8
Diesmal hieß mich in der Wohnung meiner Mutter keine raschelnde Gardine willkommen. Kurz geriet ich in Panik und malte mir das Schlimmste aus. Aber schließlich erwartete sie meinen Besuch ja gar nicht. Ich betrat den Hauseingang, stieg die steinernen Stufen hoch und klopfte an die Wohnungstür. Nichts. Ich klopfte lauter. Dann blickte ich auf die Armbanduhr: halb zwei – früher Nachmittag. Ein Dienstag. Ich stellte meinen Koffer vor der Tür ab, hängte meine nasse Jacke am Türknauf auf, stieg die Stufen wieder hinunter und ging zur Rückseite des Hauses. Alles klar: Aus dem Waschhaus, einem Steinbau, erklang ein munteres Plätschern und Rauch drang aus der offenen Tür heraus.
Ich steckte den Kopf hinein. Was ich sah, wirkte wie die Hexenszene in Macbeth auf mich: Vollständig in Dampf eingehüllt stand meine Mutter neben dem großen stählernen Waschtrog, der in eine taillenhohe Steinfassung eingebettet war. Darunter glühte und knackte ein Kohlenfeuer und erhitzte das Wasser. Meine Mutter trug ein Kopftuch und einen Hauskittel. Die Blusenärmel hatte sie hochgekrempelt, die Arme waren gerötet und voller Schaum. Mit beiden Händen hielt sie ein Laken und walkte es über dem geriffelten Waschbrett, das aus dem sprudelnden Kessel emporragte.
Hinter ihr drehte eine ihrer Nachbarinnen, Mrs. Cuthbertson, mit einem großen Handhebel ein anderes Laken durch die Rollmangel. Ständig strömten Wasserkaskaden in ein Holzbecken darunter. Das Gesicht meiner Mutter war zwar puterrot, aber sie genoss die Arbeit und summte fröhlich vor sich hin.
Als sie aufblickte, trat ein Leuchten auf ihre Miene. Sie schlug die Hände vors Gesicht, hielt kurz inne, wischte sich die nassen Finger am Hauskittel ab und rannte um den Kessel herum auf mich zu. Doch sie griff lediglich zaghaft nach meinen Armen, weil sie mich in ihren feuchten Waschtagsachen nicht nass machen wollte.
»Douglas! Du hättest anrufen sollen. Ich hab nichts vorbereitet, überhaupt nichts gebacken. Geht’s dir gut? Ist irgendwas passiert?«
»Nein, alles in Ordnung, Mum. Kann ich meine Mutter nicht einfach mal so besuchen, ohne dass gleich der nationale Notstand ausgerufen wird?«
Als sie mich genauer betrachtete, verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Du bist wegen Hugh gekommen, stimmt’s?«
Später, als wir in aller Ruhe vor dem Kohlenfeuer im hinteren Zimmer saßen und Tee tranken, hörte ich mir ihre Version der Geschichte an. Wie immer fühlte ich mich hier so, als hüllte mich eine warme Decke ein. Die Wohnung war winzig: zwei Zimmer, eines nach vorne raus, das andere ein Hinterzimmer, an das die Spülküche grenzte. Als es draußen dunkler wurde, stand ich auf und zündete die uralten Gasglühstrümpfe an, die das Zimmer in ein sanftes Glimmen tauchten. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug im Rhythmus, der die beschaulichen Tage meiner Kindheit unterteilt hatte, wenn ich mich in meine frisch ausgeliehenen Schätze aus der Bücherei vertiefte.
Ich stocherte im Feuer herum, bis sich die Flammenzungen im ganzen Kamin – groß, schwarz und aus Metall – ausbreiteten. Wir saßen links und rechts davon, genau wie die Porzellanhunde, deren dunkle Augen vom Kaminsims auf uns herunterblickten. Meine Mutter hatte den Vorhang vor das ausklappbare Wandbett gezogen, damit der Raum noch gemütlicher wirkte – eine völlig andere Welt als Hughs karge Zelle in Barlinnie.
»Mein Besuch scheint dich ja gar nicht zu überraschen, Mum«, sagte ich irgendwann.
»Vor etwa zwei Wochen hat Jessie Cuthbertson einen Anruf bekommen. Jemand wollte mich sprechen, die Sekretärin einer Anwaltskanzlei, weil sie sich mit dir in Verbindung setzen wollte. Jessie entdeckte deine aktuelle Nummer in ihrem Notizbuch und gab sie der Frau. Ich hoffe, das war in Ordnung?«, erkundigte sie sich besorgt. »Wir haben ihren Namen aufgeschrieben.«
»Klar, das war absolut in Ordnung.«
Sie nickte. »Der arme kleine Kerl. Und dazu noch Fionas Junge! Als bekannt wurde, dass der Mann aus Kilmarnock stammt, stand’s hier überall in den Zeitungen.«
In meinem Magen schlug etwas Purzelbäume. Meine Mutter hatte Fiona in diesem Haus vorher so gut wie nie erwähnt. Sich mit einem katholischen Mädchen zu treffen, war in den Augen meiner protestantischen Eltern fast so schlimm wie ein Kreuzchen für die Tories auf dem Wahlzettel. Meine Freundschaft mit Hugh tolerierten sie ausschließlich deswegen, weil er direkt nebenan wohnte.
»Wieso hab ich von dir nichts darüber erfahren?«
Sie wirkte verlegen. »Ich dachte, dir geht schon genug im Kopf herum und du hättest davon gehört und beschlossen, nichts dazu zu sagen. Du rufst ja nicht gerade oft an. Oh, ich weiß ja, was für’n Theater das jedes Mal ist.«
Das stimmte. Es bedeutete nämlich, dass ich bei Mrs. Cuthbertson anklingeln musste, damit sie die Treppe hinauflief und meine Mutter holte. Und die geriet dann jedes Mal in Panik, dachte, es sei irgendwas Schlimmes passiert, und brüllte in den Hörer, weil sie ja so weit weg war. Was ich als beiläufige freundliche Geste empfand, entwickelte sich auf diese Weise zu einem wahren Albtraum. Briefe machten weniger Umstände und hielten länger vor. Ich las die sorgfältig zu Papier gebrachten Zeilen meiner Mutter immer mindestens zwei- oder dreimal, nur um zu erfahren, was im Ort gerade geklatscht und getratscht wurde. Aber es gab natürlich Dinge, die man einfach nicht schreiben konnte.
»Es ist meine Schuld, Mum. Weißt du, was ich tun werde? Ich lass dir in der Wohnung ein eigenes Telefon installieren. Und mach dir keine Sorgen, ich zahl die Rechnungen.«
Sie sah mich bestürzt, fast ängstlich an. »Oh, ich will aber nicht, dass das Ding mitten in der Nacht läutet. Für was brauch ich es überhaupt? Alle, mit denen ich reden will, sind ja nur ein paar Schritte weg. Außer dir natürlich.«
Nachdem wir uns Tee nachgeschenkt hatten, schaute sie mir in die Augen. »Hat er’s getan, Douglas?«
Wie üblich hatte ich die Fähigkeit meiner Mutter unterschätzt, auch unvorstellbar schlimme Ereignisse zu verarbeiten. Sie hatte die ganze Geschichte, in die Hugh verwickelt war, so gelassen und vernünftig aufgenommen, als wäre er lediglich beim Schuleschwänzen erwischt worden.
»Aus den Tatsachen kann man kaum andere Schlüsse ziehen.«
»Aber?«
»Aber es bleiben jede Menge Fragen offen.«
»Welche zum Beispiel?«
»Die wichtigste Frage ist: Warum? Wieso hätte Hugh so etwas tun sollen? Der Junge wurde eine Woche lang vermisst. Als die Polizei Hughs Wohnung gleich am Anfang durchsuchte, fand sie nichts. Dann entdeckte man den Leichnam draußen vor Hughs Wohnung in einem Kohlenkeller und in seinem Zimmer tauchte plötzlich jede Menge Beweismaterial auf, das auf ihn als Mörder hindeutete. Wo hat er den Jungen denn die ganze Woche über versteckt? Wieso hat niemand was gesehen oder gehört? Wer hat der Polizei den Hinweis gegeben, ausgerechnet in diesem Kohlenkeller nachzusehen? Und was ist mit den anderen vier vermissten Jungen? Falls wirklich Hugh der Mörder ist, wie hat er es dann geschafft, den Kleinen so lange ruhigzustellen? Warum hat er Rorys Leichnam genau dort abgeladen, wo man ihn leicht finden konnte? Aus Nachlässigkeit? Oder weil er sich so sicher fühlte? Mag ja sein, dass man ihm all diese Fragen vor Gericht gestellt hat und die Antworten trotz allem seine Schuld bestätigten. Ich weiß es nicht.«
Eine Weile schwiegen wir beide. Sicher dachte meine Mutter genau wie ich an den kleinen, übel zugerichteten Körper, der im dunklen Kohlenkeller gelegen hatte, und an die vier Jungen, die nach wie vor vermisst wurden. Schließlich schüttelte sie den Kopf, als gäbe ihr das Böse in dieser Welt unlösbare Rätsel auf. Im flackernden Feuerschein glänzte ihr Haar silbrig.
»Wann ist es so weit?« Was sie meinte, war: Wann werden sie ihn aufhängen?
»In vier Wochen. Am 13. April.«
»Und was wirst du jetzt tun?«
Sie sagte nicht: Das geht dich alles nichts an. Halt dich raus aus dieser Geschichte, die zum Himmel stinkt. Was sollen die Nachbarn denken? Ihre Frage zielte nicht darauf ab, mich davon abzubringen, dass ich mich in den Fall einmischte.
»Ich weiß es nicht. Die Chancen stehen schlecht für ihn. Und die Zeit arbeitet gegen ihn. Wahrscheinlich wär’s vergebliche Liebesmüh, irgendwas zu unternehmen.«
»Aber du hast gesagt, es gibt offene Fragen.«
»Stimmt. Doch wer wird sie beantworten?«
Sie musste irgendetwas in meinem Gesicht gelesen haben, noch ehe ich es mir selbst eingestanden hatte, denn sie nickte plötzlich. »Genau wie dein Vater. Der musste den Dingen auch immer auf den Grund gehen.«
»Falls Hugh es nicht getan hat, muss es ein anderer gewesen sein.«
»Es geht dir dabei nicht um Fiona, oder?«
»Nein. Das ist sehr lange her.« Ich hoffte, sie würde mir das abnehmen.
»Ich richte dein Bett im vorderen Zimmer her. Die Spülküche müssen wir uns wie früher teilen, mein Sohn.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nur für diese Nacht, Mum. Ich besorge mir für eine Woche oder zwei eine Unterkunft in Glasgow, denn dort werd ich zu tun haben. Aber ich komm dich oft besuchen.« Ich lächelte ihr zu, um den Schlag, den ich ihr gerade versetzt hatte, ein wenig abzumildern. Es gelang ihr trotzdem nicht, die Enttäuschung zu verbergen.