanne, wenn man den Stöpsel herauszieht.
Margrét war verschwunden.