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19. Kapitel

Hat Daniel mir nicht gesagt, er hätte ein bisschen Werbung gemacht? Ein bisschen? Der Klingelfrequenz meines Telefons nach zu urteilen, muss er eine groß angelegte Verteilaktion in der Fußgängerzone unternommen haben, nach Markus Gärtner haben sich noch fünf weitere Leute gemeldet, die ein zweistündiges Probe-Coaching bei mir buchen wollen. Mittlerweile geht mir das »Kirsten Schäfer« wie selbstverständlich über die Lippen, so als wäre das schon immer mein Name gewesen.

Das schlechte Gewissen hält sich auch in Grenzen, als ich feststelle, dass Kikis Stundensatz von siebzig Euro für keinen der Anrufer ein Problem darstellt. Siebzig Euro! Pro Stunde! Und auch, wenn Kiki ihre Intensivseminare am Wochenende zum Rabattpreis angeboten hat, gibt es da ja immerhin auch sechshundert Schleifen, da muss eine alte Frau lange für stricken! Ha, wenn Roger wüsste, was hier gerade abgeht, würde er seinen Laden vermutlich dichtmachen, sich diverse Wunsch-Ratgeber zulegen und ab sofort Coachings anbieten! Allerdings wollen die alle eine Rechnung haben, das ist natürlich ein kleines Problem. Obwohl ich weiß, dass ich dafür irgendwann in der Hölle oder wenigstens im Knast landen werde, krame ich Kikis altes Briefpapier hervor und erstelle schon einmal ein paar Rechnungsvordrucke für »Coaching Schäfer«. Allerdings mit meiner und nicht mit Kikis Bankverbindung. Aber das wird bestimmt nicht weiter auffallen, schließlich ändern sich Kontonummern gerne mal. Wie ich mit der Steuernummer verfahren soll, weiß ich allerdings nicht so recht. Meine eigene nehmen? Habe ich überhaupt eine? Kikis alte Nummer so stehenlassen? Ist bestimmt total verboten. Mist!

Das bringt mich auch gleich zur nächsten Frage: Wenn ich hier munter Rechnungen schreibe, muss ich das Geld irgendwann mal versteuern. Steuern – nicht gerade mein Lieblingsthema. Vielleicht sollte ich mich darum einfach später kümmern. Wenn mehr Zeit ist. Oder ich mehr Ahnung habe. Oder beides. Jetzt jedenfalls nicht. Ich lasse die Nummer also erst einmal so, wie sie ist. Das ist vermutlich nicht ganz so, wie sich das Finanzamt eine korrekte Rechnung vorstellt, aber eine bessere Lösung fällt mir eben nicht ein.

Ich verteile die Beratungstermine so über die ganze Woche, dass sie nicht mit meiner Arbeitszeit im Sonnenstudio kollidieren, denn so wahnsinnig, dass ich da gleich in den Sack haue, bin ich nun auch wieder nicht. Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich auffliege? Und wer weiß, wer sich dann noch von mir coachen lassen will? Nein, lieber nicht dran denken, ich ziehe die Sache jetzt durch!

»Hallo, Spitzencoach!«, meldet Daniel sich eine Woche nach seinem Überraschungsbesuch. »Und? Hat sich schon der eine oder andere Kollege gemeldet?«

»Ja«, antworte ich, »ich bin kaum vom Telefon weggekommen. Ihr Bekannter hat bereits angerufen und dazu noch fünf andere Klienten.«

»Das ist echt super«, stellt er fest. »Wie sieht es denn bei Ihnen in den nächsten Tagen aus? Unser Treffen steht noch, oder?«

»Sorry, dafür habe ich jetzt keine Zeit mehr, zu viele Neukunden.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann breche ich in Gelächter aus. »Das war nur ein Witz!«, stelle ich klar. »Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns bald sehen.«

»Oh, da haben Sie mich jetzt gerade ganz schön auf den Arm genommen«, erwidert Daniel. »Hab schon einen Schrecken gekriegt. Wie sieht es denn Donnerstagabend aus? Frau Hansmann hätte da auch Zeit.«

»Frau Hansmann?«

»Na, unsere Personalchefin.«

Mist, er will wirklich in Begleitung kommen. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass das nur vorgeschoben war. Sei’s drum. Besser ein Treffen zu dritt, als Daniel gar nicht wiederzusehen.

»Warten Sie mal, ich hole eben meinen Kalender.« Ich laufe mit dem Telefon in die Küche und schnappe mir den Terminplaner, den ich mir heute extra gekauft habe. Bin jetzt schließlich ein gefragter Coach und so, da muss ich mich schon gut organisieren. »Ich schau mal nach«, sage ich und blättere darin herum. Morgen um zehn kommt Markus Gärtner, Daniels Freund. Danach, um zwölf, eine Corinna Schuster, nachmittags habe ich Schicht im Studio. Mittwoch bin ich den ganzen Tag im »Summer Island«, Donnerstagvormittag auch, am Nachmittag kommt wieder jemand zum Coaching, und den Freitag bin ich wieder zusammen mit Nadine im Studio. »Donnerstagabend klingt gut«, erkläre ich. »So gegen acht?«

»Acht ist bestens. Was halten Sie von italienischer Küche?«

»Sehr viel.«

»Dann würde ich sagen, wir treffen uns im ›Gallo Nero‹ in der Sierichstraße. Kennen Sie das?«

Auweia, ein Nobel-Italiener. Und bei so einem Geschäftsessen muss ich den Kunden vermutlich einladen. Das wird teuer. Aber egal, da muss ich wohl durch, wenn ich einen professionellen Eindruck machen will.

»Ja, das Restaurant kenne ich. Dann bis Donnerstag!«

»Großartig. Ich freue mich!«

»Ich mich auch.« Also, ich finde, Herr Unverzagt klang ansatzweise euphorisch. Ein gutes Zeichen!


»Daniel hatte recht, das war eine wirklich interessante und spannende Sitzung mit Ihnen, Frau Schäfer.« Am nächsten Tag habe ich um kurz vor zwölf meinen ersten offiziellen Termin mit Markus Gärtner hinter mich gebracht. Anfangs war ich noch

sehr nervös, zum einen, weil ich wusste, dass Markus Daniels bester Freund ist, zum anderen, weil ich immer noch Zweifel hatte, dass die Sache glatt über die Bühne geht. Nur weil Daniel von mir so begeistert war – und das anscheinend nicht nur wegen meiner Coaching-Qualitäten –, heißt das nicht, dass es anderen auch so geht. Aber offensichtlich muss ich mir keine Sorgen machen, auch Markus Gärtner scheint mit mir zufrieden zu sein, er will sogar ein paar Flyer haben, die er Freunden und Kollegen geben will.

»Vielen Dank«, sage ich, »freut mich, wenn es Ihnen gefallen hat und Sie mich weiterempfehlen.« Ich drücke ihm Kikis Flyer in die Hand.

In der Zwischenzeit habe ich Kikis alte Mobilnummer mit meiner überklebt, damit niemand versucht, meine Cousine anzurufen. Wobei ein kurzer Kontrollanruf, nachdem Daniel ja schon ohne mein Wissen ein paar Prospekte mit der alten Nummer verteilt hatte, mir bestätigte, dass unter Kikis alter Nummer nur die Ansage »Diese Rufnummer ist zurzeit nicht vergeben« läuft. Ist also kein Drama, falls es da schon jemand probiert hat.

»Ich finde Ihren Ansatz sehr interessant«, meint Markus Gärtner und schiebt seine Nickelbrille zurecht.

Optisch ist er das genaue Gegenteil von Daniel, er ist klein, blond und könnte ein paar Pfund weniger vertragen. Er ist in Daniels Firma nicht im Controlling, sondern im Einkauf tätig, dort allerdings sehr zufrieden. Wie er mir etwas verschämt erklärte, ging es bei ihm nicht um den beruflichen, sondern eher um den zwischenmenschlichen Bereich. Anders gesagt: Markus Gärtner findet einfach keine Freundin – dabei hätte er doch so gerne eine. Ein Problem, das ich durchaus nachvollziehen konnte, wer ist schon gern allein?

Neben der Sache mit der Wunschliste und der Wunsch-Wand habe ich mir die Freiheit herausgenommen, ihm noch zwei, drei modische Tipps zu geben (»Schwarze Lackschuhe,

ganz ehrlich, Herr Gärtner, sind einfach ein ziemlicher Abturner. Wenn Sie abends ausgehen, lassen Sie die Krawatte weg, das wirkt sonst so steif. Versuchen Sie es stattdessen mal in Jeans und T-Shirt! Ein bisschen mehr Farbe würde Ihnen sicher auch gut stehen, ein Besuch im Solarium könnte da nicht schaden, das wirkt gleich viel frischer und positiver«) und ihn davon zu überzeugen, dass ein klein wenig Sport sich absolut vorteilhaft auswirken würde.

Zusätzlich habe ich ihm noch etwas geraten, das in einem von Kikis Büchern stand und das ich ziemlich lustig fand: Platz schaffen für einen Partner! Er solle die Hälfte seines Kleiderschranks ausräumen, öfter mal für zwei Personen decken, sich ein Doppelbett besorgen (tatsächlich schläft der Mann noch auf einem nur neunzig Zentimeter breiten Bett) und seine Wohnung generell so einrichten, dass eine Frau sich dort auch wohl fühlen würde.

»Ganz wichtig ist auch«, habe ich ihm erklärt, »dass Sie ab sofort die Augen offen halten! Man weiß schließlich nie, wo einem der Partner fürs Leben begegnet, das kann immer und überall sein, selbst wenn Sie überhaupt nicht damit rechnen. Das Universum findet manchmal ungewöhnliche Wege, um uns unsere Wünsche zu erfüllen.«

Markus Gärtner hat jedes meiner Worte mit Feuereifer mitgeschrieben, ihm scheint die Sache wirklich sehr ernst zu sein.

»Jedenfalls«, sagt er jetzt bei der Verabschiedung, »habe ich die Dinge noch nie von dieser Warte aus betrachtet, ich finde dieses Anziehungsgesetz schon sehr innovativ.«

»Ja«, meine ich, »im ersten Moment kommt es einem vielleicht etwas seltsam vor – aber glauben Sie mir, es hat schon bei vielen Menschen funktioniert.«

»Dann will ich mal hoffen, dass das auch auf mich zutrifft.« Ein sehnsuchtsvoller Ausdruck tritt auf sein Gesicht, und ich möchte wetten, er stellt sich gerade vor, wie er mit einer netten

Frau Hand in Hand spazieren geht. Bestens, dann visualisiert er schon, und das ist immer gut. »Sagen Sie, Frau Schäfer, das hier bleibt doch unter uns, oder?«

»Aber natürlich!«

»Ich meine, Daniel hat mir gesagt, dass er Sie noch ein paar anderen Mitarbeitern in unserer Firma empfohlen hat, und da wäre es mir sehr unangenehm, wenn von denen jemand wüsste, dass ich …«

»Seien Sie unbesorgt«, beruhige ich ihn. »Ich halte es da ähnlich wie mit der ärztlichen Schweigepflicht.«


»Tachchen!«, begrüßt mich Nadine, als ich am Nachmittag ins Studio komme.

»Holldriho!«, rufe ich ihr entgegen und lasse mich mit Schwung auf meinen Stuhl plumpsen.

»Na, du bist ja gut gelaunt«, stellt sie fest. »Was ist denn los?«

»Gar nichts ist los«, meine ich. »Ich bin einfach nur gut gelaunt, das ist alles. Oder ist das nicht erlaubt?«

»Doch, natürlich, wollte bloß nachfragen. Hätte ja sein können, dass es was Neues gibt.« Sie mustert mich eingehend. »So wie ich dich kenne, gibt es auch was Neues, du willst es mir nur nicht sagen.«

»Wieso sollte ich?«, tue ich unschuldig.

»Keine Ahnung«, erwidert sie. »Aber ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass irgendwas los ist, du bist schon seit Tagen so anders.« Sie legt die Stirn nachdenklich in Falten. »Nur was könnte es sein? Neuer Job? Nein, dann hättest du hier schon gekündigt. Neuer Kerl? Na, das hättest du mir ja wohl hoffentlich gesagt!«

»Weder das eine noch das andere«, behaupte ich. Allerdings bin ich schon ein bisschen traurig, dass ich Nadine nichts von Daniel erzählen kann. Jedenfalls noch nicht. Denn dann wird

sie wissen wollen, wo ich ihn herhabe und wann sie ihn denn mal kennenlernt und … nun, das ist alles momentan noch ein bisschen schwierig. Aber mein »Es-wird-sich-alles-in-Wohlgefallen-auflösen«-Wunsch liegt ja in Kikis Schreibtischschublade und arbeitet von dort aus für mich.

»Wie du meinst«, sagt Nadine und packt ihre Sachen zusammen, weil für sie Feierabend ist. »Ich kriege es schon noch aus dir heraus, darauf kannst du dich verlassen.«

»Man kann nichts rauskriegen, was es nicht gibt«, kontere ich.

»Das werden wir ja sehen. Dir noch einen entspannten Nachmittag, ich gehe jetzt einkaufen und koche heute Abend was Leckeres für meinen Süßen und mich. So ein richtig schöner Abend zu zweit, wunderbar, so was müsstest du auch mal wieder haben.« Sie mustert mich eingehend, ob ich nicht doch irgendwie reagiere.

Aber ich wahre mein Pokerface. Wobei ich innerlich vor Vorfreude ganz hibbelig bin, wenn ich an Donnerstagabend denke. »Jaha«, flöte ich, »macht’s euch mal nett. Ich werde mich hier bis zehn Uhr amüsieren.«

»Okay«, verabschiedet Nadine sich. »Dann bis morgen.«

»Bis morgen!«


Ich verbringe den Nachmittag mit akkordmäßigem Solariumputzen, denn nachdem es heute schon wieder in Strömen regnet und gar nicht mehr aufhören will, sind fast alle Bänke übergangslos belegt. Mir soll es recht sein, denn alles ist besser, als sich hinterm Tresen zu langweilen und vor Verzweiflung sämtliche alten Galas, Buntes und InTouchs zum dritten Mal zu lesen. Auch der Gedanke daran, dass ich bei diesem Trubel leider nicht am Umsatz beteiligt bin, lässt mich ziemlich kalt. Hey, ich kriege siebzig Euro die Stunde, was brauche ich da eine Umsatzbeteiligung in dieser Bude hier?

Im Wesentlichen murkele ich den gesamten Tag allein vor mich hin, nur einmal schaut Roger kurz vorbei, verzieht sich aber nach einer halben Stunde schon wieder, weil er einen wichtigen Termin hat. Es geht um irgendeine neue Bräunungsmethode aus den USA, eine Art Farbdusche, die bereits von vielen Studios angeboten wird. Bei diesem Trend will Roger »den Zug nicht verpassen«. Na dann. Um kurz nach sechs taucht Stefan auf, bibbernd und pitschnass, seine Trainingsklamotten kleben ihm am Körper, Wasser tropft aus seinen Haaren, als wäre er soeben einer Badewanne entstiegen. Mittlerweile kommt Stefan auch hierher, und ich lasse ihn dann immer umsonst auf die Bank. Jedenfalls, wenn Roger nicht da ist, der würde mir natürlich den Hals umdrehen, wenn er das mitbekäme. Aber das ist eben meine kleine, feine Rache für die saumiese Bezahlung.

»Tach, Maike«, sagt Stefan. »So ein Scheißwetter da draußen – Hamburg macht seinem Ruf alle Ehre.« Er zittert regelrecht, und die Farbe seiner Lippen zeigt ein eindeutiges Lila-Blau. »An solchen Tagen macht es echt keinen Spaß, mit Kunden um die Alster zu joggen. Noch dazu, wenn sie für sieben Kilometer ungefähr zwei Stunden brauchen.«

»Du Armer.« Ich reiche ihm ein Handtuch, er rubbelt sich die Haare trocken, so dass sie in alle Himmelsrichtungen abstehen. Sieht süß aus, wie er da so mit Sturmfrisur vor mir steht und mit seinen Klamotten immer noch den Boden volltropft. »Musstest du echt bei dem Regen draußen rumlaufen?«

Er nickt. »Ich hab echt versucht, meinen Kunden davon zu überzeugen, lieber ins Studio zu gehen. Aber er meinte, wir würden schon nicht wegschwimmen, was wir allerdings fast getan hätten.«

»Na, dann wärm dich mal ein bisschen auf, die drei ist gerade frei geworden, ich stell sie dir mal auf zwanzig Minuten ein.«

»Super, danke, das brauche ich jetzt wirklich, ich kann meine Zehen kaum noch spüren.«

»Hast du was Trockenes zum Anziehen mit?«, will ich wissen. »Ich kann sonst mal schauen, ob wir irgendwo im Schrank wenigstens noch ein T-Shirt haben, manchmal lassen die Kunden ja was liegen.«

Stefan rümpft die Nase. »Ein olles T-Shirt von einem Fremden? Nee, danke!« Dann schwingt er eine Sporttasche, die er in der linken Hand hält. »Hab mir schon gedacht, dass es heute wie aus Eimern schütten wird, und vorsichtshalber was zum Wechseln ins Auto gelegt.«

»Sehr weitsichtig«, lobe ich und reiche ihm ein frisches Handtuch.

»Danke.« Er schnappt sich das Handtuch und steuert die Kabine an. Unterwegs klingelt sein Handy.

»Stefan Becker?«, höre ich ihn sagen, dicht gefolgt von einem »Ja, der bin ich«, und ein paar Minuten später meint er: »Gut, in Ordnung, morgen früh um sieben an der Lohkoppelbrücke. Wir erkennen uns dann schon.«

Zwei Sekunden später steht Stefan wieder vor mir am Tresen und betrachtet mich irritiert.

»Ist noch was?«, frage ich.

»Ja«, antwortet er. »Wer ist Markus Gärtner? Und wieso hat er meine Nummer heute von Kirsten Schäfer bekommen?«

Mit einem Schlag sackt mir sämtliches Blut in die Magengrube.