13

Obwohl Anna nicht mehr weinte, schluchzte sie immer noch, als sie an Margréts Wohnblock ankamen.

Margrét führte sie durchs Treppenhaus zu ihrer Wohnung und befahl Anna, Schuhe und Socken auszuziehen und im Badezimmer Hände und Füße unter warmem Wasser aufzuwärmen. Sie brachte ihr trockene Strümpfe, lenkte Anna in die Küche und drückte sie auf einen Stuhl.

Anna sah sich um. Sie fand es immer schön, bei Margrét zu sein. Hier war alles so gemütlich, wenn auch eher altmodisch. Margrét wohnte bei ihrem Vater, der Lehrer an der Rökkurskóli war. Ihre Mutter war vor fünf Jahren an Krebs gestorben. Das war eine schwere Zeit für Margrét gewesen. Aber auch für ihre Freundinnen, die alles getan hatten, um sie zu unterstützen und zu trösten. Das gemeinsam durchzustehen, hatte die Freundschaft gestärkt und die drei Mädchen noch mehr zusammengeschweißt. Umso schwerer fiel es Anna, nicht zu antworten, als Margrét fragte: »Okay, jetzt erzähl mir die ganze Geschichte. Was ist eigentlich los, warum bist du manchmal so anders als sonst?« Margrét öffnete und schloss Schränke, kramte in Schubladen, nahm einen Topf, goss Milch hinein und deckte den Tisch mit Bechern und Tellern. Anna achtete nicht auf sie, sondern starrte auf die Plastiktischdecke.

Konnte sie es wagen, Margrét in die Sache hineinzuziehen? Würde das ihre Freundin nicht in Gefahr bringen?

»Margrét … ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich Angst habe, dass es dich in Gefahr bringen könnte.«

»Mann, in was bist du da bloß reingeraten, Anna? Wäre es nicht besser, wenn du zur Polizei gehen würdest? Ich komme mit, wenn du willst.«

»Nein, ich glaube, die Polizei kann in diesem Fall nichts tun.«

»Okay … was ist dann los? Zu zweit packen wir das. Es ist sicher einfacher, wenn wir die Sache gemeinsam klären, als wenn du es allein versuchst.«

Anna sah ihre Freundin an. In ihren braunen Augen erkannte sie Sorge und bedingungslose Zuneigung.

Da beschloss sie, ihr alles zu erzählen.

Alles.

Eine halbe Stunde später hielt Anna einen leeren Kakaobecher in den Händen, ohne sich daran zu erinnern, etwas getrunken zu haben. Sie hatte Margrét die ganze Geschichte von A bis Z erzählt und Margrét hatte zugehört, ohne ein Wort zu sagen. Anna versuchte, sich vorzustellen, wie das alles auf Margrét wirken musste – vielleicht glaubte sie ihr kein Wort.

»Ich weiß, das klingt unglaublich, aber ich schwöre, dass es wahr ist. Ich schwöre, dass das genau so passiert ist, auch wenn es wie ein völlig absurdes Märchen klingt.«

»Ich glaube dir, Anna. Du warst in letzter Zeit so komisch. Als ich dich heute in der Pause aus Nonnis Laden kommen sah, habe ich die letzte Stunde einfach geschwänzt, um dir zu folgen. Deine Geschichte kommt mir viel wahrscheinlicher vor, als dass du mich auf einmal hasst und nervig und zickig findest.«

Sie zwinkerte ihrer Freundin zu und lächelte. »Jetzt müssen wir nur rauskriegen, wie wir die Bestie am besten zur Strecke bringen und verhindern, dass sie noch mehr Schaden anrichtet.«

Sie sahen sich in die Augen und wussten, dass das keine leichte Aufgabe werden würde.

Gemeinsam gingen sie ein paar Möglichkeiten durch, die sie aber gleich wieder verwarfen: den Eltern alles zu erzählen und sie um Hilfe zu bitten, das Mädchen irgendwo einzufangen, es zu fesseln und zur Polizei zu bringen oder ihm nachzuspionieren und so den Namen herauszufinden.

»Ich hab’s!«, rief Margrét plötzlich. »Wir gehen mit ihm rauf zu den Ruinen und locken es in eines der Löcher dort.«

»Tja, meinst du, das könnte klappen?«

»Ja, wir müssen uns nur gut vorbereiten, den perfekten Ort finden und alles bis ins Detail planen, dann kann nichts schiefgehen.«

»Mhm …« Margréts Plan klang zumindest besser als alles, was sie zuvor überlegt hatten. »… ja, ich glaube auch, das könnte funktionieren. Sollen wir gleich hingehen?«

Die Ruinen, die Margrét meinte, befanden sich oberhalb von Rökkurhæðir auf der Dämmerhöhe. Vor ein paar Jahrzehnten hatten dort schicke Wohnblocks gestanden, in denen ein großer Teil der Einwohner von Rökkurhæðir gelebt hatte. Doch dann war dort etwas Unbegreifliches geschehen; was genau, wusste niemand. Einige Bewohner waren ums Leben gekommen, andere waren in der Psychiatrie gelandet und manche waren spurlos verschwunden. An einigen Stellen sahen die Häuser wie nach einem Bombenangriff aus, der Spiel- und Sportplatz wie aufgesprengt, voller Löcher und Krater.

Ein paar Monate später hatte ein Bauunternehmen mit dem Gedanken gespielt, die Häuser wieder aufzubauen und herzurichten, doch dann stellte sich heraus, dass dort niemand mehr wohnen wollte – und schon gar nicht die früheren Bewohner.

Daher lag die Siedlung jetzt schon jahrelang brach.

Es gab zwar noch einige unbeschädigte Wohnungen und es hieß, dass manche davon noch genauso aussehen würden wie an dem Tag, als ihre Bewohner sie wegen des schrecklichen Ereignisses Hals über Kopf verlassen hatten: Kleider in den Schränken, Lebensmittel im Kühlschrank, vielleicht liefen sogar noch die Fernseher. Doch da die meisten noch existierenden Wohnungen versiegelt worden waren, kam es Anna unwahrscheinlich vor, dass das wirklich mal jemand mit eigenen Augen gesehen hatte.

Den Kindern war es verboten, zu den Ruinen – »diesen furchtbaren Schreckensorten« – zu gehen, doch die meisten taten es trotzdem. Zumal es ganz einfach war, an den Barrikaden vorbeizukommen, die den Weg nach dort oben versperren sollten. Der Spiel- und Sportplatz bei den Ruinen und das Gelände darum herum waren die perfekte Kulisse für alle denkbaren Spiele und Abenteuer. Doch im Winter kam niemand hierher, da es wirklich gefährlich war, dort herumzuturnen, wenn Schnee und Eis die Löcher und Risse verdeckten und es fast den ganzen Tag über dunkel war.

Anna und Margrét überlegten hin und her. Sollten sie doch die Erwachsenen um Hilfe bitten? Doch diesen Gedanken verwarfen sie schnell wieder. Sie diskutierten auch lange, ob sie Vigdís oder Ingibjörg einweihen sollten. Vigdís hatte oft tolle Ideen und außerdem eine ziemlich kluge Oma. Schließlich gab Margrét aber zu bedenken, dass es vermutlich am vernünftigsten sei, so wenige wie möglich in die Sache hineinzuziehen. Das Mädchen sei offensichtlich höchst gefährlich – je weniger mit ihm in Berührung kämen, desto besser.

Der Plan war, das Mädchen zu den Ruinen zu locken und dafür zu sorgen, dass es in eines der Löcher oder einen der Krater stürzte und nicht mehr herauskam.

Anna schüttelte den Kopf und drückte Margrét fest an sich.

»Was bin ich froh, dass du gekommen bist. Danke, dass du mich dazu gebracht hast, alles zu erzählen. Ich war drauf und dran, völlig verrückt zu werden.«

Margrét drückte ihre Freundin zurück.

»Dass du mir nicht schon früher davon erzählt hast! Aber jetzt bringen wir die Sache ein für alle Mal zu Ende.«