Der nächste Tag war ein Sonntag. Es war schon Mittag, als Anna von ihrem klingelnden Handy geweckt wurde.
Vigdís war dran.
»Ähm, hi Vigdís.«
»Hi. Anna? Margrét ist doch bei dir, oder? Wollen wir nachher was zusammen machen?«
Ups … Anna wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte unmöglich noch einen weiteren unschuldigen Menschen mit in diese Sache hineinziehen und das Risiko eingehen, dass das Mädchen auch Vigdís angreifen würde.
Außerdem konnte sie sich nicht allein mit Vigdís treffen. Dann würde sie sofort merken, dass etwas nicht stimmte.
»Vigdís …« Obwohl Anna es schlimm fand, ihre Freundin anzulügen, wusste sie, dass es unter diesen Umständen das Beste war. »Du weißt, dass mein Bruder krank ist? Und im Krankenhaus liegt?«
»Ja, natürlich. Ach, entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht. Natürlich magst du dann nichts unternehmen.«
Die Krankheit ihres Bruders vorzuschieben und das Mitgefühl ihrer Freundin auszunutzen, kam Anna schrecklich falsch vor.
»Wir holen das so bald wie möglich nach, Vigdís. Ich rufe dich an.«
»Ja … okay … Bis bald dann.«
Anna hörte, dass sich Vigdís vor den Kopf gestoßen fühlte. Sie dachte ja, dass Margrét bei ihr sei, und wunderte sich, warum sie nicht kommen durfte. Doch darum konnte Anna sich jetzt nicht kümmern. Sie musste sich auf heute Abend vorbereiten, wenn das Mädchen hoffentlich zum allerletzten Mal kam, um Anna seinen Namen »raten« zu lassen.
Trotz allem wusste Anna überhaupt nicht, wie es laufen würde. Sie hatten einen Vertrag geschlossen, doch der war auf falsche Voraussetzungen gegründet. Das Mädchen hatte gar keinen Namen, den Anna erraten konnte. Von daher hatte Anna auch gar keine Chance gehabt, das Spiel zu gewinnen.
Ob sie sich bei der Wahl des Namens Mühe geben musste? Vielleicht konnte sie einfach sagen: »Ich gebe dir den Namen Rasmussina Rosinenweckchen«, und das Mädchen würde verschwinden. Doch irgendwie glaubte Anna nicht, dass es so einfach gehen würde.
Sie legte sich auf ihr Bett und dachte nach.
Dann plötzlich hatte sie ihn. Sie wusste, welchen Namen sie dem Mädchen geben würde. Hoffentlich würde es funktionieren …
Anna nutzte die verbleibende Zeit zum Aufräumen. Sie nahm sich alle Klamottenhaufen vor, die das Mädchen im Zimmer verteilt hatte, und räumte alles zurück in den Schrank. Sie ordnete ihre Schulsachen, steckte das Sportzeug in die Wäsche und bezog das Bett neu. Dann machte sie es sich auf ihrem Sitzsack bequem und wartete.
Kurz vor der Abendbrotzeit rief die Mutter an und fragte, ob Anna nicht bei ihrer Oma zu Abend essen wolle, sie könne sie gleich abholen kommen. Egill ging es wieder etwas schlechter, daher wollten die Eltern ihn nicht allein lassen. Damit hatte Anna schon beinahe gerechnet. Sie hoffte so sehr, dass sie die Sache in Ordnung bringen konnte, bevor ihr Bruder – wie Margrét – verschwand. Anna sagte, dass sie mit den anderen Mädchen lernen wolle und sie sich selbst ums Essen kümmern würden. Sie bat ihre Mutter, Egill und den Vater zu drücken und anzurufen, falls es irgendwelche Veränderungen geben sollte.
Sie zog in die Küche um, setzte sich an den Esstisch und wartete.