Kapitel 6

Wie fast jeden Morgen setzte Manfred Jeschke in der Küche seiner Firma den ersten Kaffee auf. Es war halb sieben. Um diese Zeit musste er sich um so etwas schon selbst kümmern. Bis er die Kaffeemaschine befüllt hatte, würde auch der Computer, den er eben gestartet hatte, hochgefahren sein. Irgendjemand hatte am Vorabend herumgesaut. Eine eingetrocknete Milchlache klebte auf der Arbeitsplatte. Schnell wischte er die ekligen Rückstände mit dem Spültuch auf, dann wusch er das Tuch unter fließendem Wasser aus und reinigte anschließend seine Hände gründlich. Warum hatte dieses Schwein seinen Dreck nicht selbst beseitigt? Jeder in der Firma wusste, wie sehr er so etwas hasste. Ganz besonders bei Milch. Niemand trank in seiner Gegenwart Milch. Wenn er Gäste hatte und Uschi Kaffee servierte, achtete sie darauf, dass die Milchkanne immer weit weg von ihm stand.

Es war Montag. Manfred hatte gestern nicht annähernd so viel geschafft, wie er geplant hatte. Und nun fing die neue Woche mit diesem Milchfleck an. Er flüchtete in sein Büro, wo mittlerweile der Rechner mit dem Eingabedialog für das Netzwerk-Kennwort aufwartete. Er schrieb Steileis hinein. Im Eingabefeld standen nur die acht Sternchen als Platzhalter.

Steiles Eis. Er konnte es kaum erwarten, diese Faszination wieder hautnah zu erleben. Die Frische des Gletschers, die körperliche und geistige Herausforderung. Nirgends standen die Sterne klarer am Himmel als in den Bergen. Keine Computer, keine Krawatten, kein dummes Geschwätz. Nur er und die Kraft und Ausdauer, die ihm zur Verfügung standen. Sein Büro kam ihm klein und stickig vor, obwohl es das größte im Haus war. Fast konnte er den kalten Wind spüren, der dem Bergsteiger am Morgen die Gelenke versteift und die ersten Schritte zu einer Willenssache macht. Dann aber erwärmt ihn der steile Anstieg. Das schwere Seil drückt im Rucksack, und er ist froh, wenn es gefährlich wird, die Absturzgefahr zunimmt und er die Sicherung einsetzen muss.

Plötzlich hatte Manfred das Gefühl, beobachtet zu werden. Irgendetwas stimmte nicht. Er lauschte angestrengt.

»Moin, Manfred. Schläfst du?«

Das war Rolfs Stimme. Er drehte sich um. Sein Geschäftspartner stand in der Tür und grinste.

»Was machst du denn so früh hier?«, antworte Manfred.

»Was heißt hier früh? Es ist halb neun.« Rolf grinste immer noch.

Manfred schaute auf die rechte untere Ecke des Bildschirms, in der standardmäßig die Uhrzeit eingeblendet war. Doch da war nichts zu sehen. Der blinkende Cursor hinter den acht Sternchen zeigte an, dass er die Anmeldung noch nicht abgeschlossen hatte. Ein Blick auf die Armbanduhr offenbarte, dass es tatsächlich schon so spät war. Er wollte nicht glauben, dass wirklich zwei Stunden vergangen waren. Doch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, redete Rolf weiter. Offenbar war ihm die Sache mit der Uhrzeit völlig egal.

»Wie weit bist du mit der Ausarbeitung? Ich sollte doch ab heute Morgen korrekturlesen?«

»Ich bin spät dran. Ich kann dir erst in ein oder zwei Stunden was zu lesen geben.«

Mit einem Tastendruck bestätigte er das Kennwort und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Jetzt würde er sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Er spürte, dass sein Kollege noch einen kurzen Moment hinter ihm im Türrahmen stand, bevor er ihn dann endlich allein ließ.