29. Kapitel
Die nächsten Wochen verlaufen besser als gedacht. Mal davon abgesehen, dass ich fast jede Nacht durchheule und auch tagsüber immer mal wieder in Tränen ausbreche, geht zumindest mein Wohnungsplan reibungslos auf: Tatsächlich hat die Frau, die die gesamte Wohnung mieten wollte, noch nichts anderes gefunden und will meine Räume sofort übernehmen. Tiedenpuhl willigt ebenfalls ein – als hätte er geahnt, dass ich mir die Miete bald sowieso nicht mehr leisten kann. Ohne die Coachings herrscht bei mir wieder totale Ebbe in der Kasse, aber ich war trotzdem irgendwie erleichtert, nachdem ich allen Klienten mitgeteilt hatte, dass ich wegen einer beruflichen Veränderung erst einmal keine Termine mehr wahrnehmen kann. Das Kapitel ist also definitiv abgeschlossen.
So hause ich im Gästezimmer bei Ralf und Nadine, gehe brav bei Roger arbeiten und hadere ansonsten mit meinem Schicksal. Von Daniel habe ich nichts mehr gehört, aber das war ja irgendwie klar. In dem Moment, als ich das mit Gunnar erfunden hatte, wusste ich, dass ich ihn damit für alle Zeiten los bin. Was er jetzt wohl macht? Ob er wieder mit dieser grässlichen Sarah zusammen ist? Ich versuche, mir einzureden, dass mir das egal sein kann und dass er in der Tat ein erwachsener Mann ist. Nur gelingt mir das meistens nicht so gut, allein die Erinnerung an Sarahs eiskalte Augen lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Mein süßer, toller Daniel – es darf einfach nicht sein, dass diese Frau ihn jetzt in ihren Krallen hat!
Manchmal werde ich morgens von meinem eigenen Schluchzen wach, weil ich nachts so intensiv von ihm geträumt habe und ihn so sehr vermisse, dass ich es kaum aushalten kann. Da sind so viele Erinnerungen an ihn: wie er das erste Mal vor mir
stand und mir bei seinem Anblick fast die Luft wegblieb, unser Tag im Heide-Park, als er wieder und wieder total begeistert in die Achterbahn gesprungen ist, der erste Kuss von ihm, unsere gemeinsamen Nächte, das Gefühl seiner warmen Haut auf meiner und wie er morgens immer ausgesehen hat, mit verpennten Augen und verstrubbelten Haaren … ach, ich glaube kaum, dass ich ihn jemals vergessen kann.
Bei dem Gedanken an Daniel zieht sich mein Herz in einem schmerzhaften Krampf zusammen, und wenn ich mir vorstelle, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehe, muss ich gleich wieder losheulen. Warum habe ich damals nicht sofort die Wahrheit gesagt, als er vor mir stand? Diese Frage geht mir wieder und wieder durch den Kopf. Wäre dann alles anders gelaufen? Oder wäre er einfach gegangen, und die Geschichte mit uns hätte nie angefangen? Ich weiß, dass das am wahrscheinlichsten ist, trotzdem besteht natürlich eine klitzekleine Chance, dass sich etwas zwischen ihm und mir entwickelt hätte. Hätte ich diese Chance nur genutzt, hätte ich bloß auf die sechshundert Euro gepfiffen!
Ein paarmal stand ich schon kurz davor, Dorothee oder Markus anzurufen, die sich natürlich – von Dorothees SMS mal abgesehen – auch nicht mehr bei mir gemeldet haben, weil sie ihm gegenüber absolut loyal sind. Was würde es auch bringen, mit einem von ihnen zu sprechen? Es gibt nichts mehr, was ich tun kann. Das habe ich mir alles schön und ganz alleine eingebrockt – jetzt muss ich die Suppe eben auch alleine auslöffeln.
Thema Suppe auslöffeln: Nachdem eh schon alles im Dutt ist, beschließe ich an einem Donnerstagabend, meinen Eltern endlich auch mal die Wahrheit zu sagen. Wir sitzen in Mamas und Papas Lieblingsrestaurant – einem schicken Franzosen in Harvestehude –, ich stochere etwas lustlos in meinem Coq au Vin herum, als meine Mutter mich darauf anspricht.
»Was ist denn los, Schatz?«, will sie wissen. »Du isst ja kaum was, geht’s dir nicht gut?«
Ich zucke mit den Schultern. »Geht so«, erwidere ich und lege mein Besteck zur Seite.
»Kind«, fährt meine Mutter fort, »wir wissen, wie sehr dich Kikis Tod immer noch bedrückt. Nur langsam mache ich mir Sorgen, wenn du noch dünner wirst.«
»Es ist gar nicht wegen Kiki«, antworte ich, verbessere mich dann jedoch: »Das heißt, es ist nicht nur wegen Kiki. Klar bin ich oft noch sehr traurig, aber in letzter Zeit sind noch andere Dinge los gewesen.«
»Hat es was mit den Prüfungen zu tun?«, liefert mein Vater prompt die Steilvorlage für mein kleines Geständnis. »Läuft es nicht so gut, oder was?« Eine steile Falte bildet sich auf seiner Stirn.
Jetzt ist es Mama, die dazwischenfährt. »Martin, bitte! Du siehst doch, wie schlecht sich Maike fühlt, und ich kann durchaus verstehen, wenn sie momentan etwas anderes im Kopf hat als das Studium. Schließlich war Kiki …«
»Schon gut«, unterbreche ich sie und nehme all meinen Mut zusammen, um endlich mal reinen Tisch zu machen. »Tatsächlich ist es so«, erkläre ich, »dass es mit dem Studium nicht so gut läuft. Genau genommen läuft es eigentlich überhaupt nicht.«
»Wie, überhaupt nicht?«, will Papa wissen. »Was soll das denn heißen?«
»Es heißt, was es heißt.« Jetzt gucken mich meine Eltern verständnislos an. »Ich studiere nicht mehr«, füge ich der Deutlichkeit halber hinzu. »Und zwar schon länger nicht.«
Mit einem Schlag weicht das Unverständnis blankem Entsetzen. »Bitte, was?«, braust mein Vater auf, und auch das erneut von meiner Mutter eingeworfene »Martin« kann ihn nicht bremsen. »Ich höre wohl nicht richtig!«
»Doch, Papa«, erwidere ich und merke, wie ich mich innerlich straffe. »Du hörst ganz richtig. Deine Tochter geht schon seit Monaten nicht mehr zur Uni, weil sie mal wieder durchs Examen gefallen ist. Noch dazu hat ihr das Jura-Studium noch nie sonderlich viel Spaß gemacht.« So, jetzt ist es raus.
»Keinen Spaß gemacht also?«, poltert mein Vater weiter. »Ich sag dir mal was, mein Fräulein: Wenn ich mein Leben immer nur danach ausgerichtet hätte, was mir Spaß macht …«
»Martin, bitte«, zischt meine Mutter, »die Leute drehen sich schon nach uns um.«
»Sylvia, das ist mir vollkommen gleichgültig, ich …«
»Vollkommen gleichgültig, genau!«, fahre ich ihn jetzt auch etwas lauter an. »So wie es dir auch gleichgültig ist, was ICH eigentlich will.«
»Maike!«, kommt es von Mama.
»Nichts Maike!« Mittlerweile scheint das gesamte Restaurant an unserem Streit teilzuhaben, aber das ist mir gerade total wurscht. Ich spüre eine riesige Wut in mir, die muss einfach raus. »Mein Leben lang habt ihr mir das Gefühl gegeben, für euch eine Enttäuschung zu sein und nichts richtig machen zu können. Und ich Idiotin hab sogar mit diesem blöden Studium angefangen, obwohl ich das nie wollte.«
»Immerhin haben wir dir dieses blöde Studium ein paar Jahre lang finanziert, falls du das vergessen hast!« Mittlerweile brüllt mein Vater regelrecht, Mama zuckt zusammen.
»Wie hätte ich das vergessen können? Gerade du hast ja jede Gelegenheit genutzt, um mich daran zu erinnern und mir Vorträge darüber zu halten, was ihr von mir erwartet.« Ich springe von meinem Stuhl auf und hätte dabei fast mein Glas vom Tisch gefegt.
»Setz dich wieder hin!«, befiehlt Papa.
»Nein«, sage ich. »Ich gehe. Und falls es euch beruhigt: Ich werde euch jeden einzelnen Cent, den ihr in eure missratene
Tochter investiert habt, zurückzahlen. Wenn ich mich damit von eurer Erwartungshaltung freikaufen und endlich mein eigenes Leben führen kann, ist es mir das wert.«
Meine Mutter schnappt nach Luft, mein Vater setzt zu einem weiteren Wutausbruch an – aber ich drehe mich einfach um und stürme aus dem Laden.
Draußen auf der Straße bemerke ich, dass ich am ganzen Körper zittere. Noch nie habe ich so einen Streit mit meinen Eltern gehabt. Aber erstaunlicherweise fühle ich mich gerade regelrecht befreit. Befreit und erwachsen.
So stehe ich am nächsten Nachmittag vollkommen befreit und erwachsen auf dem Ohlsdorfer Friedhof und halte Zwiesprache mit Kiki. Alles erzähle ich ihr, wirklich alles, die unmögliche Situation, in die ich mich gebracht habe, und dass ich dadurch Daniel wohl für immer verloren habe, dass ich es aber immerhin auch geschafft habe, mit meinen Eltern mal Tacheles zu reden, und wie gut sich das anfühlt.
»Es ist schon verrückt«, sage ich zu ihr, »wie lange ich gebraucht habe, um zu begreifen, dass ich mein eigenes Leben führen muss.« Ich lache kurz auf. »Wie auch immer das aussehen wird, da bin ich mir noch nicht so sicher, aber irgendwas werde ich mir eben einfallen lassen müssen.« Einen Moment bleibe ich noch schweigend vorm Grab meiner Cousine stehen, dann lege ich den Strauß mit Teerosen, den ich mitgebracht habe, vor ihren Stein. »Du fehlst mir«, flüstere ich. »Immer und jeden Tag, ich vermisse dich ganz schrecklich.«
»Ich vermisse sie auch.« Eine Hand legt sich auf meine rechte Schulter, ich drehe mich um und blicke direkt in Stefans blaue Augen.
»Na?«, will ich wissen und begrüße ihn mit zwei Küsschen auf die Wangen. »Auch mal wieder hier?«
»Ja«, antwortet er, »ich bin schon eine ganze Weile da und
hab dich von weitem gesehen. Wollte dich aber nicht stören, du hast dich so angeregt unterhalten.« Er lächelt.
»Hm, ja, war ja auch eine Menge zu erzählen, dass ich jetzt bei Nadine und Ralf wohne und so.«
»Und so?«
»Ich hab meinen Eltern endlich gesagt, dass ich das Studium nicht geschafft habe und in Wirklichkeit noch nie Lust auf Jura hatte.«
»Das wurde ja ohnehin mal Zeit«, findet Stefan. »Ich habe sowieso nie begriffen, warum du dich von deinen Alten Herrschaften immer so unter Druck setzen lässt. Kiki war das auch ein Rätsel.«
»Na ja, Kikis Eltern sind nun mal ganz anders als meine. Irgendwie … verständnisvoll.«
Stefan grinst. »Das kann man wohl sagen! Ich hab deine ja nicht so oft erlebt, aber wenn, dann fand ich das schon ganz schön gruselig. Auf so einen Druck hätte ich auch keine Lust.« Er schüttelt sich.
»Unterm Strich weiß ich ja, dass sie es nur gut mit mir meinen«, gebe ich mich versöhnlich. »Aber mir ist in den letzten Wochen klargeworden, dass man nur selbst entscheiden kann, was das Richtige für einen ist. Schließlich muss niemand außer man selbst mit den Konsequenzen leben.«
Stefan guckt mich aus großen Augen an. »Mensch, Maike, das klingt ja richtig weise! Was ist in letzter Zeit nur mit dir passiert, so kenn ich dich ja gar nicht?«
»Tja«, seufze ich, »ist eben eine ganze Menge passiert.«
»Das ist wahr.« Eine Zeitlang sagt keiner von uns beiden etwas, wir stehen einfach nur vor Kikis Grab und schweigen. Schließlich legt Stefan den Strauß roter Rosen, den er mitgebracht hat, neben meine Blumen.
»Ich geh dann mal«, meine ich, »und lass dich noch einen Moment mit Kiki allein.«
»Warte doch zehn Minuten«, schlägt Stefan vor. »Dann kann ich dich mit zurück in die Stadt nehmen.«
»Das wär natürlich nett, ohne Auto ist es hierher immer eine kleine Weltreise.«
»Gut, dann fahren wir gleich zusammen.«
Während ich einen kleinen Friedhofsweg entlangspaziere, beschließe ich, meinen Eltern später einen versöhnlichen Brief zu schreiben. Vielleicht haben sie sich nach unserem Streit ja auch ein wenig abgeregt, und wir können noch einmal in Ruhe reden. Denn gerade hier, an diesem Ort, wird mir klar, dass man eigentlich nie im Streit auseinandergehen sollte. Ja, nehme ich mir vor, das mache ich. Denn selbst wenn meine Eltern schon immer etwas schwierig waren – ich hab sie natürlich trotzdem lieb und weiß, dass sie tatsächlich immer nur das Beste für mich wollten. Auch wenn sie eine etwas seltsame Art haben, das zum Ausdruck zu bringen, vor allem, wenn ich an meinen Vater denke.
Gut zehn Minuten später kommt Stefan zu der Bank, auf der ich mittlerweile Platz genommen habe.
»So«, meint er, »alles geklärt, wir können los.«
»Alles geklärt?«, frage ich, stehe auf und gehe neben Stefan her Richtung Ausgang.
»Sicher«, erwidert er, »ich hatte mit Kiki auch so einiges zu besprechen.« Wir müssen beide lachen. »Wo soll ich dich denn hinfahren? Ins Studio oder zu Ralf und Nadine?«
»In die Wohnung, heute arbeite ich nicht.«
»Wie geht’s dir denn da so? Ist ein komisches Gefühl, oder?«
»Schon«, gebe ich zu. »Ein bisschen heimatlos.« Stefan geht noch immer davon aus, dass ich Kikis und meine Wohnung aufgegeben habe, weil ich sie mir allein nicht mehr leisten kann. Was ja, seit ich keine Coachings mehr gebe, sogar stimmt. Nur die genauen Umstände, die kennt Stefan natürlich nicht – und ich werde den Teufel tun, ihm davon zu erzählen. »Jedenfalls
bin ich froh, wenn ich irgendwas Kleines finde, wo ich einziehen kann. Ich meine, ist schon wahnsinnig nett von Nadine und Ralf, dass sie mich bei sich wohnen lassen. Aber irgendwann kommt das Baby, und vorher möchte ich lieber meine eigenen vier Wände beziehen.«
»Das verstehe ich«, sagt Stefan. Wir gehen schweigend weiter, bis er irgendwann ein lautes Seufzen von sich gibt.
»Was ist denn?«, will ich wissen.
»Ach, nichts.« Er kickt einen Stein fort, der zu seinen Füßen liegt. »Das heißt, nein, eigentlich ist doch was.« Er bleibt stehen und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Eine Mischung aus Nervosität und … Angst?
»Willst du es mir erzählen?«
»Ja«, antwortet er und überlegt dann einen Moment, als müsste er noch nach den richtigen Worten suchen. »Weißt du, was ich eben mit Kiki besprochen habe …« Er unterbricht sich.
»Ja?«, will ich ihn ermuntern, weiterzureden.
»Also, die Sache ist die … Irgendwie habe ich vorhin gedacht, es ist kein Zufall, dass ich dich hier auf dem Friedhof treffe, und dass es vielleicht ein guter Zeitpunkt ist, mit dir zu reden.« Jetzt starrt er angestrengt auf seine Schuhe, einer seiner Schnürsenkel ist offen. »Wie ein … wie ein Zeichen, verstehst du?« Ich nicke – und verstehe rein gar nichts. Was will mir Stefan jetzt bloß sagen, dass er sich so schwer damit tut? »Ich hoffe«, fährt er fort, geht in die Hocke und beginnt, seinen Schnürsenkel auf recht komplizierte Art und Weise wieder zuzubinden, »du findest das nicht pietätlos oder so …«
»Was soll ich pietätlos finden?«, will ich wissen.
Er blickt zu mir auf – und hat nun einen nahezu bittenden Gesichtsausdruck. »Maike, ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst. Ich meine, Kiki ist noch nicht so lange tot, und ich habe deine Cousine wirklich geliebt, weißt du?«
»Natürlich weiß ich das.«
»Ja, und … ich … also, ich kann mir vorstellen, dass du schockiert bist, wenn ich dir sage, dass ich mich verliebt habe.«
»Verliebt?«, entfährt es mir.
»Ja, es ist einfach so passiert, ich konnte gar nichts dagegen tun«, haspelt er, und seine Stimme überschlägt sich fast. »Sicher findest du das unpassend, schließlich bist du Kikis Cousine, und wenn ich dich jetzt …«
»Wie bitte?« Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich fassungslos und kann kaum glauben, was Stefan mir hier gerade erzählen will. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Stefan kniet vor mir, mitten auf diesem Friedhof und will mir sagen … Will er mir etwa sagen, dass er sich in mich verliebt hat? Oh, nein, das kann doch wohl nicht wahr sein! So verrückt kann das Universum oder das Anziehungsgesetz oder wer auch immer gerade verantwortlich ist unmöglich sein! Mit allem hätte ich gerechnet, wirklich mit allem – aber auf gar keinen Fall damit, dass sich der Freund meiner Cousine in mich verliebt!
»Stefan«, unterbreche ich ihn, »ich weiß nicht, ob …«
»Nein, bitte, Maike, ich muss dich das jetzt fragen, es geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
»Ja, ähm, weißt du …«
»Kannst du mir nicht die Telefonnummer von dieser Frau geben?«
Hä? »Was für eine Frau?«
»Na.« Stefan steht wieder auf und klopft sich den Staub von seiner Hose ab. »Diese Frau, die ich vor einigen Wochen bei dir vor der Tür über den Haufen gefahren habe.«
Einen Moment bin ich vollkommen perplex – dann breche ich in hysterisches Gelächter aus. »Ach, du meinst Dorothee!«
»Heißt sie so? Du hast uns ja nicht vorgestellt.«
Ich nicke. »Ja, das war Dorothee, die Schw…«, ups, jetzt bloß nichts Falsches sagen, »die Freundin einer Bekannten, die sich für das Büro interessiert. In die hast du dich also verliebt?«
»Ja«, gibt Stefan zu. »Ich kann auch nichts dafür, ich hab sie gesehen, und es hat plötzlich ›bumm‹ gemacht. So was hab ich wirklich noch nie erlebt«, fügt er dann verlegen hinzu. Ich schon, denke ich und sehe Daniel vor meinem geistigen Auge. Offensichtlich ist diese unglaubliche Anziehungskraft familiär bedingt, mich hat es damals ja auch sofort umgehauen. »Und?«, unterbricht Stefan meinen Gedanken. »Gibst du mir die Nummer? Ich kann sie einfach nicht vergessen und würde sie so gern noch einmal wiedersehen.«
Hektisch schüttele ich den Kopf. »Nein«, erkläre ich, »ich kann dir die Nummer nicht geben.«
Stefan guckt enttäuscht. »Warum denn nicht?«
»Weil ich … äh, die Nummer gar nicht habe.«
»Hast du nicht?«
»Nein«, antworte ich, »tut mir wirklich leid.«
»Ach so«, er zuckt mit den Schultern. »Weißt du denn auch nicht, wie sie heißt?«
»Doch, sicher«, schwindele ich, »Dorothee Müller.«
»Hm. Davon dürfte es in einer Stadt wie Hamburg ein paar mehr geben.«
»Ja, das denke ich auch. Außerdem hat Dorothee einen Freund – hat sie mir jedenfalls damals erzählt.«
»Na ja, das würde mich nicht davon abhalten, sie anzurufen. Mehr als eine Abfuhr kann mir ja nicht passieren. Schade, ich hätte sie sehr gerne noch einmal gesehen.«
Wir spazieren weiter Richtung Ausgang, Stefan mit hängenden Schultern und sichtlich betrübt. Währenddessen jagen mir hunderttausend Gedanken durch den Kopf. Wie gern würde ich Stefan die Telefonnummer von Dorothee geben! Es scheint ihn wirklich ziemlich erwischt zu haben, und auch wenn Kiki noch nicht so lange tot ist – heißt das, dass Stefan jetzt für den Rest seines Lebens allein bleiben muss? Sicher nicht! Aber was kann ich tun, was kann ich nur tun?
Wenn Stefan Dorothee kennenlernt, wird er erfahren, dass sie Daniels Schwester ist. Außerdem sind die beiden gerade nicht so gut auf mich zu sprechen, ich kann von Glück reden, dass Daniel sich offenbar trotz allem immer noch daran hält, Stefan nicht von unseren Coachings zu erzählen. Jedenfalls, wenn er und Markus noch bei Stefan trainieren, das weiß ich natürlich nicht und mag Stefan auch nicht danach fragen. Aber wie dem auch sei: Es ist schlicht und ergreifend unmöglich, Stefan mit Dorothee zu verkuppeln, es geht einfach nicht. Mist, Mist, Mist!
»Na ja«, meint Stefan, als wir kurz vorm Ausgang sind. »Hat wohl nicht sein sollen. Oder, falls es doch noch sein soll, begegnet sie mir ja vielleicht noch einmal. Ach, na, wer weiß, vielleicht habe ich mich da auch einfach nur in etwas hineingesteigert, und sie wäre gar nichts für mich? Erst recht, wenn sie sowieso in festen Händen ist. Es war halt nur so ein komisches Gefühl, als ich sie gesehen habe, so als wäre da eine unglaubliche Chemie zwischen uns, wie Magie hat sich das fast angefühlt.« Er lacht. »Ich klinge schon wie eine richtige Kitschtante, oder?« Er wirft mir einen Blick zu, und es zerreißt mir fast das Herz, in seine lieben, freundlichen Augen zu schauen.
Ich ringe mit mir. Mehr, als ich jemals in meinem Leben mit mir gerungen habe. Was soll ich tun, was soll ich nur tun? Plötzlich ist da dieser Gedanke: Ach, Maike, scheiß doch drauf! Hier geht es immerhin nicht nur um dich, sondern auch noch um zwei andere Menschen. Okay, du hast Mist gebaut, und zwar so richtig. Aber das ist kein Grund dafür, dass du Stefan, der nun wirklich gar nichts dafür kann, eine Chance verbaust.
»Stefan«, meine ich und merke, wie meine Stimme zittert. »Pass auf, ich geb dir ihre Nummer.«
»Hm?«
»Ja, ich hab ihre Telefonnummer. Aber dafür muss ich dir erst einmal etwas erzählen. Diesmal bin ich diejenige, die hofft, dass du das nicht ganz grässlich und pietätlos findest.«
Eine halbe Stunde später habe ich Stefan alles gebeichtet. Wir sitzen auf einer Bank neben dem Friedhofseingang, Stefan hat mich kein einziges Mal unterbrochen, während ich die Ereignisse der vergangenen Wochen heruntergerattert habe. Wie ich durch ein Missverständnis Kikis Job übernommen und mich in Daniel verliebt habe, wie dann durch Sarah Beckstein alles aufgeflogen ist und ich Daniel gegenüber behauptet habe, wieder mit Gunnar zusammen zu sein.
»Uff«, kommentiert Stefan, als ich mit meinem Bericht ans Ende gelangt bin. »Das ist echt eine wilde Geschichte.«
»Hm«, meine ich und werfe ihm einen zerknirschten Blick zu. »Und?«, will ich dann wissen. »Bist du böse?«
Stefan sieht mich entgeistert an. »Warum sollte ich dir denn böse sein?«
»Tja, weil es tatsächlich etwas pietätlos ist, was ich da gemacht habe.«
»Unsinn!« Er lacht auf. »Falls Kiki das von da oben«, er deutet Richtung Himmel, »mitbekommen hat, hat sie sich mit Sicherheit amüsiert wie Bolle! Ich meine, das ist doch eigentlich unglaublich lustig!«
»Geht so«, gebe ich düster von mir, »hab schon mal mehr gelacht.«
»Ach, Maike.« Stefan legt mir einen Arm um die Schulter. »Glaubst du denn nicht, dass du einfach mal mit deinem Daniel reden solltest? So schlimm ist das doch alles nicht!«
»Auf gar keinen Fall!«, entfährt es mir. »Selbst wenn er mir das verzeihen sollte, was ich allerdings bezweifle, nachdem ihm Ehrlichkeit so ziemlich das Wichtigste ist – dann gibt es immer noch Sarah Beckstein, die mich ans Messer liefern wird.«
»Hm«, überlegt Stefan. »Aber das Steuerjahr ist doch noch gar nicht rum. Ruf beim Finanzamt an, lass dir eine Steuernummer geben und schicke deinen Kunden korrigierte Rechnungen. Dann gibst du nächstes Jahr eine korrekte Steuererklä
rung ab. Falls die jemals nachfragen, weil diese Sarah Wind um die Sache macht, dann sag, es war ein Versehen.«
Ich schaue ihn zweifelnd an. »Du meinst, das geht? Und die sind dann nicht erst recht hinter mir her?«
»Also, soweit ich weiß, kann man sich bei der Steuer sogar selbst anzeigen und wird dann nicht bestraft. Das müsstest du als Fastjuristin eigentlich besser wissen als ich.«
Ich zucke mit den Schultern. »Wenn ich Ahnung hätte, hätte ich mein Examen bestanden. Du sprichst hier mit einer Rechtsunkundigen.«
»Also, folgendes Angebot: Ich frage mal meinen Steuerberater, wie du aus der Nummer wieder rauskommst. Okay?« Stefan ist echt zu süß – ich gestehe ihm, wie viel Mist ich gebaut habe, und er will mir sogar noch helfen!
»Okay, das wäre natürlich super!«
»Aber eine Bedingung habe ich!«
»Nämlich?«
»Die Telefonnummer! Und zwar sofort!«