Der Vertrag mit dem Mädchen sah vor, dass Anna bis zu den Prüfungen im Frühling einmal pro Woche seinen Namen raten durfte.
Jeden Sonntagabend hieß es beim Rollentausch: »Na, Anna, deinen Namen weiß ich – weißt du auch meinen?«
Am Anfang hatte Anna immer gekichert und geglaubt, dass das Mädchen einen Scherz mache. Es klang wirklich wie aus dem alten Märchen geklaut. Doch als sie merkte, dass es ihrem Gegenüber ernst war, spielte sie einfach mit. Sie tat so, als würde sie sich richtig anstrengen, und versuchte, so unterschiedliche Namen wie möglich vorzuschlagen – außer Rumpelstilzchen natürlich, denn das war ihr Trumpf, den sie sich bis zum entscheidenden Moment aufheben wollte.
»Heißt du vielleicht Eva, wie die erste Frau auf Erden?«
»Die erste Frau?«, schnaubte das Mädchen. »Oh nein, Eva heiße ich nicht.«
Und so ging es weiter: »Heißt du Hrafntinna? Ölrún? Sigríður? Oder vielleicht Anna wie ich?«
Jedes Mal schaute das Mädchen schadenfroh und schüttelte den Kopf. Für Anna war damit bis jetzt alles genau nach Plan gelaufen. Doch nun war ihr bewusst geworden, dass das Mädchen sich allen Ernstes darauf vorbereitete, ihr Leben zu übernehmen, sie zu ersetzen, ganz zu Anna zu werden. Aber was sollte dann aus ihr werden?
Zu Beginn hatte das alles wie ein Spiel gewirkt, wie ein Scherz, aber jetzt war klar: Das hier war kein Spiel, sondern abgrundtiefer Ernst. Warum hatte sie das nicht schon früher gemerkt?
Sie konnte niemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben als sich selbst und deshalb konnte auch nur sie selbst das Ganze wieder in Ordnung bringen. Selbst wenn das bedeutete, dass sie sowohl beim Handball und Tanzen als auch in der Schule abrutschen und noch dazu weniger Zeit auf dem Snowboard verbringen würde. So wie jetzt ging es jedenfalls nicht weiter. Sie musste endlich wieder Kontrolle über ihr Leben bekommen.
Anna konnte den nächsten Sonntag kaum erwarten, obwohl sie alle Hände voll zu tun hatte.
Gleich nach den Ferien musste sie einige Arbeiten abgeben und in den meisten Fächern hatte sie vollkommen den Anschluss verloren. Daher schnappte sie sich ihre Bücher und versuchte, den Schaden wenigstens etwas zu mindern, indem sie anfing, den Stoff nachzuholen.
Das Mädchen war davon nicht so begeistert.
Es wurde sogar richtig böse.
Als es am Dienstagabend durchs Fenster geklettert kam und Anna konzentriert am Schreibtisch sitzen sah, vor sich die aufgeschlagenen Vokabelhefte und Schulbücher, in der einen Hand einen Bleistift, in der anderen ein Radiergummi, wurde es vor Wut dunkelrot im Gesicht.
»Was glaubst du, was du da tust!?«, fauchte das Mädchen und stürmte auf Anna zu.
»Ich lerne oder wonach sieht es für dich aus?«, sagte Anna mit unschuldiger Miene. Was sie sofort bereute, da das Mädchen förmlich durchdrehte. Es pfefferte die Bücher auf den Boden, riss Anna den Bleistift aus der Hand und zerbrach ihn in tausend Stücke.
»Das ist meine Aufgabe!« Seine Stimme klang seltsam – hohl und finster und bedrohlich. »Das haben wir so abgemacht.«
»Schon, aber ich möchte vorbereitet sein, wenn ich alles wieder allein machen muss.« Anna tat so unschuldig und naiv wie möglich. Das Mädchen musste sich in Sicherheit wiegen.
»Anna, was ist denn los?« Die Mutter klopfte an die Tür, dann drehte sich langsam der Türknauf.
Annas Bauch krampfte sich vor Schreck zusammen. Was sollte sie tun?
Das Mädchen machte keinerlei Anstalten, sich zu bewegen, sondern sah Anna herausfordernd an. Die sprang auf und stürzte hinter die Tür, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Mutter die Tür einen Spalt öffnete.
»Was ist hier los?«
Das Mädchen warf sich Annas Mutter in die Arme.
»Ach, tut mir leid, Mama. Ich habe mich so über diese Matheaufgabe geärgert, dass mir kurz die Sicherung rausgeknallt ist. Kannst du mir vielleicht helfen?«
»Nanu, du lernst in den Ferien, Schatz? Ist das denn wirklich nötig? Aber klar, ich helfe dir.«
Die Mutter strich dem Mädchen übers Haar und drückte es an sich. Man hörte richtig, wie glücklich sie war. Anna musste sich hinter der Tür auf die Unterlippe beißen, um nicht hervorzustürzen und die beiden anzuschreien. Dass ihre Mutter sich freute, »ihr kleines Mädchen« wiederzuhaben, konnte sie ja verstehen, aber sie musste nun wirklich nicht so übertrieben happy tun.
Die Mutter lächelte und sagte: »Komm, wir setzen uns damit ins Esszimmer, da haben wir mehr Platz.« Sie ging voraus und das Mädchen sammelte Bücher und Blätter zusammen.
»Du brauchst nicht glauben, dass du zu ihr ins Esszimmer gehst!« Anna war stinkwütend.
»Ach ja?« Das Mädchen drehte sich blitzschnell um und packte Anna an den Schultern. Es sah ihr tief in die Augen und zischte: »Natürlich gehe ich zu ihr. Du legst dich unter die Bettdecke und wartest dort, bis es mir passt zurückzukommen. Hast du kapiert?«
Alle Kraft wich aus Annas Körper. Sie merkte, dass sie aufs Bett sank, konnte aber nichts dagegen tun.
Unfähig, sich zu bewegen, lag sie da und hörte Píla im Nachbargarten wie verrückt bellen. Es klang, als würde die Hündin sich immer wieder gegen die Glasscheiben im Wintergarten werfen.
Plötzlich wurde es Anna eiskalt.
Sie hatte das Gefühl, auf einem hohen Gipfel zu stehen, überall um sie herum klaffte der tiefe Abgrund. Der Wind tobte und zerrte an ihr, an ihren Haaren, an ihren Kleidern. Sie musste alle Kraft aufwenden, um nicht in die Leere gerissen zu werden, die sich um sie herum auftat.
Ihr war so kalt.
Sie war so machtlos.
Sie wusste: Wenn sie nachgab, würde sie verlieren. Sie wusste nicht, was genau sie verlieren würde oder wie, doch dass es nicht geschehen durfte, das wusste sie.