3. Kapitel

Hamburg, Freitag, 15. Mai 2009, 17:43 Uhr

»Ich weiß nicht«, sagte Silvia flüsternd ins Telefon und drehte eine Strähne ihres braunen Haars so fest um den rechten Zeigefinger, dass die Kuppe sich dunkel verfärbte.

Sie war nervös, wie immer, wenn sie mit Sven telefonierte. Ihr Herz klopfte. Nach vielen Jahren standen sie jetzt kurz davor, Grenzen zu überschreiten, die sie eigentlich stets zu wahren versucht hatten.

Sie liebten sich, doch verheiratet waren sie mit anderen. Glücklich verheiratet – gute Leben mit guten Menschen.

Aber wann immer sie sich begegneten, wussten sie, dass Liebe nicht mit Zufriedenheit verwechselt werden konnte: Ihre Herzen schlugen schneller, wenn sie sich nahe waren, ob sie es nun wollten oder nicht. Daran änderte auch die Zuneigung zu ihren Partnern nichts. Betrügen wollten sie sie nicht, aber ohne einander konnten sie auch nicht sein.

Fünf Jahre lang hatten sie sich vorgespielt, dass alles gut sei und sie in tiefer Freundschaft verbunden wären. Dass ihnen das reichte und sie sich mit der platonischen Beziehung begnügen könnten.

Fünf Jahre. Bis zu einem achtlosen Kuss in einer Silvesternacht. Und danach war nichts mehr wie zuvor gewesen.

Plötzlich hatten sie sich zufällig berührt, wenn sie nebeneinander saßen, sich in der Küche um das Essen kümmerten oder unter dem Tisch die Beine ausstreckten.

Da die Paare befreundet waren, sahen sie sich oft. Das war eine schwere Zeit für sie beide, weil sie das Verlangen, sich gegenseitig zu spüren, kaum noch unterdrücken konnten.

Fünf Monate nach dem besagten Kuss hatte es sich ergeben, dass sie allein in der Wohnung von Silvia und Thomas waren und auf ihre Partner warteten. Gemeinsames Kochen und Spieleabend waren angesagt. Doch als Silvia Sven hereingelassen und die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hatten sie all ihre guten Vorsätze auf einen Schlag vergessen.

Sie küssten sich, ließen ihre Hände unter die Kleidung gleiten, um die Wärme der Haut zu fühlen, um mehr von dem zu bekommen, was jede Faser ihrer Körper in Aufregung versetzte. Sie gingen leidenschaftlich weit, aber die Vernunft kehrte im rechten Moment zurück und ließ sie innehalten, verwirrt, glücklich und ratlos, wie es jetzt weitergehen sollte.

Keinen Moment zu früh. Schritte waren im Treppenhaus erklungen, kurz darauf ein Schlüssel im Schloss.

Sven verschwand im Bad, um sein erhitztes Gemüt zu kühlen, Silvia bändigte ihre Haare zu einem Zopf und öffnete ihrem Mann die Tür, bevor er ganz aufgeschlossen hatte. Die Katastrophe war noch mal abgewendet worden.

Auch als Kathrin hinzugekommen war, hatte keiner von ihnen einen Verdacht, was sich in dieser Wohnung abgespielt haben könnte.

Jetzt war Sven am anderen Ende der Leitung und sprach erstmals offen aus, was sie beide schon so lange dachten. »Silvia, ich kann an nichts anderes mehr denken! Nur noch an dich! Triff mich im Hotel. Vielleicht wird es ja besser, wenn wir dem Verlangen einmal nachgegeben haben.«

In ihr geriet alles in Bewegung. Der Gedanke, mit Sven allein zu sein und endlich alle Beherrschung fallenzulassen, war dermaßen aufregend, dass sie ihn am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte. Doch was würde sie Thomas damit antun? Was tat sie ihm bereits an mit den Gedanken, die sie tagtäglich hegte?

Ihr Schweigen verunsicherte Sven. »So kann es nicht weitergehen! Letztens hätte uns Thomas fast erwischt, als er nach Hause kam. Ich will nicht, dass es so weit kommt. Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Er ist mein bester Freund, und ich denke nur daran, seine Frau zu berühren und zu küssen! So eine Scheiße! Ich träume schon davon, wie wir es miteinander tun. Ich kann nichts dagegen machen: Der Gedanke daran ist unglaublich!«

Unglaublich ist noch untertrieben. Silvia musste lächeln.

Sven war stets so rücksichtsvoll, ständig bemüht, ihr begreiflich zu machen, dass es hierbei nicht um Sex ging, sondern um den Wunsch, jemanden voll und ganz zu spüren. Als wenn ich das nicht wüsste – es geht mir genauso.

»Ich will es doch auch«, gestand sie schließlich. »Ich habe so etwas noch nie gefühlt, so überwältigend und aufregend. Wenn es nicht besser wird, nachdem wir es getan haben, müssen wir uns eine Lösung einfallen lassen.«

Jetzt schwieg Sven.

»Ich will keine Affäre. So eine Frau bin ich einfach nicht.«

»Glaub mir: Ich habe das auch noch nie gemacht.« Er räusperte sich. »Und das werde ich dir sicher auch nicht antun. Ich buche ein Zimmer im Elysee. Freitag um fünfzehn Uhr?«

Silvia musste sich setzen, ehe sie antwortete. »Ist gut.« Ihr Herz schlug spürbar schnell, so aufgeregt war sie in ihrem Leben noch nie gewesen. »Ich werde da sein.«

Sven schien es genauso zu ergehen, seine Stimme war zum ersten Mal derart rauh und gleichzeitig so unsicher leise. »Und, Silvia?«

»Ja?«

»Auch wenn du es dir anders überlegst, bitte komm am Freitag. Es sind keine Erwartungen damit verbunden. Ich würde das ganze Hotel mieten, nur um mit dir einmal ganz frei reden zu können.«

Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach dir sehne ...

»Danke. Das gilt auch für dich.« In ihrer Vorstellung wusste sie genau, wie das Treffen ablaufen würde, und ihr Körper reagierte eindeutig auf die Bilder in ihrem Kopf. Sie wollte ihn spüren, ganz und gar – es gab kein Zurück. »Bis Freitag.«

Das Gespräch hatte höchstens zehn Minuten gedauert, und schon nahmen Dinge ihren Lauf, die nicht mehr aufzuhalten waren.

Und was sage ich Tom?

Sie war fest davon überzeugt, einmal mit Sven zu schlafen und danach in dieses Leben zurückkehren zu können, und verbannte alle Bedenken in unerreichbare Ferne. Das ist mein einziges Leben. Ich muss es tun! Niemand wird je davon erfahren.