Kapitel 24

»Heute gibt’s mal was anderes zu trinken!« Tim hielt seinem Vater die Flasche schottischen Whiskys vor die Augen, die er aus Glencoe mitgebracht und bis zu diesem Tag noch nicht angebrochen hatte. »Ein astreiner Single Malt, das Beste von der Insel!«

»Du willst mich wohl betrunken machen, um endlich mal wieder zu gewinnen, oder?« Robert Schuster lachte.

»Schön wär’s, Vater. Ich glaube, du verträgst davon mehr als ich.«

»Kann schon sein. Bist du bereit zum Kampf, Anglofilius?«

So hatte der alte Schuster seinen Sohn schon lange nicht mehr genannt. Sein Scherzname für Tim war nach der Scheidung der Eltern in Vergessenheit geraten. Mit einem Mal sah Tim sich wieder auf dem Schoß seiner Mutter sitzend, wie sie den Vater in seiner Lieblingspose, nämlich grübelnd am Schreibtisch, beobachteten. Plötzlich hatte er wieder ihr Lachen im Ohr, wenn Dr. Robert Schuster mit gespielt wichtigtuerischer Miene einen Gesetzestext zur Hand nahm und den nicht vorhandenen Staub von den Seiten pustete. »Schau her, Anglofilius«, hörte er ihn sagen. »Mit diesen toten Buchstaben bestimmen wir das Geschick der Lebenden!«

»Ja, ich bin bereit«, antwortete Tim und holte sich damit selbst aus seinen Erinnerungen. Sie waren in der Bibliothek seines Vaters und nahmen an demselben Tisch Platz, an dem er auf Mutters Schoß gesessen hatte, um den Juristen bei der Arbeit zu bewundern.

Tim öffnete die Flasche und goss ein, nachdem der Vater zwei Gläser auf den Tisch gestellt hatte. Der Whisky gluckste wie flüssiges, dunkles Gold aus der Flasche und verbreitete schon dadurch ein behagliches Gefühl. Sie stießen an und tranken einen Schluck.

Robert Schuster verdrehte die Augen. »Ein wahrhaftiger Uishie. Du bist doch auch zum Teil ein echter Campbell, Timothy Schuster!« Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Es passt wirklich gut, dass du heute diesen alten Schotten mitgebracht hast. Ich muss dir eine Neuigkeit berichten.«

Tim kannte die Andeutungen seines Vaters. Daher konnte er sich denken, aus welcher Richtung die Nachrichten kamen. »Was ist mit Mutter?«

»Dein Scharfsinn ehrt deinen alten Vater. Deine Mutter hat mir einen Brief geschrieben, in dem sie offenbart, dass sie wieder zu heiraten gedenkt.«

»Ach, das ist ja nett. Aber warum schreibt sie das dir und nicht mir?«

Robert Schuster räusperte sich und nahm noch einen Schluck. »Du weißt, ich habe sie vor kurzem in London getroffen. Dort hat sie mir schon ein paar Andeutungen gemacht, aber noch nichts Konkretes gesagt. Sie meinte, eure Beziehung sei nicht die beste, weil du immer noch glaubst, dass sie dich verlassen hat, mehr als sie mich verließ. Und sie weiß nicht, wie du reagierst, wenn du erfährst, dass ihr Zukünftiger gerade mal zwei Jahre älter ist als du.«

Tim schüttelte den Kopf. Das also war es. In Wirklichkeit war sie es ja, die immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie selber glaubte, ihren Sohn verlassen zu haben. Und nun hatte sie ihren perfekten Sohn-Ersatz gefunden und heiratete ihn gleich.

»Lass mich raten. Er heißt Timothy und hat einen besseren Beruf als den des Journalisten.«

Der Vater lächelte. »Das ist es, was deine Mutter wohl nicht ganz zu Unrecht befürchtet. Er heißt David und ist Konzertpianist. Sie sind schon seit Jahren befreundet.«

»Ach, und ich war im letzten Jahr mehrfach bei ihr. Von einem David war da nie die Rede!«

»Ich glaube, sie hat Angst, dich ganz zu verlieren, wenn sie wieder in einer festen Beziehung lebt. Du bist ihr einziges Kind, und die Trennung damals habt ihr beide nicht unverletzt überstanden. Sie wollte dich mitnehmen und hat nicht verstanden, dass dir die deutsche Heimat wichtiger war als die Nähe zu deiner Mutter. Das ist durchaus nachvollziehbar. Und du hast dich damals von ihr verlassen gefühlt, ebenfalls völlig normal. Und jetzt bist du selbst längst Familienvater und hast die Chance, eine abgeklärtere Sicht der Dinge einzunehmen.«

»Aber die habe ich doch längst, Vater. Ich habe ihr nie vorgeworfen, dass sie mich verlassen hätte, auch damals nicht.«

Robert Schuster sah seinen Sohn lange an. Tim konnte in seinem Gesicht ablesen, wie sehr er nach den richtigen Worten suchte. Dabei bildete sich eine tiefe Falte zwischen seinen Augen.

»Kopf und Herz sind selten einer Meinung, Tim. Wir Kopfmenschen neigen dazu, eine Sache abzuhaken, wenn wir sie kognitiv erfasst und bewertet haben. Aber die Seele spielt da oft noch lange nicht mit. Ich habe dich damals bewundert, wie du als dreizehnjähriger Bursche die Situation gemeistert hast. Aber ich war nie davon überzeugt, dass du auch nur die Chance gehabt hättest, die Trennung von deiner Mutter wirklich zu verarbeiten.« Und nach einem weiteren Schluck Uishie fuhr er fort: »Und ein wenig stolz war ich auch, dass du bei mir geblieben bist.« Nach einer kurzen Pause fragte der Alte: »Was fühlst du, wenn ich dir von deiner Mutter erzähle?«

»Weiß nicht. Irgendwas. Nichts Schmerzhaftes. Es ist, wie es immer schon war: Da sind eine Menge Gefühle in mir, aber ich kann sie nicht benennen.«

»Keine Fortschritte? Gehst du noch zu diesem Therapeuten?«

»Schon länger nicht mehr. Bringt mir nichts.«

»Und was ist mit deiner Frau? Wie kommt die damit klar?«

Tim zuckte mit den Achseln. »Anscheinend ganz gut. Sie weiß, dass sie mir viel bedeutet. Ich kann nie unterscheiden, ob ich eine Frau liebe, sie sympathisch finde oder sexuell anziehend. Veronika ist das aber vielleicht egal, wahrscheinlich weil das bei ihr alles zusammen kommt.«

Wieder einmal hatte er das Gefühl, das Gespräch nicht fortsetzen zu können. Er nahm aus den Reihen der aufgebauten Schachfiguren jeweils einen Bauern in die Hand und hielt die geschlossenen Fäuste zur Wahl vor sich. Der Vater wählte Schwarz, und Tim begann klassisch mit d2-d4. Die Erwiderung kam prompt mit d7-d5. Die beiden Bauern standen sich Nase an Nase gegenüber. Dann setzte Tim den Springer auf c3. Als sein Vater mit dem Gegenzug auf sich warten ließ, fragte Tim: »Was ist mit dir und Britta? Ihr seid doch jetzt auch schon einige Jahre zusammen.«

Robert Schuster hob seinen Blick nur ganz kurz vom Schachbrett, dann zog er e7-e6 und sagte: »Korrekt.«

Mit dem Pferd auf f3 setzte Tim nach: »Ich meine, ob ihr nicht auch noch mal die Ehe wagen wollt!«

Der Läufer des Vaters wanderte auf c3. Tim begegnete dieser Fesselung seines Springers mit dem Läufer auf d2.

»Mit Britta ist das so«, sagte der Alte und zog sein Pferd auf f6. »Sie macht nicht gerne zweimal den gleichen Fehler. Außerdem läuft es gut, wie es jetzt ist. Wieso etwas daran ändern?«

»Vielleicht möchtest du aber trotzdem?«, fragte Tim weiter und füllte die Gläser neu auf. Dann zog er e2-e3. Sie tranken beide wieder einen Schluck.

Mit c7-c5 meinte der Vater dann: »Vielleicht hast du recht. Ich werde darüber nachdenken, ob ich das will. Sag du mir jetzt aber lieber, wie es zwischen dir und Veronika aussieht.«

»Zuerst rücke ich dir mit einem Geistlichen zu Leibe!« Tims Läufer wanderte auf b5. »Der Bischof bietet Schach!«

»Eine kirchliche Hochzeit kommt ohnehin nicht in Frage.«

Robert Schusters König deckte sich mit dem Läufer auf d7. Tim schlug den Bauern mit d4-c5, sein Vater schlug Tims Pferd mit b4-c3 und fragte weiter: »Hast du mittlerweile mit deiner Frau gesprochen? Es ist doch seltsam, wenn du vermutest, dass sie einen Liebhaber hat und du sie nicht darauf ansprichst?«

Tim gab Schach mit b5-d7. »Weißt du, es läuft gut so, wie es jetzt ist. Wieso etwas daran ändern?«

»Du bist ein Schlingel!« Der Alte schlug Tims Läufer mit b8-d7. Jetzt räumte Tim auf mit d2-c3, und sein Vater schlug wiederum seinen Bauern mit d7-c5. Danach rochierten sie beide und leerten ihre Gläser. Der Vater füllte gleich wieder nach. Tim spürte schon die Wirkung der ersten beiden Portionen und protestierte: »Wenn ich noch ein Glas trinke, komme ich heute Abend nicht mehr weg!«

»Ach geh!« Robert Schuster winkte ab. »Ich rufe Britta an, sie ist unterwegs und könnte Veronika abholen. Die kann dich dann nach Hause fahren. Oder du bleibst über Nacht einfach hier.«

»Veronika müsste jetzt daheim sein. Gute Idee, wenn Britta sie mitbringen kann.«

Der Vater stand auf und telefonierte. Als er zurückkam und sich setzte, sagte er: »Alles klar. Die Damen werden in etwa einer Stunde hier eintreffen.«

Sie stießen an. Auch das dritte Glas schmeckte noch immer hervorragend. Tim brachte mit d1-d4 seine Dame ins Spiel. Er hatte die leise Hoffnung, dass der Vater den angegriffenen Springer decken würde, indem er das andere Pferd auf e4 setzte und Tim anschließend auf g7 matt geben könnte. Doch so betrunken war der Alte noch nicht. Er entgegnete c5-e4.

»Was machen eigentlich deine Recherchen? Bist du der Polizei mal wieder einen Schritt voraus? Gibt es eine Spur?«

»Leider nein. Ich habe nahezu nichts, was mich wirklich weiterbringt. Dafür gibt es einen weiteren Mord, der jedoch offenbar von einem anderen Täter begangen wurde.«

»Du meinst das kleine Mädchen in der Eifel?«

»Genau. Es gibt bis jetzt keinerlei verwertbare Spuren, der Täter ist sehr gewissenhaft vorgegangen. Er hat wahrscheinlich Handschuhe getragen, weder Zigarettenstummel noch Hautpartikel, Haare oder Kleidungsfasern hinterlassen. Sehr professionelle Durchführung, völlig andere Handschrift als die meines Mörders. Ich verfolge die Ermittlungen natürlich trotzdem weiter.« Er setzte den Läufer auf b4. Der angegriffene Turm reagierte sofort mit f8-e8.

»Ein brutaler Mörder, der keinerlei Spuren hinterlässt, hat so etwas aber wohl kaum zum ersten Mal gemacht, oder? Fällt das nicht sowieso auch in dein Interessengebiet?«

»Damit könntest du recht haben«, antwortete Tim und leerte sein Glas in einem Zug. Dann setzte er sein Pferd auf e5. Die Partie schien ausgeglichen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Vater ihm, obschon er Schwarz spielte, einen Zug voraus war. Das schien Tims Schicksal zu sein. Als Journalist wartete er immer auf einen Zug, um dann zu reagieren. Ohne Mord keine Story. Und er blieb so lange im Hintertreffen, bis der andere einen schwerwiegenden Fehler machte. Er war froh, kein Polizist zu sein. Lieber war er ein bezahlter Voyeur als ein Spürhund der Staatsgewalt, der immer zu spät kam. Irgendwann käme er dem Mörder auf die Spur, aber im Gegensatz zum Schachspiel kam es auf die Anzahl der Züge und der geschlagenen Figuren an. Er betrachtete die Spielsteine, die er bereits verloren hatte. Drei davon standen neben dem Brett. Wie viele Tote würde es in diesem mörderischen Spiel noch geben?

Er füllte die Gläser wieder auf.

Als etliche Züge später Veronika mit Britta ins Zimmer trat, war Tim betrunken. Das Spiel war verloren gegangen.