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Über Anna stürzte alles zusammen. Ihr Zimmer drehte sich, sie wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war.

»Was … aber …«

»Was aber was?«, äffte das Mädchen sie nach. »Für diese Woche hast du deine Chance vertan. War sonst noch was?«

Es stand auf und ging zur Tür.

»Du hast noch jede Menge Zeit, über meinen Namen nachzudenken, bis zum Ende des Schuljahres. Beim nächsten Mal solltest du dir ein bisschen mehr Mühe beim Raten geben.«

Mit diesen Worten ging das Mädchen.

Anna lag wie versteinert auf ihrem Bett.

Was sollte sie tun? Was zum Teufel sollte sie jetzt tun?

Sie dämmerte vor sich hin, bis ihr Vater nach Hause kam. Er hatte etwas zu essen von den Großeltern mitgebracht: Lammkeule mit allem, was dazugehört. Sie wärmten das Essen auf und aßen gemeinsam.

Doch es wollte keine Sonntagsstimmung aufkommen. Die Mutter und Egill fehlten.

»Ach Mensch, wir haben den Nachtisch ganz vergessen.«

»Ist schon gut, ich habe sowieso keinen Appetit. Vielleicht können wir eine richtige Party schmeißen, wenn Egill nach Hause kommt?«

»Ja, hoffen wir, dass es bald so weit ist. Ich muss dir noch etwas sagen, Anna. Sein Zustand hat sich heute wieder verschlechtert. Er war zwar ganz langsam auf dem Weg der Besserung, aber heute gab es einen Rückschlag. Die Ärzte wissen nicht mehr weiter.«

»Er muss gesund werden, Papa!«, wimmerte Anna. »Glauben sie denn, dass … dass … dass er sterben wird?« Anna konnte es kaum aussprechen.

Sie mochte gar nicht daran denken, dass all dies ihre Schuld war.

»Nein, sie glauben nicht, dass es so schlimm ist. Noch nicht. Aber sie wissen im Moment überhaupt nichts, vor allem, weil sie die Ursache nicht finden.«

Anna musste irgendwie den richtigen Namen herausfinden, bevor noch mehr passierte. Und sie musste in den nächsten Tagen übervorsichtig sein und aufpassen, dass weder sie noch jemand anderes dem Mädchen in die Quere kam. Es schien langsam die Geduld zu verlieren. Hoffentlich konnte sie sich wenigstens darauf verlassen, dass es zu seinem Wort stand und bis nach den Prüfungen die Füße still hielt.

Um es zu beruhigen und sein Misstrauen zu zerschlagen, beschloss Anna, das Mädchen zu bitten, nach den Ferien für sie zum Handballtraining zu gehen und auch die Geschichts- und Matheprüfung für sie zu schreiben.

In der Zwischenzeit wollte sie sich noch mehr auf die Namenssuche konzentrieren. Sie hatte zwar nicht die geringste Ahnung, wo sie danach suchen sollte, aber ihr war auch klar, dass sie den Verstand verlieren würde, wenn sie untätig blieb.

Am Donnerstag nach den Ferien blätterte sie in Nonnis Laden Zeitschriften durch. Wie immer stand Nonni höchstpersönlich an der Kasse.

Nonni war ein großer Kinderfreund. Die meisten Kinder und Jugendlichen aus Rökkurhæðir kannte er mit Namen und er war immer zu einem Plausch aufgelegt. Er war einer der wenigen Erwachsenen, die sich wirklich Zeit nahmen, den Kindern zuzuhören. Selbst in den schwierigsten Fällen wusste er meist guten Rat.

Die Erwachsenen hielten ihn für einen Sonderling, doch Nonni war aus Rökkurhæðir nicht wegzudenken und es sollte schon etwas heißen, dass er fast alle Kinder des Viertels zu seinen Freunden zählen konnte.

Wie immer ging Nonni daher auch an diesem Donnerstag auf Anna zu und fragte, was es Neues gebe und ob er ihr helfen könne.

»Hmmm«, sagte Anna, »ich suche einen Namen.«

»Einen Namen? Für wen?«

»Das weiß ich eben nicht so genau. Ich suche einen ungewöhnlichen Namen für ein ungewöhnliches … Mädchen. Vielleicht auch einen gewöhnlichen Namen. Ach, ich weiß es nicht, Nonni.«

»Es kann schwierig sein, nach etwas zu suchen, das man selbst nicht kennt. Es gibt so unendlich viele Namen, Anna.« Nonni kratzte sich am Kopf. »Es gibt natürlich auch manches, das keinen Namen hat. Zumindest keinen Namen, den wir Menschen kennen.« Nonni warf ihr einen seltsamen Blick zu.

Anna schaute auf. »Was meinst du? Keinen Namen …«

»Ja, manche Dinge sind so beschaffen, dass wir Menschen es nicht vermögen, sie mit einem Etikett zu versehen.«

Anna dachte über Nonnis Worte nach. War es möglich, dass das Mädchen sie an der Nase herumführte? Nein, sie musste darauf vertrauen, dass der Vertrag gültig war und sie die Chance hatte, es zu besiegen. Alles andere konnte und wollte sie sich nicht vorstellen.