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17. Kapitel

Stefan holt mich wie abgemacht um Viertel nach vier ab und fährt mit mir raus zum Ohlsdorfer Friedhof. Er parkt seinen Wagen neben einem der Friedhofseingänge, und wir steigen aus. Nachdem wir zwanzig Minuten lang schweigend und in Gedanken versunken – Stefan vermutlich in andere als ich, wofür ich mich ein kleines bisschen schäme – an den Gräbern vorbeispaziert sind, bleibt Stefan stehen.

»So, ich glaube, hier sind wir schon ungefähr auf der richtigen Höhe.«

»Stimmt. Hier müsste es sein.«

Der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg ist nicht einfach nur ein Friedhof, er ist gleichzeitig ein riesiger Park. Wenn man zu Fuß eine große Runde drehen will, braucht man dafür mit Sicherheit mindestens zwei Stunden. Noch im letzten Sommer bin ich mit Kiki auf Inlineskates durch die Anlage gefahren. Das ist zwar verboten, aber man darf sich eben nicht erwischen lassen. Es war traumhaftes Wetter, und wir hatten einen phantastischen Tag. Und jetzt liegt sie hier. Für immer. Ich merke, wie sich mein Magen zusammenkrampft.

Stefan schaut mich von der Seite an. »Möchtest du lieber wieder nach Hause?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, ist schon in Ordnung. Ich wollte sie selbst eigentlich auch schon längst wieder besucht haben. Aber alleine ist es eben noch sehr schwer.«

Stefan greift nach meiner Hand. »Komm! Gemeinsam schaffen wir das!«

Wir gehen an einem kleinen See vorbei und erreichen schließlich die Lichtung des Schmetterlingsgartens. Auf einer der Parkbänke sitzen zwei ältere Damen und unterhalten sich,

tatsächlich schwirren über den Blumenbeeten einige Schmetterlinge. Ganz in der Nähe des großen Beetes in der Mitte des Gartens liegt Kikis Grab. Mittlerweile hat es auch einen Stein, in den ein Ornament gehauen ist: ein großer Schmetterling mitten über einem Blütenmeer. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. Auch Stefan schluckt.

»Hast du den Stein ausgesucht?«, will ich von ihm wissen.

Er nickt. »Ja, zusammen mit Simone.«

»Er ist wirklich wunderschön. Der ganze Schmetterlingsgarten ist wunderschön.«

»Wusstest du, dass der Schmetterling ein Sinnbild der Verwandlung ist? Des Lebens nach dem Tod?«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Na ja, die Raupe stirbt nicht, sie verwandelt sich in einen wunderschönen Schmetterling, verstehst du? Es geht immer weiter. Das Leben ist nicht einfach zu Ende, es verändert sich nur.«

Wir halten uns ganz fest an den Händen. Stefan hat recht – es muss einfach irgendwie weitergehen für Kiki. Sie hatte so viel Energie, so viel Freude. Die kann nicht einfach weg sein, sie hat sich nur in eine andere Form verwandelt.

Plötzlich spüre ich, wie mich eine warme Welle durchströmt. Ein regelrechtes Glücksgefühl ergreift von mir Besitz, zum ersten Mal seit Kikis Tod ist da eine eigenartige Leichtigkeit, so als wäre gerade etwas sehr, sehr Schweres von mir abgefallen. Ich wende mich Stefan zu.

»Fühlst du das auch?«, frage ich flüsternd, als hätte ich Sorge, dieses seltsame Gefühl zu verscheuchen.

»Ja«, flüstert er zurück und drückt wieder meine Hand. »Ich kann es auch spüren. Es ist fast so, als wäre sie hier.« Er kniet vor dem Grab nieder, legt eine Hand auf die Erde und verharrt so einen Augenblick. Ein leises Murmeln sagt mir, dass er Zwiesprache mit meiner Cousine hält, und auch ich kann nicht anders, als in Gedanken mit Kiki zu reden.

Kiki, ich bin so traurig, dass du nicht mehr hier bist. Und ich verstehe immer noch nicht, warum du sterben musstest, die Welt ist einfach furchtbar ungerecht. Aber ich tue mein Bestes, um weiterzumachen. Ich streiche mit den Fingern über das Armband an meinem Handgelenk. Weißt du, was? Das Gesetz der Anziehung funktioniert wirklich, ich habe es ausprobiert, und es hat gleich geklappt. Okay, ich bin dafür … na ja, ich musste so tun, als wäre ich du. Ich hoffe, du bist mir deshalb nicht böse, aber ich glaube, du verstehst das schon.

Stefan steht wieder auf und dreht sich zu mir um. Verstohlen wischt er sich die Tränen aus den Augenwinkeln und lächelt mich dann an. »Komm«, sagt er, »lass uns fahren, es ist gut jetzt.«

Ich nicke. »Ja, es ist gut.«

Hand in Hand wandern wir durch den Friedhof zurück zu Stefans Auto. Noch immer fühle ich diese seltsame Wärme in mir und frage mich, ob es wirklich Kiki ist, die dieses Gefühl in mir auslöst. Nein, ich frage mich das nicht. Ich weiß es. Meine Cousine ist bei mir, sie hat uns nicht verlassen.


»So, und jetzt raus mit der Sprache: Was hast du am Wochenende getrieben?« Nadine empfängt mich mit einem strahlenden Lächeln, als sie am nächsten Morgen ins Sonnenstudio kommt.

Ich bin schon seit einer halben Stunde da, um mich ein bisschen einzuarbeiten und zu schauen, ob sich in den letzten Wochen irgendetwas geändert hat. Ist ja nicht ganz unwichtig zu wissen, ob beispielsweise die Bestrahlungsstärken der einzelnen Bänke noch genauso sind wie im Frühjahr. Nicht dass ich einen ahnungslosen Kunden auf die vormals schwächere zwei schicke, die dank neuer Röhren jetzt turbomäßig bräunt.

»Nichts Besonderes«, erwidere ich lapidar. »Aber so, wie du aussiehst, hast du durchaus was Besonderes gemacht.«

Nadine kichert. »Na ja.« Sie setzt sich auf ihren Stuhl und grinst mich fröhlich an. »Ralf und ich mussten uns natürlich erst einmal ausgiebig versöhnen. Am liebsten wäre ich gestern mit ihm den ganzen Tag im Bett geblieben. Aber das ging nicht, ich musste ja hier die Stellung halten. Was mich wieder zu meiner Ausgangsfrage bringt: Also, was hast du gemacht? Jetzt erzähl schon, bevor ich vor Neugierde platze!«

»Da gibt es echt noch nichts zu berichten«, laviere ich mich heraus. »Ehrlich, du bist die Erste, die es erfährt, sobald irgendetwas feststeht.«

»Na gut, dann mach halt weiter mit deiner Geheimniskrämerei«, meint Nadine in gespielt schnippischem Tonfall. »In-teressiert mich auch gar nicht, was du so treibst.«

»Dann ist es ja gut.«

»Sag mal«, wechselt sie das Thema, »was ist jetzt eigentlich mit deinem Vermieter? Der wollte doch heute die Kohle haben.«

»Schon erledigt. Ich habe ihm einen Umschlag mit dem Geld in den Briefkasten gesteckt, bevor ich los bin.«

»Echt?« Nadine staunt regelrecht Bauklötze. »Wo hast du denn so schnell die sechshundert Euro herbekommen?«

Ich beiße mir auf die Lippe. Mist! Dafür muss ich natürlich eine Erklärung haben. »Ich, äh, hab doch noch kurzfristig einen Sponsor gefunden. Meine Tante.«

»Du meinst Kikis Mutter, Tante Simone?«

»Nein, eine … äh, entfernte Tante. Eine Art Tante, genau genommen.«

»Eine Art Tante?«

»Ja, also, mehr so meine … Patentante.«

Nadine seufzt. »So eine Patentante hätte ich auch gern, die könnten Ralf und ich momentan gut gebrauchen.«

»Ich kann sie dir ja mal ausleihen«, mache ich einen Witz.

»Sehr gerne«, erwidert Nadine und fügt dann kichernd hin

zu: »Allerdings nur, wenn ich dafür dann nicht Weihnachten und andere Feiertage mit ihr verbringen muss.«

»Keine Sorge«, beruhige ich sie. »Ist eine praktische Patentante, lebt ganz weit weg, in Amerika.«

»Die Tante aus Amerika also?«

»Jau, so sieht es aus.« Wir lachen. Trotzdem entgeht mir nicht, dass Nadine mir vermutlich kein einziges Wort glaubt, selbst beim Lachen wirkt sie skeptisch. Soll sie halt, was Besseres fällt mir eben gerade nicht ein.

»Hallo, Maike!« Lederhaut-Babs kommt ins Studio und bleibt vor unserem Tresen stehen. »Dich habe ich ja lange nicht mehr hier gesehen.« Sie setzt eine mitleidige Miene auf. »Geht’s dir denn wieder einigermaßen?«

»Ja«, sage ich, »ich hab mich ganz gut berappelt.«

»Da bin ich ja beruhigt. Dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen.«

»Hätte ich auch nichts gegen gehabt«, antworte ich ehrlich. »Aber irgendwie muss ich ja über die Runden kommen.«

»Tja, das müssen wir wohl alle«, stellt sie fest. Sie öffnet ihre Handtasche und kramt ihr Portemonnaie raus. »Ich geh dann mal dreißig Minuten auf die sechs«, sagt sie und legt das Geld dafür auf den Tresen.

»Okay.« Ich stelle die Zeit auf meinem Monitor ein. »Dann mal viel Spaß.« Babs wackelt ab in Kabine sechs.

»Die sieht echt bald aus wie gegerbtes Leder«, flüstert Na-dine mir zu.

»Schönheit ist eben, was du selbst draus machst«, erwidere ich.

»Und sie liegt im Auge des Betrachters.«

»Genau.«

Nadines Handy klingelt, sie sucht es aus ihrer Jacke, die über ihrem Stuhl hängt, und nimmt den Anruf entgegen. »Hallo, Schatz.« Es ist offensichtlich Ralf. Nadine hört ein paar Mi

nuten lang zu, dabei tritt ein immer breiteres Grinsen auf ihr Gesicht. »Ist nicht wahr!«, höre ich sie sagen, dicht gefolgt von einem »Aber das ist ja großartig!«. Als sie auflegt, reichen ihre Mundwinkel von einem Ohr zum anderen.

»Gute Neuigkeiten, nehme ich an?«

Sie nickt. »Das kannst du laut sagen! Ralfs alter Chef hat ihn angerufen und gebeten, wieder für ihn zu arbeiten.«

»Was? Ehrlich? Ich fasse es nicht!«

»Ja, vor zehn Minuten hat er mit ihm gesprochen, gleich morgen soll er wiederkommen.«

»Aber ich denke, sie haben ihn rausgeschmissen, weil er was angestellt hat?«, wundere ich mich.

»War wohl nur ein Missverständnis, meinte Ralf. Alles Weitere will er mir zu Hause erzählen.« Nadine strahlt.

»Ich freu mich für dich, ehrlich!«

»Ist das zu glauben? Vor zwei Tagen sah alles noch total hoffnungslos aus, und mit einem Schlag ist alles wieder gut. Und weißt du, was das Beste ist?«

»Was denn?«

»Na ja, wir haben das auch mal ausprobiert.«

»Was habt ihr ausprobiert?«

»Die Sache mit dem Wünschen, von dem du erst mir und dann Ralf erzählt hast. Gestern Abend haben wir uns hingesetzt und aufgeschrieben, dass Ralf wieder eine Anstellung hat. Und heute ruft sein Ex-Chef an, ich glaub’s ja nicht!«

»Das ist in der Tat unglaublich.«

»Los!«, meint Nadine, schnappt sich ein Blatt Papier und einen Stift. »Lass uns sofort einen Lottogewinn wünschen! Und dann treten wir Roger in seinen blöden Hintern.«

»Gute Idee«, meine ich. »Wie viel gewinnen wir denn?«

Nadine denkt einen Moment lang nach. »Wenn schon, dann mit Jackpot und allem, finde ich. So dreißig Millionen, würde ich mal sagen.«

»Klingt gut.«

Nadine schreibt es auf, fünf Minuten lang starren wir auf die Zahl und visualisieren: mit einem Cocktail in der Hand auf unserer Privatyacht vor der Côte d’Azur, in langer Robe bei der Oscar-Verleihung (mit so viel Geld kann man sich da bestimmt einkaufen), auf dem Tennisplatz unseres Privatschlosses in Italien, beim Skifahren mit den Reichen und Schönen in Aspen – halt alles, was man sich so unter dem Leben von Multimillionären vorstellt.

»So«, stellt Nadine zufrieden fest. »Die Sache wäre dann ja wohl geritzt, jetzt können die Milliönchen kommen.«

»Äh«, werfe ich ein. »Meinst du nicht, dass da noch was fehlt?«

»Was soll denn da fehlen?«

»Na ja, ich denke, wir sollten schon noch einen Lottoschein ausfüllen und abgeben, sonst kann das kaum klappen.«

»Quatsch«, erwidert Nadine. »Das Gesetz der Anziehung soll mal zeigen, was es draufhat, und sich überlegen, wie wir unseren Lottogewinn kriegen, ohne dass wir gespielt haben. Wünschen für Fortgeschrittene, sozusagen.«

»Aha. Verstehe.«

»Sag mal, denkst du, du kommst hier heute alleine klar?«, will Nadine dann wissen.

»Sicher«, erwidere ich, »aber willst du schon gehen? Du bist doch eben erst gekommen.«

Nadine nickt und schnappt sich ihre Handtasche. »Stimmt schon«, stellt sie fest. »Aber Ralf hat mir gesagt, dass er Champagner kalt gestellt und ein paar Kerzen angezündet hat.«

»Es ist doch noch nicht einmal Mittag!«, werfe ich ein.

»Ja«, stimmt Nadine mir zu. »Aber wozu gibt es Vorhänge? Heute ist außerdem Ralfs letzter freier Tag, also sollte ich schleunigst nach Hause, damit wir … Du weißt schon: Familienplanung!«

»Bitte keine Details«, ziehe ich sie auf, »als Singlefrau bin ich am Sexualleben anderer nicht interessiert.«

»Keine Sorge«, meint Nadine, »wenn du erst einmal reich bist, werden die Heiratsschwindler sich mit Sicherheit um dich reißen.«

»Wie beruhigend!«