12. Kapitel
Um kurz nach sechs läutet es mehrfach kurz hintereinander an der Wohnungstür. Müde wälze ich mich vom Sofa, auf dem ich irgendwie eingeschlafen sein muss. Mein Blick fällt auf meinen Wunschzettel, der neben mir auf dem Boden liegt und wohl runtergefallen ist, als ich weggenickt bin. Ich habe mir für Nadine und Ralf gewünscht, dass alles wieder gut ist und Ralf bald in einer noch viel besseren Computerfirma arbeitet. Außerdem habe ich meiner Bitte, mich und meine Lieben in Zukunft mit Katastrophen und Rückschlägen zu verschonen, noch einmal Nachdruck verliehen und sie gleich fünfmal nacheinander aufgeschrieben. Bevor ich mir bei dieser ganzen Angelegenheit dann irgendwann doch dumm vorkommen konnte, hatte mich schon der Schlaf am Wickel.
»Drrring!« Wieder klingelt es an der Tür, dicht gefolgt von einem Klopfen. Nadine, schießt es mir durch den Kopf, wahrscheinlich ist sie nach der Arbeit einfach direkt zu mir gefahren. »Drrring!«
»Ja, ja, ich komm ja schon!« Eilig laufe ich zur Tür, reiße sie auf – und blicke NICHT in das hübsche Gesicht von Nadine. Sondern in die verknitterte und übellaunig dreinblickende Visage meines Vermieters Winfried Tiedenpuhl.
»Herr Tiedenpuhl!«, rufe ich überrascht aus. »Was, äh, gibt es denn?« Dabei ahne ich bei seinem Gesichtsausdruck, dass er nicht vorbeigekommen ist, um mit mir ein kleines Pläuschchen zu halten.
»Frau Schäfer«, fängt er an, »seit Tagen versuche ich, Sie zu erreichen, aber Sie machen nie die Tür auf.«
»Ja, ich, äh … Die Klingel war irgendwie kaputt«, rede ich mich raus. »Aber jetzt geht sie ja wieder.«
»Auf den Anrufbeantworter habe ich Ihnen auch gesprochen«, bellt er mich an. »Dreimal!«
»Ebenfalls kaputt«, lüge ich. In Wahrheit habe ich das Ding schon ewig nicht mehr abgehört. Und selbst wenn ich Tiedenpuhls Nachrichten gehört hätte, bezweifle ich doch stark, dass ich ihn zurückgerufen hätte.
»So?« Er mustert mich mürrisch. »Mit Ihren Augen ist dann offenbar auch etwas nicht in Ordnung, letzte Woche habe ich Ihnen nämlich noch einen Brief eingeworfen.«
»Haben Sie das? Der ist hier gar nicht angekommen.« Ich denke an den riesigen Stapel Post, den Stefan und ich auf den Küchentisch gelegt haben und der da immer noch ungeöffnet schlummert. Den wollte ich in den nächsten Tagen mal in Angriff nehmen, der Brief meines Vermieters liegt vermutlich irgendwo dazwischen.
»Ich habe ihn unter Ihrer Wohnungstür durchgeschoben«, teilt Tiedenpuhl mir mit, und seine Augen verengen sich zu zwei düsteren Schlitzen.
»Hm.« Ich zögere, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. »Vielleicht hat ihn … die … die Putzfrau verlegt?«
»Die Putzfrau?« Ich nicke, Tiedenpuhl blickt verwirrt drein. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann verzieht er sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Nun, Frau Schäfer, es freut mich, zu hören, dass Sie hier Personal beschäftigen. Dann können Sie mir mit Sicherheit ja auch die ausstehende Miete bezahlen.« Zack, da ist es, das böse, böse Wort »Miete«.
Ich ahnte schon, dass das über kurz oder lang auf mich zukommt. Eher über kurz, wie es gerade aussieht.
»Ausstehende Miete?«, gebe ich mich ahnungslos, obwohl mir natürlich klar ist, dass das keinen Sinn macht.
»Versuchen Sie nicht, mich für blöd zu verkaufen«, blafft mich Tiedenpuhl prompt an. »Sie wissen genau, dass Sie bereits mit zwei Monatsmieten im Rückstand sind!«
»Äh, echt? Zwei Mieten? Das kann eigentlich gar nicht sein.«
»Genau«, Tiedenpuhl nickt, »das sehe ich ebenso: Das kann eigentlich nicht sein, dass jemand meine Wohnungen besetzt.«
»Also«, gebe ich mich betont empört, »von ›besetzen‹ kann ja wohl keine Rede sein. Und von ›Wohnungen‹ schon gar nicht, ist ja nur eine und …« Ein böser Blick von ihm bringt mich zum Schweigen.
»Ich sag Ihnen mal was, Frau Schäfer – das hier ist ein Gewerbeobjekt. Wenn die Miete nicht pünktlich kommt, kann ich sofort kündigen. Glauben Sie mir, das werde ich auch tun, wenn Sie nicht endlich zahlen.«
»Aber, aber das können Sie doch nicht machen!«
»Und wie ich das kann. Ich bin schließlich nicht die Wohlfahrt.«
»Herr Tiedenpuhl«, sage ich und versuche, einen mitleider-regenden Ton anzuschlagen, »meine Cousine ist erst vor kurzem gestorben. Ich muss mir doch erst einmal einen Überblick über die finanzielle Lage verschaffen. Das geht nicht so schnell.«
Tiedenpuhl zuckt mit den Schultern. »Das tut mir natürlich leid mit Ihrer Cousine.« Tatsächlich wirkt er gerade nahezu betreten. »Glauben Sie mir, ich habe Fräulein Schäfer immer sehr gemocht und zu schätzen gewusst. Sie war eine angenehme Mieterin und hat nicht ein einziges Mal eine Zahlung versäumt.« Jetzt wandelt sich sein Blick von betreten zu bedauernd, und ich bin mir gerade ziemlich sicher, was er von dem anderen Fräulein Schäfer – also mir – als Mieterin hält. »Aber auch, wenn es mir wirklich sehr leidtut, kann ich auf meine Einnahmen nicht verzichten. Bisher stehen schon tausendachthundert Euro Miete aus, ich bin schließlich keine Bank!«
»Sie haben doch noch unsere Kaution«, werfe ich ein und freue mich, dass mir das trotz meiner Panik eingefallen ist.
»Ja«, gibt er mir recht. »Damit wären die zwei Monate gedeckt. Aber der nächste Erste steht vor der Tür – und was ist dann? Wie lange soll ich dann warten, bis Sie wieder flüssig sind? Wenn überhaupt, das kann ich ja nicht wissen. Am Ende stehe ich mit einem riesigen Verlust da. Nee, nee, Frau Schäfer, nicht mit mir. Entweder Sie zahlen sofort Ihren Rückstand, oder Sie müssen ausziehen.«
Mist, was mache ich nur? Wenn der mich wirklich rausschmeißt, wo soll ich denn hin? Aber tausendachthundert Euro habe ich auch nicht, so viel steht fest. Ich könnte meine Eltern fragen. Aber die würden darauf bestehen, dass ich wieder bei ihnen wohne. Da schlafe ich lieber unter einer Brücke, so viel ist sicher. Die Idee, die zwei vorderen Räume unterzuvermieten, ist auch nicht so schlecht, jedenfalls, wenn Tiedenpuhl dem zustimmt. Aber einerseits sagt mir gerade mein Bauch, dass dieser Moment nicht der optimale ist, um meinen Vermieter danach zu fragen, und andererseits geht das natürlich auch nicht so schnell, da muss ich erst einmal in Ruhe jemanden suchen. Fest steht: Ich brauche ein bisschen Zeit.
»Herr Tiedenpuhl, ich verstehe, dass Sie sauer sind. Aber ich verspreche, ich bringe das alles wieder in Ordnung. Könnte ich nicht erst einmal einen Teil bezahlen?«
Tiedenpuhl guckt unschlüssig. Dann kratzt er sich am Kopf. »Na gut«, willigt er gedehnt ein, »sagen wir, tausend Euro als Anzahlung.«
Utopisch! So wird das nichts.
»Also, ich hatte eher an zweihundert gedacht.« Die habe ich zwar auch nicht, aber vielleicht leiht mir Roger was. Der hat mir schließlich einen Teil des Unglücks eingebrockt.
»Zweihundert? Nee, das ist Quatsch. Unter achthundert kündige ich.«
»Vierhundert?« Ich gebe meinen schönsten Augenaufschlag.
Tiedenpuhl guckt noch unschlüssiger. Vermutlich überlegt er gerade, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er von mir noch die gesamte Summe und die nächsten Mieten bekommt. »Einverstanden«, spricht er die erlösenden Worte. »Sechshundert reichen fürs Erste. Aber spätestens Montag will ich das Geld haben, und für den Rest gebe ich Ihnen zwei Wochen.«
»Montag?«, rufe ich entsetzt aus. »Heute ist schon Donnerstag!«
»Ja«, stellt er fest, »und nächsten Mittwoch fängt ein neuer Monat an, da kommen dann noch einmal neunhundert Euro dazu.«
»Äh«, stottere ich, »ich könnte vielleicht …«
»Das ist mein letztes Wort«, unterbricht er mich. »Sechshundert am Montag und bis Mitte des Monats die restlichen Mietschulden sowie die neunhundert Euro für den Juni.«
»Einverstanden«, bringe ich ermattet hervor.
»Gut, Frau Schäfer«, er streckt mir seine schwielige Hand entgegen, »dann schlagen Sie ein.«
Ich schüttele seine Hand und gebe mir Mühe, einen möglichst selbstsicheren Eindruck zu machen. Innerlich hat aber schon längst die nackte Panik von mir Besitz ergriffen. Nie im Leben schaffe ich es, so viel Geld in so kurzer Zeit aufzutreiben. Noch während ich hinter meinem Vermieter die Tür schließe, versuche ich mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich ebenjene Tür nur noch von außen betrachten darf, weil ich mitsamt meinen Klamotten auf der Straße sitze.
Ich gehe in die Küche und koche mir einen Kaffee, dann setze ich mich hin, um meine Lage noch einmal in aller Ruhe zu durchdenken. Vielleicht könnte ich Onkel Jürgen und Tante Simone bitten, mir das Geld übergangsweise zu leihen. Aber das möchte ich eigentlich nur tun, wenn mir nun gar nichts ande
res einfällt. Sie in dieser Situation um Geld anzuhauen wäre mir sehr unangenehm, außerdem möchte ich nicht zugeben, dass mich ein Betrag von sechshundert Euro schon vor größere Probleme stellt. Wahrscheinlich denken die beiden, dass Kiki und ich uns die Miete immer schwesterlich geteilt haben.
Egal, was die beiden denken – im Grunde genommen ist es mir vor mir selbst peinlich, dass ich in meinem Alter so chronisch blank bin, ohne dafür einen einleuchtenden Grund zu haben. Ich muss das hier endlich mal alleine schaffen, es wird wirklich höchste Zeit, dass ich meine Probleme ohne fremde Hilfe in den Griff bekomme! Mist. Was mache ich nur? Bis Montag werde ich auch keinen potenziellen Mitbewohner auftreiben, und außer Prostitution fällt mir nichts ein, womit ich übers Wochenende so viel Geld verdienen könnte.
»Ach, Kiki«, seufze ich laut, »wenn du doch bloß noch hier wärst, du wüsstest bestimmt sofort eine Lösung.« Das heißt, wenn Kiki noch hier wäre, gäbe es diesen ganzen Schlamassel überhaupt nicht.
Nachdenklich wandere ich rüber ins Wohnzimmer, lasse mich aufs Sofa sinken und nippe an meinem Kaffee, obwohl mir momentan mal wieder eher nach Rotwein als nach Koffein wäre. Aber wenigstens da will ich standhaft bleiben, nachdem von meinem Plan von heute früh, das Ruder mit einem Ruck rumzureißen, nicht allzu viel übrig geblieben ist. Ich schnappe mir den Zettel mit meinen Wünschen. Keine Rückschläge und Katastrophen mehr, dass ich nicht lache! Wenn das hier keine Katastrophe und kein Rückschlag ist, weiß ich auch nicht, wie so etwas aussehen soll. Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken.
»Schäfer?«, melde ich mich.
»Ich bin’s, Nadine.« Schon wieder klingt sie erstickt, so als hätte sie gerade geweint.
»Und?«, versuche ich trotz meiner düsteren Stimmung ei
nigermaßen aufmunternd zu klingen. »Bist du für heute im Studio fertig?«
»Nicht nur für heute«, erklingt es vom anderen Ende der Leitung. Dann bricht Nadine, zum zweiten Mal an diesem Tag, in haltloses Weinen aus.
»Was soll das heißen, du brauchst ab sofort nicht mehr zu kommen?«
Eine Viertelstunde später sitze ich mit Nadine im »Alex« in der Osterstraße und habe uns – Vorsätze hin, Vorsätze her – erst einmal zwei Gläser Wein bestellt. Die Neuigkeiten meiner Kollegin sind ohne ein alkoholisches Kaltgetränk nun wirklich nicht zu verdauen.
»Das heißt, was es heißt«, erwidert sie. »Als ich mich vorhin verabschiedet habe, hat Roger mir erklärt, dass er mich nicht mehr beschäftigen kann und ich deshalb nicht mehr zu kommen brauche.«
»Aber wieso denn so plötzlich?«, wundere ich mich. »Der Laden muss doch in Anbetracht der Wetterlage ganz gut laufen.«
»Tut er auch. Aber Roger meinte, da du wieder da bist und jetzt auch am Umsatz beteiligt wirst, müsse er an anderer Stelle was einsparen. Tja, und diese andere Stelle bin dann wohl ich.«
»So ein Arschloch!«, rege ich mich auf. »Der denkt ja wohl nur an die Kohle! Aber ich sag dir was«, ich hole tief Luft, »da mache ich nicht mit! Gleich morgen früh gehe ich hin und sage ihm, dass ich dann auch nicht mehr für ihn arbeite.«
»Das ist doch Quatsch«, widerspricht Nadine. »Davon hat keine von uns was. Außer dass wir dann beide ohne Job dastehen.«
»Ist mir egal, für so einen Idioten will ich gar nicht mehr arbeiten.«
»Das ist wirklich sehr süß von dir, echt! Aber ich will nicht, dass du meinetwegen alles hinschmeißt.«
»Alles hinschmeißen?«, schnaube ich. »Was schmeiße ich
denn so Großartiges hin? Eine miese Arbeit für einen miesen Typen, das ist meiner Meinung nach kein besonders großer Verlust.«
»Immerhin wirst du am Umsatz beteiligt, und in den letzten Wochen hat der Laden richtig gebrummt, da wird schon was zusammenkommen.«
»Trotzdem«, meine ich, »so einfach können wir Roger nicht davonkommen lassen.« Ich denke einen Moment nach. »Und überhaupt, was ist denn mit den Kunden, die sich von dir immer die Nägel haben machen lassen? Das kann ich wohl kaum übernehmen.«
»Ach, die«, Nadine macht eine wegwerfende Handbewegung, »du weißt doch selbst, dass so gut wie niemand diesen Zusatzservice«, sie spricht das Wort betont ironisch aus, »in Anspruch genommen hat. Die meiste Zeit war ich ja mehr mit meinen eigenen Nägeln beschäftigt.« Sie lächelt und hält mir ihre frisch manikürten Hände vor die Nase – heute sind sie extralang und mit einem wilden Blumenmuster verziert. Ich verzichte darauf, meine modische Meinung dazu abzugeben, denn das wäre wohl kaum der richtige Zeitpunkt dafür.
»Wie wäre es denn«, denke ich weiter laut nach, »wenn ich Roger sage, dass ich auf die Umsatzbeteiligung verzichte, damit du weiter bei ihm arbeiten kannst?«
»Aber dann bekommst du ja auch wieder nur diesen miesen Stundenlohn«, gibt Nadine zu bedenken. Trotzdem höre ich, wie ein kleines bisschen Hoffnung in ihrer Stimme mitschwingt.
»Ach«, sage ich, »bloß weil in den letzten Wochen schlechtes Wetter war, heißt das nicht, dass es weiterhin so bleibt. Vielleicht wird es ja doch noch richtig Sommer, und dann stehe ich plötzlich wieder ganz blöd da.«
»Hm, ich weiß nicht«, meint Nadine zögerlich. »Ich will auch nicht, dass du für mich auf eine Chance verzichtest.«
»Also, eine sooo großartige Chance ist das nun wirklich nicht. Außerdem hast du schon recht, dass ich mir auf Dauer etwas anderes suchen sollte. Sobald ich eine Alternative habe, bin ich eh weg.«
»Meinst du wirklich?« Ich nicke. »Ach, Maike!« Sie springt auf, fegt dabei fast ein Weinglas vom Tisch und fällt mir um den Hals. »Das ist so lieb von dir, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Schon fängt sie erneut an zu schluchzen.
»Ist doch kein Problem«, sage ich und tätschele ihr mit einer Hand den Rücken. »In solchen Zeiten muss man zusammenhalten.« Nadine setzt sich wieder auf ihren Platz und seufzt.
»Was für Zeiten das sind!«, stellt sie fest. »Wenn ich an den ganzen Horoskop-Unsinn glauben würde, würde ich denken, die Sterne stehen für uns gerade nicht sonderlich gut.«
»Das kannst du laut sagen.« Mit einem Mal spüre ich, wie mir ebenfalls die Tränen in die Augen steigen, weil ich plötzlich ganz stark an meine Cousine denken muss. Kiki, mit ihrem unerschütterlichen Glauben ans Schicksal, mit ihrem Zweckoptimismus, der sie nie daran zweifeln ließ, dass selbst die größten Rückschläge für irgendetwas gut sind. Bei dem Gedanken muss ich kichern. Keine Katastrophen und Rückschläge mehr, das hat ja super geklappt.
»Was ist so lustig?«, will Nadine wissen.
»Ach, nichts Besonderes«, meine ich und spiele dabei gedankenverloren mit dem Bettelarmband an meinem Handgelenk.
»Du trägst das Armband wieder, das Kiki dir geschenkt hat?«
Ich nicke. »Ja, Stefan war gestern da, hat mir geholfen, in der Wohnung Klarschiff zu machen, und dabei das Armband unter Kikis Bett gefunden.« Ich erinnere mich an meinen Geburtstag, als ich es ihr vor die Füße gepfeffert habe und anschließend zu Nadine abgerauscht bin. Scheint schon eine Ewigkeit her zu sein, so viel ist seit diesem Abend passiert.
Dann erzähle ich Nadine, die bisher nur wusste, dass ich mich mit Kiki wegen Stefans geplantem Einzug gestritten hatte, die ganze Geschichte. Denn den Teil, dass ich durch mein ständiges Gejammer und meine Schwarzseherei wohl auch alles andere als eine angenehme Gesellschaft war, habe ich damals natürlich weggelassen und mich lediglich in selbstgerechtem »Die Welt ist so gemein zu mir« gesuhlt. Natürlich hatte Nadine mir recht gegeben, dass es wirklich nicht nett ist, wenn Kiki und Stefan hinter meinem Rücken Pläne schmieden, die mich auch betreffen. Davon, dass Kiki aus Rücksichtnahme noch warten wollte, bis es mir wieder bessergeht, habe ich kein Sterbenswörtchen erwähnt.
Als ich Nadine jetzt erzähle, wie Kiki immer versucht hat, mir zu helfen, und mir deshalb die Sache mit dem Gesetz der Anziehung erklärt, das Wunschbuch und das Bettelarmband geschenkt hat – da komme ich mir auf einmal umso mieser und schlechter vor, weil ich damals so ausgeflippt bin und mich nur noch um mich selbst gedreht habe, völlig gleichgültig, wie es den Menschen in meinem Umfeld so geht.
»Also«, meint Nadine, als ich – mittlerweile in Tränen aufgelöst – am Ende meines Berichts über die Geschehnisse vor Kikis Tod angelangt bin, »zum einen muss ich dir widersprechen: Du bist gar nicht so ekelhaft, wie du dich selbst gerade darstellst.«
»Bin ich doch«, stelle ich trotzig fest.
»Bist du nicht«, widerspricht Nadine. »Vergiss zum Beispiel nicht, dass du mir zuliebe bei Roger wieder zurückstecken willst.«
»Auch das ist nicht wirklich selbstlos«, meine ich. »Schließlich würde ich durchdrehen, wenn ich mit diesem Idioten allein wäre und nicht mal mehr dich hätte.« Ich lächle sie schief an. »Eben doch ganz schön egoistisch.«
»Quatsch.« Sie nimmt meine Hand und drückt sie.
Ich seufze. »Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass ich
immer daran denken muss, dass ich als Letztes zu Kiki gesagt habe, dass sie mich wohl für einen lästigen Parasiten hält und mir bloß nicht nachkommen soll.« Ich schluchze. »Ich konnte es nicht einmal zurücknehmen und ihr sagen, dass ich es so nicht gemeint habe und dass ich ihr dankbar bin für alles, was sie für mich tut.«
»Ich bin sicher, das hat sie gewusst«, meint Nadine.
»Aber woher denn?«
»Wir alle tun und sagen manchmal Dinge, die uns hinterher leidtun, das ist nur menschlich.« Für einen kurzen Moment verdüstert sich ihre Miene. »Wer weiß, vielleicht wird es Ralf auch schon bald leidtun, dass er sich im Moment so idiotisch verhält.«
»In dem Fall bin ich sogar sicher«, werfe ich ein.
»Tja, das werden wir ja noch sehen. Jedenfalls solltest du dir keine Vorwürfe mehr machen. Kiki hat dich mit Sicherheit genauso geliebt wie du sie, daran wird euer Streit nichts geändert haben.«
»Meinst du?«, frage ich und klinge dabei wie eine verunsicherte Zwölfjährige.
»Absolut.«
Ich spiele wieder mit meinem Bettelarmband herum. »Ich hoffe es. Ich hoffe, dass Kiki irgendwo da oben jetzt auf einer Wolke sitzt und zu mir runtersieht.«
»Das macht sie bestimmt.«
»Ja«, ich muss lächeln, »und wahrscheinlich schüttelt sie den Kopf darüber, was hier unten schon wieder alles los ist.« Dann berichte ich Nadine noch von meinem Gespräch mit Herrn Tiedenpuhl und dass er mich aus der Wohnung schmeißen will, wenn ich bis Montag nicht sechshundert Ditscher auftreibe.
»Oh«, kommentiert Nadine, »das ist echt eine Menge Geld.«
»Ich hab auch keine Ahnung, wie ich es auftreiben soll. Mit
dem Wünschen hat es jedenfalls nicht wirklich geklappt. Im Gegenteil, meine Situation ist beschissener denn je, und noch dazu scheint in meinem Umfeld auch nicht alles ganz rund zu laufen. Für wen auch immer diese Gesetze der Anziehung funktionieren – ich persönlich scheine dagegen immun zu sein.«
»Na ja, ehrlich gesagt halte ich so was für ähnlichen Quatsch wie Horoskope. Da stimmt auch nie was.«
»Aber Kiki war davon so dermaßen überzeugt! Und sie selbst war der beste Beweis dafür, dass es offenbar doch funktioniert.«
»Das ist kein Beweis. Es gibt eben Menschen, die Glück haben, und solche, die vom Pech verfolgt werden.«
»Da liegst du vermutlich richtig. Aber weißt du …« Ich suche nach den richtigen Worten. »Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin es Kiki schuldig.«
»Was bist du ihr schuldig?«
»Na, dass ich es weiter probiere. Dass ich an sie glaube und … ach, ich weiß auch nicht. Verstehst du, was ich meine?«
Nadine nickt. »Ja. Das verstehe ich.«
Um kurz vor zehn komme ich wieder bei mir zu Hause an und finde einen Brief, den jemand unter der Tür durchgeschoben hat. Eine Gesprächsnotiz von Herrn Tiedenpuhl, der noch einmal gemäß dem Motto »Wer schreibt, der bleibt« unsere Vereinbarung, dass ich bis Montag sechshundert Euro zahle und dann den Rest bis Mitte des Monats, in kurzen Stichworten festgehalten hat.
»Danke, Herr Tiedenpuhl«, murmele ich vor mich hin, zerknülle den Brief und befördere ihn in den Papierkorb neben der Wohnzimmertür, »ich hätte sonst glatt vergessen, dass Sie mich auf die Straße setzen, wenn ich das nicht schaffe.« Matt lasse ich mich aufs Sofa sinken, greife nach dem Telefon vor mir auf dem Couchtisch und wähle die Nummer vom Sonnen
studio. Ich habe Glück, Roger ist noch da und nimmt den Anruf entgegen. In kurzen Worten erkläre ich ihm, dass ich auf meine Umsatzbeteiligung verzichte, wenn Nadine weiterhin im Studio arbeiten darf.
Er ist zwar überrascht, willigt aber ein. »Okay«, meint er, »wenn ihr das so wollt, mir soll es recht sein.«
»Gut, dann machen wir das so. Und, sag mal, könntest du vielleicht …«
»Vielleicht was?«
»Könntest du mir vielleicht einen Vorschuss zahlen?«
»Einen Vorschuss?«
»Dadurch, dass ich länger nicht mehr gearbeitet habe, bin ich ein bisschen in der Bredouille.«
»Wie viel brauchst du denn?«
»So sechshundert Euro?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann ein deutliches »Sorry, das ist echt nicht drin. Fünfzig Euro, darüber könnten wir reden, aber mehr auf keinen Fall«.
»Hm, tja, das bringt mir nicht wirklich viel.« Einen Versuch war es immerhin wert.
»Wer von euch kommt denn nun morgen?«, will Roger noch wissen. »Du oder Nadine?«
»Vormittags Nadine, nachmittags ich«, erkläre ich. »Ich sag ihr Bescheid.«
»Gut. Dann bis morgen.«
»Ja, bis morgen.«
Ich lege auf und schreibe eine SMS an Nadine, dass alles klargegangen ist und sie morgen früh arbeiten soll. Zwei Sekunden später schickt sie ein »Supi, danke!« zurück.
Ich lehne mich müde gegen die Rückenlehne des Sofas und schließe für einen Moment die Augen. Das wäre schon einmal geregelt. Als ich die Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf das Bild, das Kiki irgendwann mal neben der großen Zimmerpflan
ze hinten rechts in der Ecke aufgehängt hat. Das heißt, Bild ist eigentlich nicht richtig, es ist ein Sinnspruch:
Was der Geist ersinnen kann,
das kann er auch erreichen.
W. Clement Stone (1902–2002)
Wirklich überaus passend, dieser Spruch! Denn wenn ich mal darüber nachdenke, was ich bisher so erreicht habe, dann müsste man schon ein sehr großer Zweckoptimist sein, um nicht zu dem Ergebnis zu gelangen, dass in meinem Leben momentan alles mehr als im Argen liegt. Nicht in meinen schlimmsten Träumen hätte ich gedacht, dass ich mal an so einen Tiefpunkt geraten würde. Denn genau genommen hat sich alles nur zum Negativen verändert. Kiki ist tot, ich habe immer noch einen schlechtbezahlten Job und hocke in einer Wohnung, die ich mir nicht leisten kann. Nachdenklich nehme ich meinen Wunschzettel in die Hand, der nach wie vor auf dem Tisch vor mir liegt. Frustriert lese ich, was ich zuletzt aufgeschrieben habe.
Keine Katastrophen und Rückschläge mehr. Weder für mich noch für meine Freunde!
Fünfmal untereinander und mehrfach dick unterstrichen. Ratlos betrachte ich den Satz so lange, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen. Und dann ist es mir plötzlich sonnenklar!
»Maike Schäfer«, rufe ich laut, »du bist echt der größte Hornochse, den man sich vorstellen kann!« Was hatte Kiki mir er-klärt? Keine negativen Formulierungen wie »nicht« oder »kein«, denn das versteht das Universum nicht und liefert das Gegenteil. »Ich hab’s genau falsch gemacht!«, ärgere ich mich über mich selbst. Dann halte ich einen Moment inne – aber bedeutet
das nicht auch, dass es wirklich funktioniert? Ich habe mir Katastrophen und Rückschläge gewünscht, und – zack! – sofort kamen mit Herrn Tiedenpuhl, Nadine, Ralf und der Tatsache, dass ich wieder bei sieben Euro fünfzig die Stunde angelangt bin, jede Menge Katastrophen und Rückschläge. Unglaublich! Okay, vielleicht nur ein Zufall. Vielleicht aber auch nicht.
Aufgeregt schnappe ich mir den Kuli, der auf dem Tisch liegt, nehme ein neues Blatt Papier – meinen alten Wunschzettel befördere ich in hohem Bogen zu Tiedenpuhls Liebesbrief in den Papierkorb, da können sie es sich zusammen gemütlich machen – und fange mit Feuereifer an, eine neue Liste mit den wichtigsten Punkten zu schreiben:
- 1.
Ich habe einen tollen Job, bin glücklich und verdiene gutes Geld.
- 2.
Alle in meinem Freundeskreis sind glücklich, gesund und zufrieden. Speziell Nadine und Ralf geht es klasse, sie sind wieder zusammen, er arbeitet wieder.
- 3.
Ich habe sechshundert Euro und bezahle damit Herrn Tiedenpuhl. Auch sonst kann ich die Miete immer problemlos überweisen.
Ob Punkt drei nun mit Hilfe von Mitmietern klappt oder wie auch immer, das lasse ich jetzt einfach mal offen. Denn wie ich das hinkriege, ist mir eigentlich egal. Hauptsache, es klappt.
- 4.
Mein Traummann kniet vor mir nieder.
Okay, dieser Wunsch ist jetzt nicht der wichtigste, vielleicht sollte ich ihn daher fürs Erste weglassen. Aber irgendwie konnte ich ihn mir nicht verkneifen, und wenn es mit der Bestellung von Katastrophen klappt, dann doch wohl hoffentlich auch mit Traummännern.
Als ich fertig bin, konzentriere ich mich noch einmal ganz stark auf den Sinnspruch, reibe das Goldstück an meinem Armband zwischen Daumen und Zeigefinger und stelle mir ganz deutlich vor, wie ich Tiedenpuhl am Montag die Kohle überreiche. Ein schönes Gefühl, allein dabei muss ich lächeln. Vor allem, als ich mir auch noch seine überraschte Visage vorstelle, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Vermieter insgeheim damit rechnet, dass er mir Montag die Kündigung in die Hand drücken wird.
Also, liebes Anziehungsgesetz, das ist mein letzter Versuch, leg los. Und, Kiki: Falls du da oben wirklich auf einer Wolke sitzt und mir zuschaust – du darfst gern ein bisschen mithelfen, damit hier alles ins Lot kommt. Wieder streiche ich über das Armband. »Ich denke an dich, mein Goldstück«, flüstere ich – Minuten später bin ich auf dem Sofa eingenickt.