22. Kapitel
McDonald’s. McDonald’s! Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich gestern nicht die große Lebensbeichte abgelegt habe, sondern den armen Daniel noch in eine Fast-Food-Bude geschleppt habe. Energischer als geplant klappe ich den Deckel der nächsten Sonnenbank hoch, die ich reinigen muss. Dabei schlägt er mit einem lauten Scheppern an die Wand, so dass Roger erstaunt den Kopf durch die Kabinentür steckt.
»He, lass meine Bänke heil! Die haben dir schließlich nichts getan.«
»Tschuldigung, Chef. War ganz in Gedanken.« Und in was für welchen – ich könnte mich, platt gesagt, in den Arsch beißen. Denn wenn ich schon die Beichte nicht hingekriegt habe, hätte ich dem Abend durchaus noch ein sehr romantisches Ende verpassen können. Kann ein Abend unromantischer enden als bei einem Big-Mac-Menü mit extra Mayo und Ketchup?
Danach habe ich mich jedenfalls nicht mehr getraut, Daniel zu küssen, weil ich Angst hatte, dass die Zwiebeln in dem Burger bei mir für schlechten Atem gesorgt hatten. Also hat Daniel mich nur mit einem Taxi nach Hause gebracht, und ich bin mehr oder weniger wort- und grußlos aus dem Auto gehüpft. Ich könnte heulen: So ein toller Abend und dann so ein doofes Ende. Wenigstens scheint er nicht sauer auf mich zu sein, denn als ich ihm vorm Schlafengehen noch eine SMS geschickt und mich für den schönen Abend bedankt habe, kam prompt ein »Träum süß, ich freu mich schon auf das nächste Mal mit dir!« zurück. Immerhin. Trotzdem bin ich einfach nur sau-sau-sau-dämlich! Und feige noch dazu, nicht mal mit Daniels Steilvorlage habe ich es fertiggebracht, ihm endlich mal reinen Wein einzuschenken.
Als ich aus der Kabine komme, wartet Nadine auf mich am Tresen.
»Probleme?«
»Nee, wieso?«
»Weil du schon den ganzen Vormittag mit sooo einem Gesicht durch den Laden läufst.«
»Ach, ich habe immer noch Ärger mit meinem Vermieter«, rede ich mich raus.
»Wie blöd. Hast du denn schon einen Untermieter gefunden?«
»Nein, auch noch nicht. Außerdem habe ich Kopfschmerzen. Irgendwie ist heute nicht mein Tag.«
Nadine guckt mich mitfühlend an. »Was hältst du davon, wenn du einfach wieder nach Hause gehst? Vielleicht hilft es ja, wenn du dich noch mal eine Runde ins Bett legst?«
Nadine hat recht. Immerhin habe ich heute Nacht vor lauter Ärger über mich selbst maximal vier Stunden geschlafen und den Rest der Zeit damit verbracht, mich in meinem Bett von links nach rechts zu rollen und immer wieder auf den Radiowecker zu schielen.
»Weißt du, was? Eigentlich ist das eine gute Idee.« Ich greife nach meiner Handtasche, die ich unter dem Tresen verstaut habe. »Sag Roger schöne Grüße, ich hab’s heute nicht so mit Arbeit.«
Jetzt kichern wir beide, und zwei Sekunden später bin ich auch schon draußen.
Zu Hause angekommen, haue ich mich tatsächlich gleich aufs Ohr, und im Gegensatz zu heute Nacht schlafe ich sofort ein.
Ein energisches Klingeln reißt mich aus dem Schlaf. Ich werfe einen kurzen Blick auf meinen Radiowecker: schon sieben Uhr abends! Unglaublich, ich habe den ganzen Tag verpennt und fühle mich immer noch völlig groggy. Ich rapple mich aus dem
Bett hoch und schlüpfe in meine Jeans. Es klingelt munter weiter. Wer kann das sein? Vielleicht Herr Tiedenpuhl? Wobei – eigentlich bin ich mit der Miete ja im Reinen, der dürfte momentan keinen Grund haben, mich zu behelligen. Wieder klingelt es an der Tür, ich stolpere aus meinem Zimmer. Ein kurzer Blick in den Spiegel im Flur: verheerend. Ist eigentlich jemals wissenschaftlich geklärt worden, warum man vom Mittagsschläfchen so leicht Querfalten im Gesicht bekommt?
»Moment, ich bin gleich da!«, rufe ich und binde mir schnell die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Das rettet die Gesamterscheinung zwar kaum, aber immerhin kann ich dafür besser sehen, wer hier eigentlich Sturm klingelt. Ich bin schwer genervt. Jedenfalls so lange, bis ich die Tür öffne und Daniel sehe.
»’n Abend, Frau Schäfer.« Er grinst mich fröhlich an. »Sie hatten eine Runde Fast Food bestellt? Ich habe hier mal zwei große Portionen Chicken Wings, dann noch zwei Kartons Käse-Pizza-Brötchen und jede Menge Pommes frites mit Mayo.« Jetzt schwenkt er zwei Plastiktüten auf und ab, aus denen es tatsächlich verführerisch duftet. »Ich störe hoffentlich nicht, oder?«
Ich schüttele den Kopf, obwohl mir mein Aufzug ihm gegenüber schon recht peinlich ist.
»Dann ist ja gut«, stellt er erleichtert fest, »ich wusste ja nicht, ob du auf Spontanbesuche stehst, aber du bist nicht ans Telefon gegangen, und ich hatte doch schon den ganzen Tag lang schreckliche Sehnsucht nach dir.«
»Wirklich?«, frage ich erfreut.
»Hab’s kaum ausgehalten und bin nach der Arbeit direkt zu dir gerast, mit einem kleinen Umweg über den Imbiss.« Tatsächlich steckt Daniel noch im Büro-Outfit, er trägt einen dunklen Anzug mit Nadelstreifen, das strahlend weiße Hemd betont seinen dunklen Teint, seine schwarzen Haare schim
mern dunkelblau, und eine einzelne Strähne fällt ihm verwegen in die Stirn.
»Du siehst toll aus«, entfährt es mir.
»Und du erst!«, erwidert er und betrachtet mich von oben bis unten.
Ich merke, dass ich im Gesicht puterrot werde, denn neben Daniel sehe ich aus wie die ganz heiße Aspirantin auf den Titel »Miss Flodder Hamburg«. Daniel scheint das aber überhaupt nicht zu stören, denn er lässt die Tüten auf den Boden sinken, nimmt mich in den Arm und legt seine Lippen auf meine. Ich erwidere seinen Kuss und staune darüber, dass es überhaupt möglich ist, dass sein Mund noch weicher und zärtlicher ist, als ich ihn in Erinnerung habe. Und wie Daniel schmeckt, süß und gleichzeitig herb, in Verbindung mit dem Geruch seines Aftershaves eine Kombination, die mir die Sinne raubt. Er streicht mir mit einer Hand übers Gesicht, gleichzeitig spüre ich, wie seine Zungenspitze erst vorsichtig, dann immer fordernder über meine Lippen wandert. Ich öffne leicht den Mund, lasse ihn hineinschlüpfen und genieße die Hitze, die sich sofort in meinem gesamten Körper ausbreitet.
»Kirsten«, flüstert er, zieht mich noch näher an sich heran, schiebt mich zurück in den Flur und wirft die Tür hinter uns ins Schloss.
»Ich fürchte«, murmele ich zwischen seinen Küssen, die mich ganz benebelt machen, »das Essen wird kalt.«
»Essen?« Er sieht mich fragend an und lächelt dann verschmitzt. »Was für ein Essen? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«
Dann hat er mich schon wieder umschlungen und macht mit diesen unglaublichen, mit diesen wahnsinnigen Küssen weiter, löst meine Haare aus dem Zopfgummi und zerwühlt sie mit seinen Händen, lässt seine Lippen an meinem Hals runter- und wieder hochwandern, bis er schließlich mein linkes Ohrläpp
chen erreicht und genussvoll daran knabbert. »Du hast recht«, hauche ich, wobei meine Stimme eigenartig zittert, »ich kann mich auch an nichts erinnern.« Mit diesen Worten lege ich beide Hände um seine Hüften und ziehe ihn rückwärts hinter mir her in Richtung Schlafzimmer.
Ich wache mitten in der Nacht auf, taste neben mich und berühre Daniels weiche Haut. Tatsächlich, ich habe das alles nicht geträumt! Dieser wunderschöne Mann liegt immer noch neben mir, ich will mich am liebsten kneifen, um auch wirklich sicherzugehen, dass ich mir das nicht einbilde. Von draußen fällt diffuses Licht ins Schlafzimmer und lässt seinen Körper wie eine römische Statue erscheinen. Was hatte er sich gewünscht, ein Sixpack? Soweit ich es beurteilen kann, ist es durchaus schon vorhanden, jeder Zentimeter an Daniel scheint perfekt und durchtrainiert, und ich frage mich, wie es sein kann, dass dieser Mann laut eigener Aussage bisher kein besonders großes Glück mit Frauen hat. Das ist mir unbegreiflich!
Bei jemandem wie Markus Gärtner kann ich ja verstehen, dass er es schwer hat – aber Daniel müssten die Damen der Schöpfung doch die Tür einrennen. Und wenn ich mich an gestern Abend erinnere, wie wir uns stundenlang geliebt haben, mit einer Leidenschaft, von der ich bisher gar nicht wusste, dass ich dazu fähig bin – dann kann ich nur feststellen, dass sie ihm mit Recht die Tür einrennen würden. Ich seufze bei der Erinnerung daran, so etwas habe ich wirklich noch nie erlebt.
»Na?« Daniel schlägt die Augen auf und sieht mich lächelnd an. »Schon wach?«
»Ja«, sage ich und streichle ihm über die Wange mit dem Grübchen. »Ich konnte irgendwie nicht mehr schlafen.«
»Tja, so wie ich dich mittlerweile kenne, hast du wahrscheinlich Hunger. Wenn ich mich recht entsinne, liegt im Flur noch eine Tüte mit dem Besten, was der Imbiss um die Ecke zu bieten
hatte. Soll ich dir vielleicht ein paar Chicken Wings im Backofen warm machen? Wobei – die kann man wahrscheinlich auch gut kalt essen, mein kleiner Fast-Food-Hase.« Er grinst und küsst mich dann auf die Nase.
Gespielt empört knuffe ich ihn in die Seite. »Was heißt denn hier Fast-Food-Hase? Eigentlich wollte ich mich gerade aufmachen, eine Kleinigkeit im ›Le Canard‹ zu essen, als mir dein Spontanbesuch dazwischenkam.«
»Stimmt, genau so hast du eigentlich auch ausgesehen.« Frechheit.
»Hör mal, du willst doch wohl nicht dein kuscheliges Plätzchen in meinem Bett gleich wieder loswerden, oder?«
Entsetzt reißt Daniel die Augen auf. »Auf keinen Fall!«
»Na gut. Dann sei brav. Und hol die Chicken Wings. Die kann man tatsächlich gut kalt essen.«
»Guten Morgen!« Als ich das nächste Mal aufwache, scheint bereits die Sonne in mein Zimmer. Daniel sitzt in Boxershorts neben mir auf dem Bett und gibt mir einen Kuss auf die Nasenspitze.
»Oh.« Ich setze mich auf. »Bist du schon lange wach?«
»Lange genug, um uns einen Kaffee zu kochen und im Gefrierschrank ein paar Aufbackbrötchen zu finden.« Mit diesen Worten greift er neben sich auf den Nachttisch und stellt ein Tablett mit Kaffee, Brötchen, zwei Tellern und verschiedenen Marmeladen auf dem Bett ab.
»Das glaub ich jetzt nicht«, entfährt es mir. »Du hast für uns schon Frühstück gemacht?«
Sofort wirkt Daniel wieder verunsichert. »Ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich einfach an deine Küchenschränke gegangen bin. Aber du hast so süß geschlafen, und ich wollte mich irgendwie nützlich machen.«
»Natürlich bin ich dir nicht böse. Ich bin nur total fassungs
los. Wie kommt es, dass ein Traummann wie du überhaupt noch zu haben ist?«
Daniel lacht. »Warte erst einmal ab, bis ich dir meine finsteren Seiten präsentiere!« Er küsste mich wieder auf die Nasenspitze. »Und überhaupt: Wenn hier jemand traumhaft ist, dann bist du das.«
»Vielen Dank«, erwidere ich kichernd. »Aber ich bin mir sicher, dass ich momentan alles andere als traumhaft aussehe. Wahrscheinlich ist mein Gesicht total zerknautscht und verpennt, und meine Haare sind komplett zerzaust.«
Daniel bedenkt mich mit einem zärtlichen Blick. »Nein«, sagt er dann, »du siehst einfach nur wunderschön aus.«
Hallo? Universum? Könntest du es jetzt mal gut sein lassen und nicht derart übertreiben? Das hier ist bereits mein Traummann, wenn du so weitermachst, glaube ich am Ende noch, dass ich in Wahrheit schon die ganze Zeit in einer Gummizelle sitze, weil ich ganz offensichtlich halluziniere! Na, immerhin ist er bisher nicht vor mir auf die Knie gegangen, wenn das jetzt gleich noch passiert, halte ich mich endgültig für übergeschnappt!
»Hm«, sage ich und schnuppere an den ofenwarmen Brötchen. »Das riecht aber lecker.«
»Dann sollten wir schnell essen, bevor alles kalt wird.«
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, denn nach der durchaus kalorienverbrennenden Nacht habe ich einen Mordshunger. Daran hat auch unser kleines Mitternachtssouper mit Chicken Wings nichts geändert.
So sitzen Daniel und ich nebeneinander im Bett, futtern Brötchen mit Marmelade, geben uns zwischendurch immer mal wieder einen Kuss und genießen ansonsten einen faulen Samstagmorgen.
»Das ist ein sehr hübsches Armband«, sagt Daniel irgendwann und streicht mir über den Arm. »Ist mir an dir gleich aufgefallen, weil es so bunt glitzert.«
»Danke«, sage ich, »es hat eine ganz besondere Bedeutung für mich.« Verdammt! Schon wieder ist mir etwas rausgerutscht, was im Zweifel zu Nachfragen führt.
»Hast du es geschenkt bekommen?«, will Daniel prompt wissen. Ich nicke. »Von deinem Ex? Er scheint noch sehr an dir zu hängen.«
»Was?« Abrupt setze ich mich auf, wie kommt Daniel denn jetzt auf Gunnar? Ich habe noch nie ein Sterbenswörtchen über ihn verloren, mittlerweile scheint mir die Beziehung mit ihm auch Lichtjahre entfernt zu sein, so dass ich überhaupt nicht begreife, weshalb Daniel ausgerechnet jetzt das Thema Ex-Freund anspricht. »Wie kommst du darauf, dass mein Ex noch an mir hängt?«, will ich wissen.
Daniel grinst etwas verlegen und zieht mich wieder an sich. »Na ja, gestern hatten wir wieder eine Trainingsstunde mit Stefan Becker. Also, ich habe nichts vom Coaching gesagt, ehrlich, aber ich war neugierig, und na ja, auf meine Frage, wie gut er dich kennt, hat er gesagt, du seist seine Freundin gewesen.« Er sieht mich schuldbewusst an. »Sorry, ich konnte mir das nicht verkneifen.«
»Bitte?« In meinem Kopf geht es schon wieder drunter und drüber, Daniel spricht mit Stefan über mich? Das heißt, wird mir schlagartig bewusst, natürlich spricht er nicht über mich, sondern über Kiki! »Was genau hast du ihn denn gefragt?«, will ich mit klopfendem Herzen wissen.
»Wie ich schon gesagt habe«, erklärt Daniel. »Ich wollte wissen, wie gut er Kirsten Schäfer kennt, und er hat darauf geantwortet: ›Sie war meine Freundin.‹« Tatsächlich, ach, du grüne Neune! Das nächste Kuddelmuddel hält in Rekordgeschwindigkeit auf mich zu. »Jedenfalls war ihm anzumerken, dass er noch sehr an dir hängt, er hat dabei auf einmal einen ganz verschlossenen Gesichtsausdruck bekommen, und da habe ich lieber nicht mehr nachgefragt.«
Besser ist es, denke ich, denn sonst hättest du möglicherweise noch erfahren, wie Stefan dieses »sie war« gemeint hat.
»Äh, ja«, stottere ich. »Wir waren mal zusammen. Ist aber schon ewig her.« Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als Stefans Aussage zu bestätigen, denn am Ende fragt Daniel bei ihm dann noch einmal nach und dann – Karamba-Katastrophenhausen!
»Ich kann jedenfalls verstehen, wenn er dir nachtrauert«, stellt Daniel fest und bekommt schon wieder diesen weichen Gesichtsausdruck. »Eine Frau wie dich würde ich auch nicht so schnell vergessen.« Er legt beide Arme um mich. »Es ist so schön, dass du jetzt da bist und ich nicht mehr allein bin. Das habe ich mir schon lange gewünscht, die richtige Frau zu treffen. Und nun bist du da.«
Ich muss lächeln, dieser Kerl ist einfach zu süß. Eine Weile liegen wir schweigend nebeneinander und genießen einfach nur, dass wir zusammen sind. Ich kann Daniels Herz hören, das langsam und regelmäßig in seiner Brust pocht. So könnte ich ewig verharren.
Nach unserem Frühstück, das sich bis in den frühen Nachmittag zieht – okay, wir haben außer Essen zwischendurch auch noch etwas anderes gemacht –, beschließen Daniel und ich, das heute tatsächlich mal gute Wetter für einen kleinen Spaziergang zu nutzen. Nachdem er sich frisch gemacht hat, springe ich ebenfalls kurz unter die Dusche und absolviere mein Pflegeprogramm in Rekordgeschwindigkeit. Ich möchte keine Sekunde länger als nötig von diesem wunderbaren Mann getrennt sein, weil ich irgendwie immer noch die Sorge habe, er könnte sich als Fata Morgana herausstellen und sich einfach in Luft auflösen.
Als ich in einem leichten Sommerkleid die Küche betrete, in der Daniel noch saß, als ich ins Bad verschwunden bin, ist er wirklich verschwunden.
»Daniel?«, rufe ich und gehe rüber in mein Zimmer. Aber auch dort ist er nicht.
»Ich bin hier«, ruft er.
Ich gehe raus in den Flur – und sehe, dass die Tür zu Kikis Zimmer halb offen steht. Ich stoße sie ganz auf, Daniel steht unschlüssig mitten in dem Raum, der zwar noch möbliert ist, ansonsten aber nichts Privates mehr enthält.
»Was suchst du hier?«, will ich wissen und merke, dass meine Stimme ziemlich verärgert klingt.
»Du wohnst nicht allein?«, fragt Daniel zurück, ohne meine Frage zu beantworten, und schaut mich groß an.
»Wie sieht es denn für dich aus?«
»Nach einem möblierten Zimmer.«
»Und? Macht es den Eindruck, als würde hier jemand wohnen?«
»Nein«, gibt Daniel zu. »Aber ich … ich …«
»Warum schnüffelst du hier rum?« Noch immer klinge ich aufgebracht. Dabei hat es gar nicht so viel mit Daniel zu tun, ich bin in erster Linie sauer auf mich selbst, dass ich vergessen habe, Kikis Zimmer abzuschließen. Gut, ich konnte ja nicht ahnen, dass der gestrige Abend so verlaufen würde, wie er verlaufen ist, ebenso wenig, wie Daniel wissen kann, was es mit diesem Zimmer auf sich hat – aber mehr und mehr habe ich das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen, das mir jeden Moment um die Ohren fliegen kann.
»Kirsten, du musst mich wirklich für einen grässlichen Typen halten«, bringt Daniel stotternd hervor. »Es tut mir leid, aber als du unter der Dusche warst, da konnte ich nicht widerstehen und … Weißt du, ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass es mir nicht leichtfällt, zu vertrauen und …«
Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm und nehme ihn in den Arm. »Nein, mir tut es leid, dass ich dich so angeschnauzt habe, das wollte ich nicht.«
»Du hast aber recht, dass ich nicht einfach in deiner Wohnung rumschnüffeln darf, das ist schließlich deine Privatsphäre.«
Ich nehme ihn an der Hand, führe ihn zu Kikis Bett und lasse mich mit ihm zusammen darauf nieder. Vielleicht ist jetzt doch der richtige Zeitpunkt gekommen, ihm die Wahrheit zu sagen. Viel länger kann ich mein Lügenkonstrukt sowieso nicht aufrechterhalten, und nach der vergangenen Nacht schreit alles in mir danach, Daniel reinen Wein einzuschenken. Ich kann nur hoffen, dass er mich daraufhin nicht sofort verlässt. Aber selbst wenn, so wie jetzt kann es unmöglich weitergehen.
»Du hast mich vorhin nach meinem Armband gefragt«, fange ich an und streiche Daniel dabei durch seine vollen Haare.
»Ja?«, antwortet er abwartend.
»Ich habe es nicht von Stefan bekommen, sondern von meiner Cousine.«
»Von deiner Cousine?« Ich nicke.
»Ja. Sie hat es mir geschenkt, damit es mir Glück bringt.«
»Und, hat es dir Glück gebracht?« Ich stocke.
»Mir schon«, sage ich schließlich langsam und bedächtig. »Aber ihr nicht.«
»Weshalb?«
»Sie ist tot.«
Ich merke, wie Daniel sich für einen kurzen Moment verkrampft, dann legt er einen Arm um mich und zieht mich ganz fest an sich. »Das tut mir leid«, flüstert er.
»Ja, mir auch.«
»Dann war das hier ihr Zimmer?« Wieder nicke ich. »O mein Gott«, ruft Daniel aus und schlägt mit seiner freien Hand auf die Matratze. »Ich bin ja so ein riesiger Idiot!« Dann beugt er sich zu mir, nimmt mein Gesicht in beide Hände und bedeckt es über und über mit Küssen. »Bitte verzeih«, bringt er zwischendurch hervor, »mein Misstrauen ist einfach widerlich! Ich
habe doch wirklich gedacht, dass du vielleicht mit einem Kerl zusammenlebst. Kirsten, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich dafür schäme!«
»Daniel«, setze ich an, bevor mich der Mut verlässt, ihm zu sagen, dass ich überhaupt nicht Kirsten heiße und auch kein Coach bin, aber er küsst mich wieder und wieder, so dass ich gar nicht zu Wort komme.
»Ich hab so was schon mal erlebt, weißt du?«, redet er schließlich wie ein Wasserfall weiter. »Das war mit meiner letzten Freundin.« Wieder küsst er mich. »Ein Jahr lang hat sie mich an der Nase herumgeführt, und ich habe es nicht gemerkt. Irgendwann habe ich dann herausgefunden, dass alles, was sie mir erzählt hat, gelogen war, da ist für mich eine Welt zusammengebrochen, weil ich sie sehr geliebt habe. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Mensch so etwas tun kann.«
»Was genau hat sie denn gemacht?«, frage ich vorsichtig nach.
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, meint Daniel, blickt mir tief in die Augen und streichelt zärtlich meine Wange. »Ich kann nur sagen, dass ich damals dachte, ich könnte nie wieder jemandem vertrauen. Also verzeih mir, was ich da eben getan habe, ich schätze, ich habe von der Geschichte einen kleinen Knacks davongetragen.«
»Weißt du«, setze ich wieder an, wobei meine Stimme ziemlich kraftlos klingt.
»Alles«, unterbricht er mich, »was ich weiß, ist, dass du eine wunderbare Frau bist. Und dass ich in Zukunft alles tun werde, um mein Misstrauen in den Griff zu bekommen.«
Na gut. Verschiebe ich die große Beichte lieber auf ein anderes Mal. Irgendetwas sagt mir, dass jetzt keinesfalls der richtige Moment dafür ist.