26. Kapitel
Ich verbringe das gesamte Wochenende mit Daniel bei mir zu Hause, wir gehen kaum vor die Tür. Wie gut, dass ich vorher mit Stefan noch aufgeräumt und geputzt habe, sonst wäre mir der Zustand meiner Wohnung vor Daniel mit Sicherheit peinlich gewesen, vor allem, weil bei ihm zu Hause immer alles picobello ist. Andererseits scheint Daniel ohnehin keine Augen für etwas anderes als mich zu haben, ständig nimmt er mich in den Arm, küsst mich und sagt mir, wie sehr er mich liebt – es ist absolut traumhaft.
Das heißt, es wäre noch viel traumhafter, wenn nicht diese eine Sache wie ein Damoklesschwert ständig über mir schweben würde: die Frage, wie und wann ich ihm schonend alles sagen kann, ohne dass er komplett ausrastet. Vor allem, nachdem jetzt schon seine Schwester misstrauisch ist. Auch wenn sie gesagt hat, dass sie mir vertraut – ich erkenne eine skeptische große Schwester, wenn ich eine vor mir habe, und ganz sicher würde Dorothee alles tun, um ihren Bruder zu beschützen. Nach der kleinen Begegnung mit Sarah kann ich das auch durchaus verstehen, denn jetzt ist mir klar, was Daniels Schwester mit ihrer Andeutung gemeint hat, dass er es verdient hat, glücklich zu sein. Argh! Was für eine ausweglose Situation, mir muss einfach endlich was einfallen! Aber egal, wie ich es drehe und wende, mir will einfach keine gescheite Lösung in den Sinn kommen. Mein Wunschzettel, der noch immer in Kikis Schreibtisch liegt, scheint seinen Job auch nicht richtig ernst zu nehmen, denn das Wunder, auf das ich warte, bleibt schlicht und ergreifend aus.
Am Samstagnachmittag, während Daniel im Wohnzimmer HSV gegen Werder Bremen guckt – zwischendurch höre ich ihn immer mal wieder laut aufschreien und fluchen –, hole ich
den Zettel noch einmal heimlich hervor, um sicherzugehen, dass ich beim Aufschreiben nicht schon wieder einen dämlichen Fehler gemacht habe und deshalb vergebens auf die Hilfe der Anziehungsgesetze warte.
Ich bin mit Daniel Unverzagt zusammen. Mittlerweile weiß er, dass ich Maike Schäfer heiße, und findet das völlig okay.
Ich lese den Satz wieder und wieder, vermag aber nichts zu finden, was ich falsch formuliert haben könnte. Keine negative Aussage, kein gar nichts – was also bitte treibt das Universum da draußen? Ist es etwa mit wichtigeren Fällen beschäftigt? »Hallo, Universum«, blöke ich es an, »ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas Wichtigeres gibt, als dafür zu sorgen, dass der Mann, den ich liebe, mich nicht wieder verlässt!« Ich zögere einen kurzen Moment, dann gehe ich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Knie. Ich knie auf dem Boden in Kikis Büro, habe die Hände wie zum Gebet gefaltet und flüstere vor mich hin: »Bitte, bitte! Erfüll mir diesen einen Wunsch! Ich wünsche es mir so sehr!« Einen Augenblick lang verharre ich in dieser Position, dann stehe ich wieder auf.
So, jetzt habe ich dem Universum aber wirklich gezeigt, wie verzweifelt ich bin und wie dringend ich seine Hilfe brauche, finde ich. Wenn es nun nicht in die Hufe kommt, dann … ja, dann weiß ich auch nicht. Ich setze mich an Kikis Schreibtisch und betrachte seufzend meinen Wunsch.
»Kiki, wo bist du denn?«, höre ich Daniel quer durch die Wohnung brüllen.
»Im Büro«, rufe ich und verstaue meinen Wunschzettel eilig in der Schublade.
»Was machst du denn da?«
»Räume hier vorn nur ein bisschen für nächste Woche auf, ich komme gleich!«
»Beeil dich«, tönt es zurück, »hier gibt’s gleich ein Elfmeterschießen, das ist spannend!«
Ich schließe die Augen und lehne mich auf Kikis Bürostuhl zurück. Kann es nicht einfach so bleiben? So ein ganz normales Wochenende bei einem ganz normalen Pärchen, der Kerl guckt Fußball, sie räumt ein bisschen auf (okay, das ist jetzt ein heftiges Klischee – aber in meiner momentanen Lage kommt es mir vor wie der Himmel auf Erden), und beide genießen einfach die Zweisamkeit? Mehr will ich doch gar nicht, das ist alles, was ich mir wünsche!
Ich höre die Türklingel vorn in der Wohnung und fahre zusammen. Hektisch springe ich auf, jetzt bloß kein Spontanbesuch von irgendwelchen Leuten, die mich kennen!
»Ist für mich«, ruft Daniel mir zu, »ich hab mir ’ne Pizza bestellt, du wolltest ja nichts.«
Ich halte in meinem Sprint inne, was für ein Glück, nur das Pizzataxi.
»Nee, doch nicht«, erklingt Daniels Stimme eine Minute später, »hier will jemand zu ’ner Maike.«
Maike?! Ich haste wieder los und stürze in den Flur. Kaum bin ich angekommen, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Gunnar! Gunnar? Was zum Teufel will Gunnar hier? Ehe ich etwas sagen kann, kommt Gunnar auf mich zugestürzt und rennt dabei fast den verdatterten Daniel um, der sich mit einem schnellen Sprung zur Seite rettet.
»Maike!«, ruft Gunnar aus und hat mich im selben Moment schon in seine Arme gerissen.
Er vergräbt seinen Kopf an meiner Schulter, und an ihm vorbei registriere ich das sehr, sehr verwunderte Gesicht meines Freundes. Ein Fragezeichen ist nichts dagegen, an seinem Blick kann ich komplette Ratlosigkeit ablesen. Ich dagegen bin wie zur Salzsäule erstarrt, eine Art Schreckstarre hat von mir Besitz ergriffen. Noch dazu hält Gunnar mich dermaßen fest
umklammert, dass ich mich ohnehin nicht rühren könnte. Also, selbst wenn ich es könnte.
»Maike«, schluchzt er jetzt, und ich wünschte, er würde diesen vermaledeiten Namen nicht noch einmal aussprechen. »Ich hab’s eben gerade erst erfahren, das ist ja schrecklich!«
In diesem Moment ist mir klar, was los ist – irgendjemand muss Gunnar von Kikis Tod erzählt haben. Ich räuspere mich.
»Ja, es ist furchtbar, aber leider wahr«, bringe ich hervor.
Gunnar schiebt mich ein Stück von sich weg und mustert mich eindringlich. Im Hintergrund sehe ich immer noch Daniel, dessen Mund mittlerweile offen steht.
»Ich hab zufällig Nadine getroffen, die hat es mir erzählt. Warum hast du dich denn nicht bei mir gemeldet?« Ein leichter Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit.
»Du hast mir untersagt, das zu tun«, erinnere ich ihn.
»Aber doch nicht, wenn so etwas passiert!«, regt Gunnar sich auf. »Herrje, Maike«, schon wieder dieser Name! »Hältst du mich denn für einen Unmenschen? Ist doch wohl klar, dass ich in dieser Situation sofort für dich da gewesen wäre! Ich meine, ich weiß doch, wie sehr du Ki…«
»Lass uns nach nebenan gehen«, unterbreche ich Gunnar und schiebe ihn Richtung Büro, ehe er noch mehr Unheil anrichten kann. Zu Daniel rufe ich: »Bin gleich wieder da.«
Der steht immer noch völlig verdattert im Flur und weiß offenbar nicht, was er von der ganzen Sache halten soll. Das weiß ich zwar gerade auch nicht, aber mir ist klar, dass ich mal wieder knapp an einer Katastrophe entlangschramme.
»Lieb, dass du vorbeischaust«, meine ich, als Gunnar und ich allein in Kikis Büro sind. »Aber es wäre wirklich nicht nötig gewesen, mir geht es mittlerweile wieder ganz gut.«
»Das sehe ich«, erklärt Gunnar und klingt dabei irgendwie … ungehalten. »Wer ist denn der Kerl, der mir geöffnet hat?«
»Ich dachte, du seist gekommen, um mir dein Mitgefühl auszudrücken?«
»Bin ich auch«, erwidert er maulig. »Aber ich habe nun wirklich nicht damit gerechnet, dass mir irgendein Typ aufmacht.«
»Tja«, antworte ich lapidar, »ich habe damals auch nicht damit gerechnet, dass du mit irgendeiner anderen Tussi nach Venedig fliegst.«
»Wer sagt denn, dass ich da mit einer anderen Tussi war?«
Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. »Etwa nicht? Du bist also ganz allein durch die Straßen Venedigs gewandert?«
»Nein«, gibt er schließlich zu. »Aber das hat sich längst erledigt«, erklärt er dann. »Trotzdem frage ich mich, weshalb du mich nicht angerufen und mir erzählt hast, was mit Kiki passiert ist. Ich kannte sie immerhin auch recht gut.«
»Gunnar«, meine ich, »du kanntest sie über mich. Aber sie war keine enge Freundin von dir.«
»Das nicht«, gibt Gunnar mir recht, »aber ich hätte wenigstens für dich da sein können.« Ich seufze.
»Das ist echt lieb von dir. Glaub mir, ich hab’s auch so ganz gut geschafft.«
»Echt?«, stellt Gunnar verwundert fest. »Das wäre, ehrlich gesagt, das erste Mal, dass du etwas schaffst, ohne Gott und die Welt zu bemühen.«
Ich stutze. »So siehst du mich?«, frage ich nach.
Er zuckt mit den Schultern. »Das weißt du doch selbst, oder?«
»Was weiß ich selbst?«
»Während wir zusammen waren, hast du immer alles auf mir abgeladen«, erklärt er. »Egal ob du schlechte Laune hattest, dein Studium mal wieder scheiße lief oder dein Job dich angenervt hat – immer ist alles bei mir gelandet.«
»War das so?«, frage ich nach.
»Schon irgendwie. Deshalb war auch irgendwann der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr konnte.«
Ich muss fast ein bisschen schmunzeln. »Weißt du«, meine ich dann, »seitdem ist ganz schön viel passiert, ich habe das Gefühl, eine andere zu sein.«
Er betrachtet mich nachdenklich. »Hm«, sagt er dann. »Du scheinst dich tatsächlich sehr verändert zu haben, siehst sogar irgendwie anders aus.«
»Hab ich gar nicht so sehr«, meine ich. »Aber um mich herum hat sich ziemlich viel verändert.«
»Das kann ich mir vorstellen«, antwortet Gunnar. »Und es geht dir wirklich gut?«
Ich nicke. »Ja. Ich bin beinahe … glücklich.«
»Was heißt beinahe? Bist du mit dem da draußen …«
»Ja«, unterbreche ich ihn. »Der da draußen heißt Daniel, und ich bin sehr verliebt in ihn.«
Gunnar scheint einen Moment zu überlegen. »Warum bist du dann nur beinahe glücklich?«
Ich seufze. »Na, zum einen habe ich natürlich noch daran zu knabbern, was mit Kiki passiert ist, ist ja klar.«
»Und zum anderen?«
Täusche ich mich, oder klingt da so etwas wie Hoffnung in Gunnars Stimme mit? Ist er am Ende vielleicht doch nicht nur gekommen, um mir zu kondolieren, sondern hat darauf spekuliert, dass ich ihm sofort wieder ergriffen in die Arme sinke? Sorry, Gunnar, denke ich, dafür bist du ein kleines bisschen zu spät. Denn seit ich Daniel kenne, weiß ich, dass du mit deiner Einschätzung damals gar nicht so falschlagst: Wir passen einfach nicht zueinander.
»Was das andere betrifft, ist es keine einfache Geschichte«, erkläre ich dann. »Und die Tatsache, dass du gerade hier aufgetaucht bist, macht sie vermutlich nicht einfacher.«
»Wieso?« Immer noch dieser hoffnungsvolle Ton.
»Nein, es hat nichts damit zu tun, dass Daniel jetzt eifersüchtig sein müsste oder so.«
»Verstehe.« Auf einmal klingt er nicht mehr hoffnungsvoll. »Ich wollte halt nur … ich wollte dir bloß sagen, dass ich auch noch für dich da bin, selbst wenn wir nicht mehr zusammen sind.«
»Das ist lieb von dir«, sage ich ein weiteres Mal, gehe auf Gunnar zu und nehme ihn in den Arm. »Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Einen Moment lang stehen wir einfach nur so da.
»Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen?« Er formuliert es als Frage, aber es klingt wie eine Feststellung.
»Ja, das solltest du wohl. Ich rufe dich die Tage mal an.«
»Mach das, gern und jederzeit«, erwidert er. Dann fügt er hinzu: »Du bist nämlich jemand, der mir wichtig ist und am Herzen liegt. Auch wenn es mit uns als Paar nicht funktioniert hat.«
»Es ist schön, das zu hören.« Das ist tatsächlich wahr. Habe ich ihm vor wenigen Monaten noch gewünscht, dass ihm die Sackhaare einzeln ausfallen, haben sich die Dinge mittlerweile extrem relativiert. Mit Gunnar und mir hat es nicht geklappt, so what? Es gibt so viel wichtigere Dinge im Leben, wie ich heute weiß.
»Also, ich geh dann jetzt mal«, sagt Gunnar. »Nehme wohl am besten den Büroausgang, oder?«
»Ja. Das ist besser.« Ich bringe ihn zur Tür.
Kurz davor bleibt er noch einmal stehen und dreht sich zu mir um. »Weißt du«, sagt er, »ich meine das ganz ehrlich: Wenn du mich brauchst oder ich etwas für dich tun kann, melde dich.«
»Ich komme darauf zurück.«
Dann geht er, und ich schließe hinter ihm die Bürotür ab.
Daniel sitzt wieder vorm Fernseher, als ich zu ihm ins Wohnzimmer komme. Der HSV hat das Elfmeterschießen offenkun
dig verloren, jedenfalls weist der enttäuschte Tonfall des TV-Reporters darauf hin. Ich lasse mich neben Daniel plumpsen, kuschele mich an ihn und registriere erfreut, dass er einen Arm um mich legt.
»Lass mich raten«, sagt er, »das war wieder ein Freund mit Problemen?«
»Nicht ganz«, sage ich. »Das war einfach nur ein Freund.«
Daniel gibt einen unverständlichen Brummlaut von sich. »Dann erklär mir nur eines«, kommt es schließlich. »Weshalb nennt er dich Maike?«
»Weil das mein Name ist«, erwidere ich resigniert. Ich kann einfach nicht mehr, bald ist sowieso alles vorbei.
»Dein Name?«, kommt es prompt.
»Mein erster Vorname«, höre ich mich selbst sagen, ohne dass ich weiß, warum ich das tue. Ich könnte ihm doch jetzt alles erklären, warum mache ich es nicht? Die Angst, flüstert mir die mittlerweile schon wohlbekannte Stimme aus meinem Innern zu. Es ist die Angst, dass du ihn verlieren könntest. »Den habe ich noch nie gemocht, deshalb benutze ich seit Jahren meinen zweiten Vornamen. Nur ganz alte Freunde nennen mich noch Maike.«
»Ich finde Maike eigentlich auch völlig okay«, stellt Daniel fest. »Aber wenn du den Namen nicht magst, nenne ich dich natürlich weiterhin Kirsten.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn – und in meinem Herzen geht es wieder drunter und drüber.
Warum bin ich eigentlich so ein feiges Weichei?
Ich bin mit Daniel Unverzagt zusammen. Mittlerweile weiß er, dass ich Maike Schäfer heiße, und findet das völlig okay.
Oh, nein! Als ich diesen Wunsch aufgeschrieben habe, habe ich es doch vollkommen anders gemeint!