25. Kapitel
Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid!« Wieder und wieder stammelt Dorothee Entschuldigungen in Richtung Stefan, während sie, von mir gestützt, zurück zum Büro humpelt. »Ich verstehe das nicht, ich hab Sie einfach überhaupt nicht gesehen!«
»Das habe ich gemerkt«, zischt Stefan, der uns hinkend folgt. »Sie sind ja buchstäblich in mich hineingelaufen!«
»Es tut mir so leid«, wiederholt Dorothee nun noch einmal.
»Davon habe ich jetzt auch nichts«, blökt Stefan, »ich habe mir mit Sicherheit den Knöchel verstaucht!«
»Stefan!«, weise ich ihn energisch zurecht. »Jetzt hör aber mal auf, sie hat sich doch schon entschuldigt!«
Tatsächlich hört er mit seiner Schimpferei auf, hilft mir sogar, Dorothee abzustützen, während ich die Tür aufschließe, und bugsiert sie dann gemeinsam mit mir in einen der Sessel. Das alles läuft bei mir wie automatisch ab, ohne dass ich groß darüber nachdenke. Denn momentan sind meine grauen Zellen mit etwas völlig anderem beschäftigt: Was will Stefan denn schon hier? Und wie kann ich verhindern, dass er und Dorothee sich jetzt gleich miteinander unterhalten?
»Tut mir wirklich ganz schrecklich leid«, sagt Dorothee noch einmal, als würde sie gerade ein Mantra beten, und bedenkt Stefan mit einem zerknirschten Blick.
Schlagartig werden seine Gesichtszüge weicher, sogar so etwas wie ein Lächeln zeigt sich. »Ach, na ja«, erwidert er, »ist nicht so schlimm, ich hätte natürlich auch besser aufpassen müssen.«
»Nein, das stimmt nicht«, widerspricht Daniels Schwester, »Sie haben schon vollkommen recht, ein Fußgänger hat auf dem Radweg nichts zu suchen.«
»Ist ja kein Drama«, ist es nun wieder an Stefan, alles herunterzuspielen. »Fühlt sich auch gar nicht mehr so schlimm an, war wohl nur der erste Schreck.« Er deutet auf seinen Knöchel.
»Trotzdem! Ich bin an der ganzen Sache schuld, und ich werde natürlich …«
»So«, unterbreche ich die beiden, bevor sie sich gegenseitig in ihren Schuldanerkenntnissen übertreffen, »ich glaube, die Hose ist hin.«
Dorothee wirft einen Blick auf ihr linkes Knie. Tatsächlich hat ihre Jeans an dieser Stelle ein Loch, und ein bisschen Blut sickert durch den Stoff.
»Sie bluten ja!«, ruft Stefan erschrocken aus.
»Ist nicht so schlimm«, meint Dorothee, »nur eine kleine Schürfwunde.«
»Aber …«, setzt Stefan wieder an.
»Stefan«, gehe ich dazwischen, »bist du so lieb und holst aus dem Bad in der Wohnung ein großes Pflaster? Im Alibert müsste eine Packung stehen.«
»Ja, natürlich«, versichert er und flitzt pflichtschuldigst davon.
»Hör zu«, wende ich mich sofort flüsternd an Dorothee und merke, wie ich mal wieder – wie schon so oft in letzter Zeit – Blut und Wasser schwitze. »Ich habe jetzt leider keine Zeit, dir das lange zu erklären. Aber es ist wichtig, dass Stefan nichts von unserer kleinen Sitzung hier weiß und davon, dass ich mit deinem Bruder zusammen bin.« Dorothee mustert mich verständnislos. »Ist es okay, wenn wir ihm sagen, dass du nur hier warst, um dir mein Büro als eventuelle Nachmieterin anzusehen?«
Sie nickt langsam. »Ist das dein Ex-Freund?«, will sie wissen. Ich bejahe ergeben. »Verstehe«, gibt sie dann flüsternd zurück. »Daniel hat mal erwähnt, dass dein vorheriger Freund nicht so gut mit der Trennung zurechtkommt.« Dann verfinstert sich ihre Miene. »Aber zwischen dir und ihm … das ist doch …«
»Nein«, beruhige ich sie, »da ist nichts mehr, er kommt nur hin und wieder vorbei, wir verstehen uns einfach noch gut. Allerdings«, füge ich noch hinzu, »wäre es besser, wenn du Daniel auch nicht erzählst, dass du Stefan hier getroffen hast.«
Noch immer sieht sie skeptisch aus. »Klingt für mich alles etwas komisch.«
Ich seufze. »Das glaube ich«, gebe ich zu. »Und ich kann dich nur bitten, mir zu vertrauen. Ich liebe deinen Bruder, wirklich! Es gibt auch keinen anderen, zwischen Stefan und mir ist nichts weiter als Freundschaft, das schwöre ich.«
»Aber dann …«, setzt sie wieder an.
»Ich muss es dir irgendwann einmal in Ruhe erklären. Und auch mit Daniel werde ich reden, versprochen, aber im Moment geht es einfach nicht.« Ich werfe ihr einen bittenden Blick zu. Dann höre ich Stefan in der Wohnung klappern, eine Tür geht, er wird also jede Sekunde zurück sein. »Wie gesagt«, fahre ich schnell fort, »ich erkläre es dir ein anderes Mal. Tust du mir jetzt erst einmal diesen Gefallen?«
»Sicher, klar.« Dorothee zwinkert mir zu und lächelt wieder freundlich und offen. »Du wirst deine Gründe haben, und immerhin bin ich dir was schuldig.«
»Danke!«, seufze ich erleichtert.
»So, da bin ich wieder!« Stefan kommt mit der Pflasterpackung in der Hand ins Büro, marschiert direkt auf Dorothee zu und kniet sich vor ihr hin.
»Gib mal her«, fordere ich ihn auf und will ihm die Pflaster aus der Hand nehmen, aber er weist mich mit seiner freien Hand zurück.
»Lass mich nur machen, ich kenne mich mit Verletzungen aus.«
»Sind Sie Arzt?«, will Dorothee wissen.
Stefan lacht. »Das nicht gerade«, erklärt er. »Ich bin Personal Trainer, aber natürlich gehört eine gewisse Kenntnis der Anato
mie mit zum Beruf.« Kenntnisse der Anatomie, Donnerwetter! So geschwollen habe ich Stefan noch nie daherreden hören.
»Aha«, meint Dorothee.
»Also, wollen wir mal sehen.« Vorsichtig zieht Stefan den Stoff der Jeans etwas beiseite und mustert die Wunde eingehend. »Sieht wirklich nicht so schlimm aus«, stellt er dann fachmännisch fest, »immerhin ist kein Schmutz in der Wunde, ein Pflaster dürfte fürs Erste reichen.« Er nimmt einen Streifen aus der Verpackung, zieht den Plastikschutz ab und legt das Pflaster dann vorsichtig auf Dorothees Knie. Sie zuckt kurz zusammen. »Tut’s weh?«, fragt Stefan besorgt nach.
»Nein, nein, ist schon gut.«
»Prima!« Er steht auf und betrachtet zufrieden sein Werk, als hätte er soeben einen komplizierten Splitterbruch operiert. »Müsste in ein paar Tagen schon wieder verheilt sein.«
»Na, dann.« Dorothee macht Anstalten, ebenfalls aufzustehen, doch Stefan hält sie sofort zurück.
»Was machen Sie denn da?«
»Ich will nach Hause gehen«, erklärt sie verwundert.
»Aber doch nicht in Ihrem Zustand!«
Jetzt lacht Daniels Schwester. »Was heißt denn, in meinem Zustand? Es ist doch nur ein aufgeschürftes Knie.« Wie zum Beweis stellt sie sich hin und wackelt dabei kein bisschen.
»Soll ich Ihnen nicht lieber ein Taxi rufen?«, schalte ich mich nun ein, damit ich hier nicht wie ein gedankenloser Depp danebenstehe.
»Das ist wirklich nicht nötig, Frau Schäfer«, antwortet Dorothee und zwinkert mir nahezu unmerklich zu. »Mein Auto steht ganz in der Nähe, die paar Meter schaffe ich schon.«
»Sind Sie sicher?«, hakt Stefan noch einmal nach.
»Absolut, machen Sie sich keine Sorgen. Allerdings: Ist mit Ihrem Knöchel wirklich auch alles in Ordnung? Und was ist mit Ihrem Fahrrad?«
Stefan macht eine wegwerfende Handbewegung. »Meinem Knöchel geht’s prima, und mein Mountainbike ist auch robust, da müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen.«
»Puh!« Dorothee lächelt. »Dann ist ja noch einmal alles gutgegangen.«
»Ja, bis auf den Schrecken ist nichts passiert.«
»Dann werde ich mich mal auf den Heimweg machen«, stellt Daniels Schwester fest.
Zum zweiten Mal innerhalb von fünfzehn Minuten bringe ich sie zur Tür. »Passen Sie schön auf, dass Sie nicht wieder auf den Radweg geraten«, gebe ich ihr scherzhaft als Rat mit auf den Weg.
»Nein«, versichert sie, »ab sofort bin ich vorsichtiger.« Sie wendet sich noch einmal an Stefan, der hinter mir steht. »Auf Wiedersehen! Ich hoffe wirklich, dass mit Ihrem Knöchel alles in Ordnung ist.«
»Alles bestens«, bestätigt er.
»Und was das Büro betrifft«, sagt Dorothee noch schnell zu mir, »werde ich mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden. Ich finde die Räumlichkeiten jedenfalls sehr interessant.«
»Rufen Sie einfach an!«, erwidere ich. Als ich die Tür hinter ihr schließe, zittern mir vor lauter Anspannung die Knie. Das ist ja gerade noch mal gutgegangen, um ein Haar hätte es eine Katastrophe gegeben.
»Sie hat sich also das Büro angesehen?«, will Stefan wissen, als ich mich wieder zu ihm umdrehe. Ich nicke. »Scheint nicht so leicht zu sein, einen Untermieter zu finden«, stellt er dann fest.
»Nein«, schwindele ich, »leider nicht.«
Stefan lässt seinen Blick durch den Raum wandern. »Schon komisch«, meint er. »Nachdem du wieder ein paar Sachen eingeräumt hast, sieht’s hier fast aus wie früher. Als wäre Kiki noch da.«
»Hm, ja«, gebe ich ihm recht. Mehr sage ich nicht, denn ich wüsste nicht, was. Wir schweigen einen Moment lang, dann will ich wissen: »Was machst du eigentlich schon hier, wir waren doch für fünf Uhr verabredet?«
»Fünf Uhr?«, gibt Stefan zurück. »Ich dachte, fünfzehn Uhr. Da hab ich mich wohl vertan.«
»Ist auch egal«, erkläre ich. »Muss ich meine Putz-und-Aufräum-Aktion eben verschieben, das wollte ich nämlich eigentlich noch bis fünf erledigen, in der Wohnung sieht’s mal wieder schlimm aus.«
Stefan grinst mich an. »Das stimmt«, sagt er, »ist mir auch aufgefallen, als ich nach dem Pflaster gesucht habe. Den Titel ›Housekeeper of the Year‹ wirst du wahrscheinlich nie gewinnen.«
»Was soll das denn heißen?«, erwidere ich gespielt empört.
»Das weißt du selbst ganz genau«, triezt er mich zurück, und wir müssen beide lachen. »Komm«, meint er schließlich und deutet mit einem Nicken rüber zum Wohnungsteil.
»Was, komm?«
»Ich helf dir eben, darin habe ich schließlich schon Übung.«
»Du musst doch nicht ständig mit mir die Wohnung aufräumen.«
»Müssen nicht. Aber ich mach’s gern. Dann sind wir umso schneller fertig und können noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen.«
»In Ordnung. Wenn du dich so aufdrängst …«
»Dann lass uns anfangen, bevor ich es mir anders überlege!«
»Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich auf heute Abend gefreut habe!« Daniel begrüßt mich mit einem zärtlichen Kuss, als wir uns um kurz nach acht zum Abendessen im »Gallo Nero« treffen.
»Hallo, Schatz.«
»Wie war dein Tag?« Ich überlege kurz, ob ich ihm von Dorothee erzählen soll, lasse es dann aber.
»Anstrengend. Und deiner?«
»So weit ganz okay«, meint er, »keine besonderen Vorkommnisse.«
»Prima.« Ich schnappe mir die Speisekarte und studiere sie. Diesmal bin ich fest entschlossen, selbst für mich zu bestellen. Zum Beispiel eine ehrliche Pizza.
»Das heißt – doch! Eine Sache ist tatsächlich passiert.« Ich blicke interessiert auf. »Ach, nein«, korrigiert er sich dann, »das soll er dir lieber selbst erzählen.«
»Wer soll mir was lieber selbst erzählen?«, hake ich nach.
»Markus«, erklärt Daniel. »Soweit ich weiß, hat er am Montag wieder einen Termin bei dir.«
»Ja, das stimmt«, erwidere ich. »Aber ich wüsste trotzdem gern schon jetzt, was es da zu erzählen gibt.«
»Hm, ich weiß nicht …« Daniel zwinkert mich fröhlich an, es macht ihm sichtlich Spaß, mich auf die Folter zu spannen.
»Wenn du mir nicht sofort sagst, um was es geht«, drohe ich ihm spaßhaft, »lasse ich dich auf der Stelle im Restaurant sitzen.«
»Okay, okay!« Daniel hebt abwehrend die Hände. »Ich sag’s dir ja schon! Also.« Er macht eine Pause, vermutlich, um es noch ein kleines bisschen spannender zu machen.
»Ja, was denn nun?«
»Markus hat mir heute erzählt, dass er eine nette Frau kennengelernt hat.«
»Wo das?«, will ich wissen.
»Beim Zahnarzt«, berichtet Daniel und schmunzelt. »Sie saßen zusammen im Wartezimmer und haben sich über ihre bevorstehenden Wurzelbehandlungen unterhalten.«
»Das nenne ich mal eine ausgefallene Flirt-Location«, stelle ich fest. »Noch dazu bei einem so romantischen Thema!«
»Finde ich auch.« Er greift über den Tisch nach meiner Hand und drückt sie. »Aber das Glück schlägt eben an den unerwartetsten Orten zu.«
Wir lächeln uns an, dann widmet sich jeder von uns wieder der Speisekarte. Als der Ober kommt, bestelle ich eine Pizza prosciutto, Daniel entscheidet sich für Saltimbocca alla romana.
»Markus hat mich gefragt, ob wir nächste Woche mal zu viert ausgehen wollen, dann können wir sie kennenlernen.«
»Klar, warum nicht? Ich bin schon ganz gespannt.«
»Ich auch«, meint Daniel. »Was er so erzählt hat, muss sie eine Kombination aus Claudia Schiffer und Albert Einstein sein.«
»Hoffentlich in der Reihenfolge ›So schön und so klug‹ und nicht umgekehrt«, stelle ich prustend fest.
»Das hoffe ich allerdings auch.« Wir lachen beide.
»Dann bin ich neugierig, was er mir am Montag erzählt. Und danach«, ich werfe Daniel einen koketten Blick zu, »werde ich dir kein Sterbenswörtchen verraten. Ich muss als Coach immerhin verschwiegen sein.«
»Das ist gemein«, erwidert Daniel und zieht einen Schmollmund.
»Tja«, stelle ich fest, »so bin ich.«
»Stichwort Kennenlernen«, wird Daniel auf einmal ernst. »Ich habe mich gefragt, ob es nicht langsam an der Zeit ist, dass du neben meiner Schwester auch mal meinen Bruder und meine Eltern kennenlernst.«
»Deine Eltern?«
Daniel nickt. »Wir sind immerhin schon fast drei Monate zusammen, und ich würde ihnen gern meine neue Freundin vorstellen.«
Ich zögere einen Moment, dann lächele ich ihn an. »Sicher, warum nicht?«
»Und dann«, spricht er weiter, »würde ich mich freuen, wenn du mich deinen Eltern vorstellst.«
Ich erstarre, obwohl ich irgendwie geahnt hatte, dass so etwas in der Art kommt. »Weißt du«, setze ich an, »meine Eltern sind ein wenig speziell.«
»Das glaube ich dir gern, immerhin haben sie auch eine spezielle Tochter.«
»Nein, so meine ich das nicht. Sie sind etwas … schwierig.«
»Glaubst du nicht, dass ich damit umgehen kann?«
»Doch, sicher, es ist nur …«
»Kirsten.« Wieder greift er nach meiner Hand. »Ich bin wirklich sehr glücklich mit dir. Nur manchmal frage ich mich, warum du mich versteckst.«
»Dich verstecken?«
»Ja, so fühlt es sich irgendwie an. Ich kenne keinen deiner Freunde, wenn wir uns sehen, machen wir entweder etwas alleine oder mit meinen Kollegen. Manchmal glaube ich fast, du schämst dich für mich.«
»Ich schäme mich doch nicht für dich!«
»Aber nicht mal dein Ex-Freund darf wissen, dass wir zusammen sind! Zweimal die Woche laufe ich mit Stefan Becker um die Alster und muss immer noch so tun, als würde ich dich nicht kennen und hätte dich nur einmal flüchtig bei einer Bürobesichtigung gesehen. Nicht einmal deinen Namen darf ich erwähnen. Da frage ich mich schon manchmal, warum das so ist.«
»Die Sache ist kompliziert.«
»Kirsten.« Jetzt klingt er bittend. »Du weißt, dass ich dir vertraue. Aber manche Dinge kommen mir eben komisch vor. Du gehst nicht an dein Handy, wenn es in meiner Gegenwart klingelt, oder verlässt zum Telefonieren den Raum. Und wenn du glaubst, mir wäre noch nicht aufgefallen, dass wir eigentlich nur noch bei mir sind und gar nicht mehr bei dir, dann irrst du.
All das bemerke ich durchaus und warte die ganze Zeit darauf, dass du dich mir gegenüber endlich völlig öffnest.«
»Bitte, Daniel, ich …«
»Ach, sieh mal einer an!« Eine Stimme lässt uns beide herumfahren.
Direkt neben uns am Tisch steht eine hochgewachsene, schlanke Frau und mustert uns amüsiert. Ihre lange, dunkle Mähne fällt wallend über ihre Schultern, sie hat genauso riesige, dunkle Augen wie Daniel und trägt einen eleganten Hosenanzug. Noch eine Schwester?, schießt es mir durch den Kopf, aber ich verwerfe den Gedanken sofort. Zum einen hätte Daniel mir wohl mittlerweile von ihr erzählt, so erpicht, wie er auf eine Familienzusammenführung ist, zum anderen strahlt diese Frau nichts von der Wärme aus, die bei Daniel oder Dorothee zu spüren ist.
Mein Liebster erstarrt bei ihrem Anblick von jetzt auf gleich, und ihm weicht alle Farbe aus dem Gesicht. Er räuspert sich. »Sarah.« Seine Stimme klingt angespannt.
»Hallo, Daniel.« Sie lächelt. »Was für ein Zufall, dich hier zu treffen!«
»Kein sonderlich großer Zufall, wenn man bedenkt, dass das hier mein Lieblingsrestaurant ist«, gibt er böse zurück. Mir ist, als wäre die Zimmertemperatur plötzlich um mindestens zehn Grad Celsius gesunken. Wer ist diese Frau? Und weshalb starrt Daniel sie so feindselig an? »Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist«, presst mein Freund jetzt hervor.
»Doch, das bin ich«, erwidert sie gelassen. »Seit letzter Woche. Ich wollte dich auch schon anrufen, aber dann dachte ich mir, dass wir uns am Montag ja sowieso in der Firma sehen.«
»Du fängst wieder bei uns an?« Daniel klingt regelrecht entgeistert.
»Ja«, bestätigt Sarah, »es war eine kurzfristige Entscheidung des Vorstandes, mich aus London zurückzuholen.«
»Ach?« Daniel klingt ironisch. »Und es macht dir gar nichts aus, England einfach so zu verlassen?«
»Im Gegenteil«, erwidert sie, »ich bin sehr glücklich, wieder in Hamburg zu sein.«
Die beiden starren sich an, und ich habe den Eindruck, dass da irgendwas zwischen den Zeilen mitschwingt, das ich nicht ganz verstehe.
»Dann sind deine Londoner Projekte wohl abgeschlossen?«, hakt Daniel nach.
In der Tat, hier schwingt so einiges zwischen den Zeilen mit.
»Vollkommen, ich bin ganz und gar frei für neue Aufgaben.«
»Aber«, bellt Daniel sie nahezu an, »bilde dir bloß nicht ein, dass hier alles wieder so läuft wie früher.«
Sarah lacht auf. »Aber, aber – natürlich tue ich das nicht. Es wird selbstverständlich noch viel besser laufen als früher.«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.«
»Ich denke, wir werden es sehen.« Jetzt wendet Sarah sich mir zu und betrachtet mich interessiert. »Willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen?«, fragt sie.
»Natürlich.« Dieses »natürlich« klingt allerdings nach dem genauen Gegenteil. »Kirsten, das ist Sarah, Sarah, das ist Kirsten.«
Sie streckt mir ihre grazile Hand entgegen, ich schüttele sie und habe sofort das Gefühl, dass ich dagegen eine riesige Pranke habe.
»Meine Freundin«, schiebt Daniel noch hinterher, und ich meine, ein kurzes Flackern in Sarahs Augen wahrzunehmen.
»Angenehm. Sarah Beckstein«, sagt sie dann und fügt hinzu: »In meinen Kreisen ist es üblich, sich mit vollem Namen bekannt zu machen.« Allein die Art und Weise, wie sie spricht, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
»Kirsten Schäfer«, gebe ich unsicher zurück.
»Kirsten Schäfer also«, wiederholt sie meinen Namen, dabei verengen sich ihre Augen zu zwei Schlitzen, und ich muss mich beherrschen, um nicht nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. »Und?«, will Sarah an Daniel gewandt wissen. »Wo habt ihr zwei Hübschen euch kennengelernt? Etwa auch bei einer internen Fortbildung?« Sie lässt ein perlendes Lachen erklingen.
»Nein«, sagt Daniel. »Kirsten ist selbständiger Coach, sie hat mit der Firma nichts zu tun. Ich hatte ein Seminar bei ihr gebucht.«
»Coach also?« Noch so ein Blick, und ich falle tot um, sie scheint mich mit ihren Augen zu durchbohren. »Sehr gut«, stellt sie dann fest. »Bürolieben sind sowieso immer so kompliziert und enden selten gut, nicht wahr?« Jetzt richtet sie ihren Blick wieder direkt auf Daniel, der allerdings eisern schweigt. »Tja, dann wünsche ich euch zwei Turteltauben noch einen schönen Abend«, flötet Sarah, bevor sie an unserem Tisch vorbeischwebt und im hinteren Teil des Restaurants verschwindet.
Daniel und ich bleiben schweigend zurück, und in meinem Kopf geht es drunter und drüber.
»Wer war das?«, traue ich mich schließlich zu fragen.
»Komm«, gibt Daniel anstelle einer Antwort zurück. »Lass uns gehen, mir ist der Appetit vergangen.«
Er winkt den Ober heran, bestellt unser Essen ab und zahlt die Flasche Wasser, die wir nicht mal ausgetrunken haben. Dann schleift er mich an der Hand hinter sich her aus dem Lokal. Ich bin zu perplex, um irgendetwas zu sagen, noch immer habe ich Sarahs Blick im Kopf. Und der war im Gegensatz zu Daniels schokobraunen Augen kein bisschen warm, sondern eiskalt.
Während wir nebeneinander im Auto sitzen und Daniel mich nach Hause fährt, reden wir kein Wort miteinander. Ich würde
gern, aber Daniel starrt so grimmig vor sich hin, dass ich mich nicht einmal traue, pieps zu machen.
Erst als er den Wagen vor meiner Wohnung parkt, scheint die Anspannung ein wenig von ihm abzufallen, und er wendet sich mir zu.
»Es tut mir leid«, sagt er. »Aber ich habe nicht damit gerechnet, ihr noch einmal zu begegnen, die Situation hat mich gerade einfach aus dem Konzept gebracht.«
»War das eine Ex-Freundin?«, spreche ich aus, was ich schon die ganze Zeit vermute.
»Ja«, bestätigt er, »das war sie.«
»Scheint dich ja noch immer sehr mitzunehmen«, meine ich und spüre ein bisschen Angst in mir aufsteigen. So wie Daniel auf sie reagiert hat, ist er mit der Sache alles andere als durch. Und ich muss zugeben, dass Sarah eine echte Erscheinung ist, neben der man sich wie ein hässliches Entlein fühlt. Rein äußerlich würden sie und Daniel perfekt zusammenpassen.
»Das ist es nicht«, erklärt Daniel. »Sie ist vor gut einem Jahr nach London gegangen, und ich habe gedacht, dass ich sie nie wiedersehe. Das heißt, ich habe es gehofft.«
»Ihr habt in derselben Firma gearbeitet?«
»Ja, das haben wir. Und offenbar ist sie jetzt zurück.« Er schlägt mit einer Hand aufs Lenkrad. »Weiß der Geier, was sie in Hamburg will!«
»Wahrscheinlich hat man ihr einfach nur ein gutes Angebot gemacht«, mutmaße ich.
»Glaub mir«, erwidert er wütend, »es gibt einen Grund, dass sie wieder hier ist. Sarah hat immer ihre Gründe, sie ist eine berechnende Lügnerin.«
»Willst du mir nicht erzählen, was damals passiert ist?«
Daniel seufzt. »Wir waren ein Jahr lang zusammen«, erzählt er stockend, »und ich dachte, es sei alles bestens. Sicher wusste ich, dass Sarah keine einfache Frau ist, aber ich war halt ein ver
liebter Trottel. Markus hat von Anfang an gesagt, dass er bei ihr ein komisches Gefühl hat, aber ich wollte nicht auf ihn hören. Sogar an Heirat habe ich bei ihr gedacht, weil ich fand, dass wir so perfekt zusammenpassen. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ich feststellen musste, dass Sarah eine Art Doppelleben führte.«
»Ein Doppelleben?«
»Ja, sie war geschäftlich oft in Großbritannien. Jedenfalls dachte ich, dass es rein geschäftlich sei. Aber irgendwann verkündete sie mir, dass sie schon länger einen anderen in London hätte. Einen, der wichtiger war als ich. Schwupps, war sie weg und ließ mich von heute auf morgen zurück.«
»Oh«, bringe ich erstaunt hervor, »das ist hart.«
»Ja, das ist hart. Festzustellen, dass die Frau, die man zu lieben glaubt, überhaupt nicht diejenige ist, für die man sie hält. Ihr ging es nur ums Geld, und kaum war ein anderer da, der ihr mehr bieten konnte als ich, war sie weg.« Er nimmt meine Hand und drückt sie so fest, dass es beinahe schmerzt. »Verstehst du jetzt, weshalb ich manchmal so misstrauisch bin? Wenn man so etwas mal erlebt hat, hinterlässt das eben Spuren.«
»Ja, das verstehe ich.« Und noch etwas verstehe ich: Es ist kurz vor zwölf. Wenn ich Daniel nicht verlieren will, ist es an der Zeit, dass ich mir etwas einfallen lasse. Nur was, ist die Frage.
»Kann ich«, will Daniel wissen, »heute Nacht bei dir bleiben? Ich möchte mein Mädchen gern im Arm halten.«
»Natürlich«, antworte ich, wie könnte ich da »Nein« sagen? Vor allem, weil in mir mit einem Mal wieder diese panische Angst ausbricht, dass es eine meiner letzten Nächte mit Daniel sein könnte. Wenn er erst einmal weiß, was ich getan habe, werde ich nicht mehr »sein Mädchen« sein.