Als Anna sich all das noch einmal in Erinnerung rief, musste sie zugeben, dass sie es zu weit getrieben hatte. Sie hatte nicht nur ihre Eltern, Lehrer und Freunde betrogen, sondern auch sich selbst.
Dass sie wirklich geglaubt hatte, damit durchzukommen, ohne jemanden zu verletzen! Und wenn es nur das gewesen wäre – jemanden zu kränken oder vor den Kopf zu stoßen –, das war ja noch erträglich. Es wäre auch gut gewesen, wenn sie aufgeflogen und bestraft worden wäre. Alles war besser als die Situation, in der sie jetzt steckte.
Ihr Leben war aber auch einfach zu schön gewesen. Anna hatte genau das machen können, was sie wollte, und eigentlich auch, wann sie wollte. Sich das Gemecker der Lehrer und die Sorgen ihrer Eltern nicht mehr anhören zu müssen und gleichzeitig alles mitzunehmen, was Spaß machte, war einfach nur großartig gewesen.
In der Schule hatte Anna immer alle Hausaufgaben parat. Hatte alle Arbeiten, Aufsätze und Präsentationen zur rechten Zeit fertig und die Arbeitshefte ausgefüllt. Hin und wieder war sie in Schwierigkeiten geraten, weil sie selbst sich gar nicht damit beschäftigt hatte und überhaupt nicht wusste, was in ihren eigenen Arbeiten stand. Doch meist schaffte sie es irgendwie, ihren Kopf zu retten.
Sie hätte sofort Schluss machen sollen, als die ersten Zweifel kamen. Sofort als ihr bewusst wurde, dass das Mädchen einen immer größeren Teil ihres Lebens übernahm, dass sie selbst mehr und mehr eine Nebenrolle spielte und das Mädchen die Hauptrolle.
Ein ungutes Gefühl hatte Anna zum ersten Mal, als die nächste Klassenarbeit näher rückte. Als ihr klar wurde, dass sie die Arbeit beim besten Willen nicht selbst schreiben konnte, wenn sie nicht durchrasseln wollte. Bei der Prüfung so grottenschlecht abzuschneiden, wäre schon seltsam gewesen, wo sie doch angeblich immer zu Hause saß und lernte und sie auch sonst in letzter Zeit immer gute Noten bekam.
Daher hatte Anna keine andere Möglichkeit gesehen, als das Mädchen zu bitten, für sie zur Prüfung zu gehen.
Das Mädchen war sofort einverstanden gewesen, hatte vielleicht sogar etwas zu freudig reagiert. Wer freut sich schon ein Loch in den Bauch, wenn er eine Prüfung vor sich hat?
Auch an jenem Abend, als das Mädchen bei Annas Rückkehr nicht wie abgemacht im Zimmer war, hätte sie auf ihre zweifelnde innere Stimme hören sollen. Als sie sich zum Wohnzimmer schlich, hatte sie das Mädchen auf dem Sofa liegen sehen. Den Kopf hatte es im Schoß der Mutter, die ihm übers Haar strich und so glücklich und zufrieden wirkte.
Oder als sie einmal durchs Fenster geklettert kam und das Mädchen auf ihrem Bett lag und ihr Tagebuch las!
»Ich muss alles über dich wissen, damit ich dich auch wirklich überzeugend spielen kann«, hatte es sich gerechtfertigt, mit diesem unerträglichen Grinsen auf den Lippen.
Anna hatte dem nicht widersprechen können.
Die meisten ihrer Klassenkameraden schienen keine Veränderung wahrzunehmen und auch die Lehrer merkten nichts. Sie waren bloß zufrieden, dass Anna die Schule endlich ernst nahm.
Immer häufiger hatte Anna das Mädchen bitten müssen, an ihrer Stelle zum Unterricht zu gehen. Zu Beginn, weil sie so viel Zeit wie möglich auf dem Hügel verbringen wollte. Doch dann merkte sie bald, dass es gar nichts brachte, völlig unvorbereitet im Unterricht zu sitzen. Sie hoffte bloß, dass das Mädchen sich zurechtfand und nirgendwo auffiel. Dafür war es zugegebenermaßen wirklich sinnvoll, das Tagebuch zu lesen.
Annas Eltern waren überglücklich und lobten sie in den höchsten Tönen. Nur ihr kleiner Bruder Egill wirkte unzufrieden. Er benahm sich in ihrer Gegenwart auf einmal komisch und kam morgens nicht mehr in ihr Bett gekrochen, mit einem Buch, aus dem sie ihm vorlesen sollte. Anna wollte das Mädchen immer fragen, ob etwas vorgefallen war. Doch sie hatte so viele andere Dinge im Kopf, dass sie es immer wieder vergaß.
Anfangs waren vor allem ihre beiden besten Freundinnen sehr zufrieden. Margrét und Vigdís hatten nicht so viele Freizeitverpflichtungen wie Anna und fanden es natürlich toll, dass sie auf einmal viel mehr Zeit mit ihnen verbringen konnte. Margrét hatte wohl manchmal das Gefühl gehabt, dass Anna sich merkwürdig verhielt und irgendetwas an ihr anders war. Doch Anna konnte sich immer leicht herausreden und Margréts Zweifel einfach weglachen.
Anna, Margrét und Vigdís waren schon seit Kindergartentagen befreundet, und obwohl es immer heißt, dass Freundschaften zu dritt nicht funktionieren, gab es bei ihnen nie Schwierigkeiten: Keine von ihnen wurde ausgeschlossen und es war auch niemand böse, wenn mal zwei etwas zusammen unternahmen, während die dritte anderes zu tun hatte. Sie waren drei beste Freundinnen, Punkt. Anna bekam manchmal mit, dass man sie Dreigespann nannte, und irgendwie freute sie das. Vigdís war eher ruhig, aber lustig und clever, und auch dass sie ein Jahr älter war, störte nicht. Margrét war genauso alt wie Anna und ging mit ihr zum Handballtraining. Ab und zu kam noch Vigdís’ Klassenkameradin Ingibjörg dazu. Auch sie spielte Handball, aber da sie ein Jahr älter war, trainierte sie in einer anderen Gruppe. Die Freundinnen hatten sich angewöhnt, jeden ersten Freitag im Monat zusammen ins Café zu gehen. Um bei einem Becher Kakao und irgendetwas Leckerem zu quatschen und »die Lage zu besprechen«, wie sie es nannten.
Jetzt hatte Anna ihren Freundinnen zum allerersten Mal nicht die Wahrheit gesagt. Irgendwie brachte sie es nicht fertig, ihnen zu beichten, dass sie nicht nur die Leute in der Schule an der Nase herumführte, sondern überhaupt alle Menschen um sich herum belog. Sie hätte ihnen nicht mehr in die Augen schauen können, wenn sie davon gewusst hätten. In ein paar Wochen würde der Spuk ohnehin vorbei sein – keiner musste etwas davon erfahren.
So hatte Anna alle Alarmglocken ignoriert und es genossen, sich den ganzen Tag und an den meisten Abenden zu vergnügen.
Der Januar ging zu Ende, es wurde Februar und Anna verbrachte immer weniger Zeit mit ihren Eltern und ihrem Bruder, mit Margrét und Vigdís, weil sie die meiste Zeit auf dem Hügel war bei den anderen Snowboardern. Die hatten sie mit offenen Armen empfangen, allen voran Magni, der ihr unermüdlich zeigte, wie man am geschicktesten mit dem Board umging. Nicht zuletzt seinetwegen wollte Anna so oft und so lange wie möglich auf der Dämmerhöhe sein. Er wohnte im Nachbarviertel und ging dort zur Schule. In die zehnte Klasse …
Obwohl Anna für ihn offenbar mehr wie eine kleine Schwester war, hatte sie Schmetterlinge im Bauch, wenn sie ihn sah, und bekam weiche Knie, wenn er zurückguckte.
Schließlich bat sie das Mädchen sogar, für sie zum Handballtraining und manchmal auch zum Tanzen zu gehen, um noch mehr Zeit in Magnis Nähe verbringen zu können.
Erst als Vigdís kurz vor Beginn der Winterferien anrief und Anna bewusst wurde, dass sie schon seit fast einer Woche nicht mehr gesprochen hatten, kam sie ins Grübeln. Sie beschloss, in ihrer Freizeit wieder mehr Zeit mit den Menschen zu verbringen, die ihr wirklich wichtig waren. Zumal Magni verreisen und eine Woche lang im Ausland sein würde.
Also ließ sie das Snowboard in der Garage, um stattdessen endlich mal wieder ihre Freundinnen zu treffen. Pétur, der Handballtrainer, hatte im Hinblick auf das nächste Turnier einige zusätzliche Trainingseinheiten angesetzt und Tanzlehrerin Berglind hatte einen straffen Plan für die Frühjahrsaufführung festgesteckt. Genau der richtige Zeitpunkt also, um sich wieder mehr auf diese Dinge zu konzentrieren, statt so viel Zeit auf dem Hügel zu vergeuden.
Anna sagte dem Mädchen, dass es von nun an nur noch abends kommen und die Hausaufgaben machen solle, sie sich um alles andere aber selbst kümmern würde.