Kapitel 5

Veronika zog sich die Decke bis ans Kinn und drehte sich von Tim weg, um im Schein ihrer Nachttischlampe zu lesen.

Es schien ihm eine ihrer typischen Gesten zu sein. Sie wollte ihm vermutlich bedeuten, dass ihr kalt war. Und dass es zu früh gewesen war, das Winterplumeau schon gegen die Sommerdecke zu tauschen. Dabei hatte er in den letzten Tagen nur ein- oder zweimal beiläufig angemerkt, dass es immerhin Mai und damit die Heizperiode wohl endgültig vorbei sei. Er hatte unter der dicken Wintergarnitur geschwitzt.

Er hatte sie nicht gezwungen oder auch nur aufgefordert, die leichte Sommerdecke aufzulegen, wenn sie abends noch fror. Trotz ihrer Intelligenz wäre sie niemals imstande, zuzugeben, dass es ihre Entscheidung gewesen war, die Garnitur zu tauschen. So wie alles im Haushalt in ihrer Entscheidungsgewalt lag. Nicht, dass Tim das gestört hätte. Aber er hatte die Decken nicht gewechselt, also war er auch nicht schuld, wenn sie jetzt fror.

Vermutlich war sie immer noch verärgert wegen des gestrigen Nachmittags, an dem sie Monikas Kindergeburtstag ohne ihn hatte bewältigen müssen. Zwar hatte sie den Grund seiner Abwesenheit als Entschuldigung akzeptiert, aber jetzt war sie umso mehr verärgert, da sie sich zwar immer noch im Stich gelassen fühlte, gleichzeitig aber auch ein schlechtes Gewissen hatte. Was war schon ein Kindergeburtstag gegen ein totes Mädchen, dessen Mörder frei herumlief? Jetzt ärgerte sie sich, weil Tim nicht da gewesen war und weil er einen guten Grund hatte, nicht da gewesen zu sein, und sie sich trotzdem ärgerte. Dabei wehrte sie sich immer heftig gegen seine regelmäßig geäußerte Feststellung, sie sei kompliziert. Tim seufzte. Solche Gedanken ermüdeten ihn. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, was Veronika dachte oder was er empfand. Er drehte sich zu ihr hin, betrachte ihre von der Decke verhüllte Gestalt und stellte sich ihren Körper darunter vor. Sie war eine attraktive Frau, mit einem runden, aber nicht breiten Po und vollen Brüsten. Sie war vielleicht keine umwerfende Schönheit, aber sie ertrug ihn, und er fand, dass sie ein gutes Team waren. Er fragte sich, wie er sie nach dem verkorksten Wochenende zum Sex animieren könnte. Er rückte näher an sie heran und fasste an die Stelle, wo er unter der Decke ihre Schulter erwartete.

»Hast du heute noch etwas geschrieben?«

Das Interesse an ihrer Arbeit war immer ein probates Mittel der Entspannung, das hatte er gelernt. Sie drehte sich um und sah ihn an.

»Ich habe den Text für die Kaufhaus-Werbung überarbeitet und das komplette Konzept an die Agentur gemailt. Für einen Kino-Spot, der nächsten Monat regional laufen soll.«

»Das ist toll. Damit dürfte uns deine Kreativität mal wieder den Sommerurlaub gerettet haben.«

Sie lächelte ihn an. »Tim, warum habe ich das Gefühl, dass du dich bei mir einschleimen willst?«

»Im Gegenteil, ich hätte Lust dir den Hintern zu versohlen«, antwortete er und rückte noch näher heran, näherte sich ihrem Mund und versuchte einen Kuss, der mit einigem Verlangen erwidert wurde. Sollte er sich über ihren Gemütszustand getäuscht haben?

Seine in zögerlicher Schlaffheit verharrende Männlichkeit regte sich sofort. Eine Hand wanderte unter ihr Nachthemd, streichelte ihren Bauch hinauf bis zu den Brüsten, auf denen sich einladend harte Nippel reckten. Ob das von der dünnen Decke herrührte? Aber Veronikas Körper fühlte sich warm an und ihre Haut glatt, außer da, wo sich ihre hellbraunen Warzenhöfe zerfurcht unter seinen Fingerspitzen anspannten. Seine Lippen wurden von diesen Stellen magisch angezogen, und Veronika atmete heftig, während er ihre Brustwarzen saugend bearbeitete. Das war ja leichter, als er gedacht hatte. Sie waren seit zehn Jahren verheiratet, aber er wusste ihre Launen und Befindlichkeiten immer noch nicht einzuschätzen. Mit einer Hand streichelte er ihr Haar, während die andere über die Innenseiten ihrer Schenkel fuhr, um dann ihre warme Mitte zu finden. Die war so feucht und offen, dass sie schon beim Lesen auf ihn gewartet haben musste, während er sich den Kopf über ihre vermeintliche Verärgerung zerbrochen hatte. Während er darüber noch grübelte und weiter an ihr herumspielte, zog sie sich ihr Nachthemd vollends über den Kopf und packte sein Glied mit fester Hand. Damit bedeutete sie ihm unmissverständlich, dass sie es kurz und hart wollte. Er hatte wohl völlig danebengelegen.

***

Wenige Minuten später griff Tim in die Schublade des Nachttischs, in der die Küchenpapier-Rolle lag. Da sie schon seit einiger Zeit keinen Sex mehr gehabt hatten, musste er ihr ein zweites Blatt nachreichen.

»Schau, was du alles in mich reingetan hast«, entrüstete sie sich scherzhaft und grinste dabei wie ein koketter Backfisch.

»Darauf hab ich Wochen gespart«, entgegnete er im gleichen Tonfall.

»Aber ich weiß ja, dass ich selber schuld bin, mein Schatz. Ich vernachlässige dich, und nicht umgekehrt.«

»Das will ich aber auch meinen, mein rasender Reporter.«

»Starjournalist, wenn schon, meine Liebe.«

»Oh, entschuldige bitte, mein Lieber. Wenn du es nur zum einfachen Reporter gebracht hättest, könnte ich dir die Vernachlässigung von Frau und Kind niemals verzeihen.« Sie stand auf, sammelte die feuchten, zerknüllten Küchentücher ein und ging hinaus in Richtung Badezimmer, um sich zu waschen und abzuschminken. Das würde eine Weile dauern.

Es hatte Tim gutgetan, wieder mit ihr zu schlafen. Das konnte ihn jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen ihnen nicht mehr alles in Ordnung war. Veronika war attraktiv und hatte durch ihre Tätigkeit als Kreative in der Werbebranche Kontakte mit interessanten Menschen. Tim kümmerte sich nicht sonderlich viel um seine Familie. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie einen Liebhaber gehabt hätte. Eigentlich war er fast sicher, dass es so war. Aber die Ehe funktionierte. Sie hatten eine liebe Tochter und verstanden sich insgesamt recht gut. Tim fragte sich, warum sie etwas ändern sollten. Als Veronika ins Schlafzimmer zurückkehrte, immer noch nackt, erwachte sein Trieb aufs Neue.

»Hast du Lust, mir noch einen zu blasen?«

Sie lachte, schüttelte aber entschieden den Kopf. »Timothy, jetzt wirst du übermütig. Nun wird geschlafen!«

Sie streifte ihr Nachthemd über, küsste ihn flüchtig und zog sich die Decke ans Kinn. Als das Licht ausging, lag er einige Zeit auf dem Rücken und starrte an die Decke. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er sah den Holzbalken, der quer über das Bett hinweg die Dachschräge hinaufstrebte und sich irgendwo verlor, wo auch nicht mehr der leiseste Lichtstrahl eine Kontur erahnen ließ. Eigentlich hätte er jetzt zufrieden sein und ruhig einschlafen können. Doch kaum war er sich selbst überlassen, kehrte jene seltsame Melancholie zurück, die ihn erfüllte, seit sich der Reißverschluss über dem Gesicht des toten Mädchens geschlossen hatte. Es war weiß Gott nicht die erste Tote, die er gesehen hatte, und einige der Leichen, die er in den letzten Jahren betrachtet hatte, waren schlimmer zugerichtet gewesen. Vielleicht war er im Moment etwas empfindlich. Mehrere Monate ohne lohnendes Projekt lagen hinter ihm. Es fehlte einfach ein Erfolgserlebnis. Ein Jäger ohne Beute. Der Gedanke kam ihm ganz natürlich, unschuldig und wie von selbst: Er hoffte, dort draußen würde ein Monster lauern, das aus dem Labyrinth seines kranken Hirns herausgetreten war, um zu morden. Und dass es nur von ihm aufgespürt werden konnte.

Tim starrte an die Decke und versuchte, aus dem Dunkel ein Bild entstehen zu lassen. Doch da war nichts – noch nichts.