Kapitel 27

»Deine Mutter hat nach dir gefragt.«

»Was will sie?«

Manfred dachte verächtlich, dass er besser hätte fragen sollen: »Was willst du?« Denn immer wenn Claudia von seiner Mutter anfing, war sie es doch in Wahrheit selbst, die irgendetwas wollte. Sie konnte seine Mutter genauso wenig leiden wie er selbst, dessen war er sich sicher.

Claudia sah ihn kopfschüttelnd an. »Was soll das, Manfred? Sie durfte dich in der Klinik nicht besuchen, während du fast gestorben wärst, und jetzt meldest du dich auch nicht bei ihr. Ich weiß, du magst sie nicht sonderlich, aber sie ist immerhin deine Mutter.«

Manfred hasste Claudia in diesem Moment dafür, dass sie ihn zwang, an diese ekelhafte alte Raupe zu denken, die immer noch behauptete, ihn zu lieben und regelmäßig sehen zu wollen.

»Ich bin aber dummerweise nicht gestorben, aber sie kann das gern für mich übernehmen.«

»Manfred, sei nicht so boshaft. Wenn sie tatsächlich eines Tages stirbt, werden dir solche Worte noch leid tun.«

Das war wieder einer der Augenblicke, in denen ihm bewusst wurde, wie wenig seine Frau ihn kannte. Er wollte das Thema lieber lassen und entgegnete deshalb nichts mehr. Stattdessen fragte er: »Muss Max jetzt nicht langsam ins Bett?«

»Bring du ihn doch, er fragt sowieso nach dir wegen der Gutenachtgeschichte.«

Das erinnerte ihn daran, dass er Max versprochen hatte, das Märchen vom lieben Gott weiter zu erzählen. Als er in sein Zimmer kam, lag der Junge schon im Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen. Manfred trat an ihn heran und zog die Decke mit einem Ruck ab. Er hatte es geahnt: Max lag noch voll bekleidet da. Nun, da er entdeckt worden war, lachte er aus vollem Hals, als wäre das die witzigste Sache der Welt. Diesen Humor kleiner Jungen hatte Manfred noch nie verstanden. Er hatte ihn nie gehabt. Aber er beneidete Max darum, und so war er ihm auch jetzt nicht böse.

»Maxelmann, wenn du dich jetzt sofort umziehst und wäschst, erzähle ich das Märchen weiter. Wenn nicht, dann nicht!«

Max sprang aus dem Bett, riss sich in wilder Unordnung die Kleider vom Leib, immer noch lachend, und rannte ins Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, hatte Manfred Gelegenheit, sich die ersten Sätze für den Fortgang der Geschichte auszudenken. Der Rest musste dann beim Erzählen kommen. Kurze Zeit später lag Max im Bett und schaute seinen Vater gespannt an. Manfred löschte das Licht. Nur durch die spaltweit geöffnete Tür drang noch etwas Helligkeit aus dem Flur ins Zimmer.

»Der liebe Gott ließ am Morgen Nebel aus den feuchten Wiesen des grünen Tals aufsteigen, an den felsigen Wänden der umliegenden Berge emporwabern und als einzelne Wölkchen dann von der Sonne verdunsten. Er hatte Spaß an den verschiedenen Stunden des Tages, dem kühlen Morgenhauch, der leuchtenden Mittagssonne, der milden Abendluft und dem roten Glühen des Himmels über den Bergspitzen, kurz bevor die dunkle Nacht alles in Schlaf hüllt. Doch am meisten Spaß hatte er an dem kleinen Adam, der wie er selbst das Leben liebte und sich an allen Dingen der noch jungen Welt erfreuen konnte.«

»Papa, was heißt wabern?«

»Soviel wie schweben oder so. Jedenfalls hatte Adam schon am Mittag mit allem gespielt, was er um sich herum vorfand, und irgendwann saß er allein und etwas traurig am Ufer des Flusses, der durch Gottes schönes Tal floss. Der liebe Gott setzte sich neben Adam, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: ›Adam, was ist mit dir?‹ Und Adam antwortete: ›Lieber Gott, ich bin so allein.‹ Der liebe Gott verstand Adam zuerst nicht, denn er war doch bei ihm. Doch dann wurde ihm klar, dass der kleine Adam nicht wie er selbst war und dass er für sich betrachtet einsam sein musste. Der liebe Gott sah sich um, und er sah, dass kein Geschöpf in dieser Welt für sich war. Jedes hatte seinesgleichen in großer Zahl. Da streichelte er dem Adam über den Kopf und sagte zu ihm: ›Adam, du kannst genauso wenig allein sein wie die Tiere im Wald und die Fische im Meer. Sag mir, welches Tier magst du am liebsten?‹ Adam überlegte nur kurz, dann sagte er: ›Lieber Gott, am liebsten sind mir die Schmetterlinge. Sie sind wunderschön und flattern leicht und lustig umher.‹ Als er das sagte, kam auch schon ein kleiner bunter Schmetterling, der vor Adams Nase auf und ab flog. Kurze Zeit später kam noch einer und wieder einer, und plötzlich war da ein ganzer Schwarm wunderschöner Schmetterlinge. Der liebe Gott hielt seine Hände über den Schwarm und führte die vielen kleinen Tierchen enger und enger zusammen, bis sie zu einem einzigen Körper verschmolzen, der auf dem Boden lag und sich reckte. Gott hauchte dem neuen Geschöpf seinen Atem ein, den er auch schon Adam geschenkt hatte, und da stand ein wunderhübsches Mädchen auf und lächelte erst den lieben Gott und dann den staunenden Adam an. Es nahm den kleinen Adam bei der Hand und sagte: ›Ich bin Eva. Mein lieber Adam, Gott hat uns zwei geschaffen, damit wir beide gemeinsam diese Welt verstehen lernen. Lass uns gehen!‹ Die beiden Kinder liefen Hand in Hand lachend davon, und der liebe Gott blieb allein am Ufer des Flusses zurück. Er war glücklich, denn er sah, dass alles, was er geschaffen hatte, gut war. Und so ging auch dieser Tag zu Ende, und der liebe Gott konnte ruhig und zufrieden einschlafen.«

»Das war’s schon?«, fragte Max und gähnte.

»Reicht dir das nicht? Mehr fällt mir heute nicht ein, und außerdem ist der Tag vorbei, für den lieben Gott, Adam und Eva und auch für den kleinen Max. Schlaf gut und träum was Schönes.«

»Du auch. Hol die Mama noch!«