Es war das längste Wochenende, das Anna je erlebt hatte. Sie wagte kaum, mit jemandem zu sprechen, aus Angst, sie könnte die Aufmerksamkeit des Mädchens auf ihn richten. Aus Angst, dass demjenigen etwas zustoßen könnte, dass jemand krank würde oder noch Schlimmeres passierte.
Sie fürchtete sich vor Sonntag, weil sie eine Riesenangst hatte, dass ihr Plan nicht aufging. Gleichzeitig wusste sie, dass es ihre letzte Chance war.
Ihre Eltern waren so gut wie nie zu Hause. Die Mutter hatte vorgeschlagen, Annas Oma herzubitten, doch das wollte Anna nicht. Sie hatte gesagt, dass sie lernen wolle. In Wahrheit wollte sie ihre Oma keiner unnötigen Gefahr aussetzen, denn wer weiß, wie das Mädchen auf sie reagieren würde?
Als es endlich Sonntag wurde, war Anna fix und fertig. Sie sah aus wie ein Gespenst, war kraftlos und niedergeschlagen. Ihr Vater erschrak richtig, als er morgens einen Blick in ihr Zimmer warf, bevor er sich auf den Weg zum Krankenhaus machte.
»Wie siehst du denn aus, Anna, du wirst uns doch nicht auch noch krank?«
»Nein, bestimmt nicht, ich habe in letzter Zeit nur schlecht geschlafen. Ich mache mir so viele Sorgen.«
»Die machen wir uns alle, Süße.« Er setzte sich zu ihr aufs Bett und strich ihr übers Haar. »Das wird schon wieder, da bin ich mir ganz sicher. Du machst das wirklich toll, dass du so ganz allein zurechtkommst. Aber du musst uns sagen, wenn es dir zu viel wird, dann finden wir jemanden, der hier bei dir sein kann.«
Anna versicherte ihrem Vater, dass alles in Ordnung und sie bloß müde sei. Er versprach, dass entweder er oder die Mutter am Abend nach Hause kommen und es eine Art Sonntagsessen geben werde, dann verabschiedete er sich.
Anna konnte den Abend kaum erwarten. Sie hoffte, dass das Mädchen schon früher auftauchen würde, damit sie die Sache endlich beenden und es ein für alle Mal loswerden konnte.
Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Das Mädchen kam gegen Mittag und wirkte hochzufrieden mit sich und der Welt.
»Ich hatte das Gefühl, dass du mich sehen willst?«
»Ja, ich bin froh, dass du da bist. Ich möchte nicht bis heute Abend warten, sondern jetzt schon deinen Namen raten. Ist das okay?«
»Klar, das dürfte keinen Unterschied machen.« Wieder dieses unerträgliche Grinsen. »Also schön, Anna, deinen Namen weiß ich – weißt du auch meinen?«
Anna spürte ein Kribbeln, endlich war es so weit.
»Ja, ich weiß ihn!«, sagte sie siegessicher. »Du heißt RUMPELSTILZCHEN!«
Das Mädchen starrte sie mit aufgerissenem Mund an.
»Rumpelstilzchen? Hast du wirklich Rumpelstilzchen gesagt?«
»Ja, genau! Das habe ich gesagt, du fieser Wicht. Jetzt sollst du dein Wort halten und aus meinem Leben verschwinden, als hätte es dich nie gegeben.«
Das Mädchen stand noch immer mit offenem Mund da. Dann fing es an zu lachen …
Es warf den Kopf in den Nacken und ließ sich vor Lachen auf den Boden fallen.
Anna fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken.
»Rumpelstilzchen … Rumpel…stihilzchen.«
Das Mädchen hatte Tränen in den Augen, so sehr lachte es.
»Hast du wirklich gedacht, du wärst in einem Märchen gelandet? Rumpelstilzchen! So etwas habe ich noch nie erlebt.«
Das Mädchen schüttelte den Lachkrampf ab und sah Anna direkt in die Augen.
»Oh nein, ich heiße nicht Rumpelstilzchen«, schnaubte es voll Hohn.