Kapitel 33
»Hast du für dieses Jahr noch Touren in Planung?«
Tim saß auf dem Boden und sah den Mann, der vor ihm stand und das Seil aufnahm, schräg von unten an. Manfred war größer als er, dabei schlank, aber ziemlich athletisch. Untypisch für einen Menschen seines Berufsstands war der dichte dunkle Vollbart, der seine untere Gesichtshälfte bedeckte. Beim Klettern machte er nicht viele Worte, versuchte auch nicht, von dem Projekt zu sprechen, wegen dem sie sich beim Verlag getroffen hatten. Als Manfred Jeschke ihn angerufen hatte, um sich mit ihm zu einem weiteren Kletterabend zu verabreden, hatte er erst befürchtet, der Mann würde den Sport für berufliche Absprachen nutzen. Diese Befürchtung schien sich jedoch als unbegründet zu erweisen. Gerade eben waren sie abwechselnd zwei heftige Routen im oberen siebten Grad gegangen. Beide hatten sie sie im Vorstieg sauber durchgestiegen.
»Ich war vor ein paar Wochen im Wallis«, antwortete Manfred auf Tims Frage. »Aber weitere Unternehmungen habe ich in diesem Jahr noch nicht geplant. Zumindest nichts Bestimmtes. Im Herbst zum Ausklang noch mal in die Dolomiten wäre schön, Drei Zinnen vielleicht oder wenn die Fitness stimmt sogar die Marmolada. Für mehr wird die Zeit wohl nicht reichen. Und du?«
Manfred sah auf den am Boden sitzenden Tim Schuster herab. Der Journalist schien ihm ein ganz unscheinbarer Kerl zu sein. Jedoch zeugten sein stechend klarer Blick und der offene, stets gelassen wirkende Gesichtsausdruck von großem Selbstvertrauen. Jetzt schüttelte er die von der Anstrengung verkrampften muskulösen Unterarme, an denen die Adern deutlich hervortraten, und antwortete: »Ich muss kein Unternehmen leiten, aber für dieses Jahr habe ich auch nichts mehr in der Planung. Da ich letztes Jahr in Tibet war, ist in dieser Saison nichts Großes mehr drin.« Und nach einer Pause fügte er lächelnd hinzu: »Gegen die Marmolada-Südwand hätte ich nichts einzuwenden.«
Manfred erwiderte das Lächeln und nickte zustimmend. Dieser Mann war sicher ein starker Partner für alpine Unternehmungen. Die Vorstellung, mit ihm durch eine klassische Wand zu steigen, gefiel ihm sehr gut. »Das sollten wir wirklich im Auge behalten. Könnte eine sehr schöne Sache werden. Und wenn das klappt, was meinst du, würdest du mit mir im nächsten Sommer die Matterhorn-Nordwand machen?«
Tim knetete nachdenklich seine nackten Füße, die er nach der Belastung von den engen Kletterschuhen befreit hatte. »Die Nordwand? Den Zmuttgrat am Horn bin ich schon gegangen, aber an die Nordwand habe ich mich noch nicht herangewagt. Wie gut bist du im Eis?«
»Gut genug für diese Tour. Ich denke, schwieriger ist möglicherweise das Klettern im vereisten Fels, viel im sechsten Grad.«
Tim kratzte sich den Kopf. »Mein lieber Mann, das ist eine Herausforderung. Ich denke, an der Marmolada werde ich sehen, ob man sich mit dir an so etwas wagen kann. Vielleicht gehen wir diese Tour nach dem Herbst noch mal im Winter, dann wissen wir, ob wir gemeinsam lebend durch die Nordwand des Matterhorns kommen können.«
Manfred grinste schief. »Ach so, du willst die Tour unbedingt überleben. Dann sollten wir noch mal darüber nachdenken!«
Sie lachten beide.
»Was hast du denn letztes Jahr in Tibet gemacht?«
»Ich war am Cho Oyu, bin aber nur bis Lager Zwei auf etwa sechstausendachthundert Meter gekommen. Ich wurde leider höhenkrank und musste schnell wieder runter.«
Manfred nickte anerkennend. »Donnerwetter, das ist doch schon was. Ich habe ja überhaupt keine Zeit für so große Sachen. Mehr als drei Wochen lasse ich meine Firma niemals allein, da kann man solche Expeditionen nicht machen. Lassen dir denn deine Recherchen genug Zeit? Was treibt dich denn beruflich um?«
»Das weißt du doch. Ich berichte über Kriminalfälle.«
»Fälle welcher Art?«
Tims Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich beschäftige mich mit Dingen, über die man nicht spricht, wenn man sich nicht die Laune verderben will.«
»Das hört sich ja geheimnisvoll an. Jetzt musst du mir mehr erzählen.« Manfred setzte sich jetzt ebenfalls hin und sah ihn an.
Tim seufzte und antwortete: »Ich verfolge Serienmörder. Derzeit bin ich einem Kerl auf der Spur, der hier in der Gegend mindestens zwei Mädchen erwürgt hat. Und er wird weitermorden. Bis ich ihn finde.« Tims Augen nahmen einen stahlharten Ausdruck an, als er das sagte.
Manfred nickte und sah zu Boden. Plötzlich hatte er den Geschmack von Milch im Mund. Nun wurde ihm klar, weshalb er diesen Tim Schuster unbedingt hatte kennenlernen wollen. Es hatte nichts damit zu tun, dass er den privaten Kontakt herbeigeführt hatte, um ein Geschäft erfolgreicher zu gestalten. Erst recht hatte er keinen neuen Kletterkameraden gesucht. Vielmehr hatte er gespürt, auf welche Weise sie miteinander verbunden waren. So wie der Fuchs den Jagdhund witterte. Er hatte gelernt, Ruhe zu bewahren, wenn Stress aufkeimte. Ich bin Manfred Jeschke, Geschäftsführer einer erfolgreichen Unternehmensberatung, hämmerte er sich ein. Und wer da vor mir auf dem Boden sitzt, ist nicht einmal ein Polizist. Er ist nur ein Schreiberling. Und er weiß nicht das Geringste von mir. Er atmete tief durch und sagte dann: »Das nimmt einen doch bestimmt ziemlich mit, oder?« Er schaute Tim an und versuchte, mäßig interessiert zu wirken.
»Allerdings. Und wenn eine Story fertig ist, gönne ich mir immer eine kleine Auszeit.«
»Dann musst du ja eine Menge mit so einer Geschichte verdienen. Aber das kann ich mir schon vorstellen. Serienmörder üben bestimmt eine Art von Anziehung auf die Leute aus, mit der man echt Kasse machen kann, wenn man das richtig rüberbringen kann. Ich denke da nur an Hannibal Lector. Arbeitest du auch mit der Polizei zusammen?«
»Schon. Aber oft genug bin ich einen Schritt schneller.«
»Und wie machst du das?«
Tim schaute ihn nun mit einem seltsamen Blick an, seine Augen wirkten fast traurig. »Jeder hat so seine Talente. Im Laufe der Zeit habe ich jedenfalls gelernt, dem Mörder so nahe wie möglich zu kommen. Nur so kann ich meinen Lesern eine interessante Story bieten. Das ist der Job.«
»Ich wette, das schaffst du auch.«
Eine Weile saßen sie schweigend da. Manfred hätte zu gern gewusst, was Tim jetzt dachte. Dann stieß er ihn mit dem Fuß an. »Komm her, ich zeig dir ’ne Route, die du nicht schaffst!«
Tim grinste und zog seine Kletterschuhe wieder an. »Das wollen wir doch erst mal sehen!« Dann folgte er Manfred durch die Halle.
Er ist völlig ahnungslos, dachte Manfred im Hochgefühl seiner Überlegenheit. Ein Jagdhund, der die Beute nicht einmal dann erkennt, wenn sie vor ihm steht.