2
Der Zug ratterte durch einen Bahnhof und die Lichter flackerten kurz auf, bevor wir wieder in die Dunkelheit eintauchten. In meinem Abteil roch es nach billigem Scotch. Der Kerl auf der Liege unter mir hatte ausgiebig an einer halbvollen Flasche von dem Fusel herumgenuckelt, um besser einschlafen zu können. Muttermilch dort, wo er herkam – wo wir herkamen, korrigierte ich mich. Als er mir die Pulle nach oben reichen wollte, hatte ich entschieden abgelehnt, nur um mir zu beweisen, dass ich dazu in der Lage war. Jetzt wünschte ich, ich hätte einen Schluck oder zwei genommen. Mein Gehirn fuhr Karussell mit mir. Ich blieb im Dunkeln liegen, zündete mir eine weitere Zigarette an und dachte über die Fahrt nach Hause nach. Und darüber, was dieses »Zuhause« für mich überhaupt bedeutete.
Da war einerseits Kilmarnock, der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen war. Und andererseits Glasgow, wo ich die Universität besucht und Sprachen studiert hatte. Danach war ich in einem unvermittelten Anflug von Rebellion in den Polizeidienst eingetreten. Eine Kleinstadt und eine Metropole, nur 20 Meilen oder rund 35 Kilometer voneinander entfernt – nach meiner Zeit auf dem europäischen Festland rechnete ich die Entfernungsangaben aus Gewohnheit um. Sie hätten genauso gut auf verschiedenen Kontinenten liegen können.
Auf der kurzen Zugfahrt von Kilmarnock nach Glasgow ließ ich damals nicht nur meine Kindheit und Jugend hinter mir. Nein, es kam mir fast so vor, als hätte jemand achtlos Streifen zweier völlig unterschiedlicher Kinofilme aneinandergeklebt, sodass sich nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Nebendarsteller, die ganze Handlung und der Spannungsbogen des Films veränderten. Das Einzige, was die beiden Schauplätze miteinander verband, waren die Sprache, in der das Drehbuch abgefasst war, der beißende Humor und die Schnodderigkeit der schottischen West Central Lowlands.
Hätte irgendein deutscher Spion versucht, diesen rauen Zungenschlag nachzuahmen, wäre er sofort aufgeflogen. Sein Versuch, in irgendeinem der zahllosen gnadenlosen Pubs in dieser Elendsgegend Pint und Pie zu ordern, hätte ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern und anschließend ein Plätzchen in der vergleichsweise sicheren Arrestzelle der örtlichen Polizeistation beschert.
Zuletzt war ich gegen Ende des Jahres 1943 in Kilmarnock gewesen, stolz darauf, auf den Schulterklappen die Zeichen des Luftwaffenleutnants und auf der Brust die Streifen, die meinen Einsatz in Nordafrika bezeugten, zur Schau zu stellen. Die starken Blau- und Grüntöne im MacKenzie-Tartan meines Kilts – das war der Regimentstartan der Seaforth Highlanders – überstrahlten das triste Kaki meines Uniformhemds. Mit dem Seesack über der Schulter und dem Tam o’ Shanter, der flachen Regimentskappe mit dem charakteristischen Pompon, in angemessen schrägem Winkel auf dem Kopf stieg ich aus dem Zug. Ich sah blendend aus, gesund und munter. Meine Beinverletzung war verheilt.
Das Training bei der Armee und die Nachwirkungen der Wüstensonne hatten mich in einen schlanken, gebräunten Krieger verwandelt. Während ich die Stufen der Bahnhofstreppe zur Hauptstraße von Kilmarnock hinuntersprang, brachte mich der heftige Schwung des Kilts dazu, den Kopf zu heben und die Brust herauszudrücken, als nähme ich an einer Parade teil. Ich marschierte die King Street mit ihren robusten viktorianischen Hausfassaden entlang und schlenderte danach lässig einmal um das Standbild von James Shaw auf dem zentralen Platz in der Ortsmitte herum.
Mir fiel das Lächeln auf den Gesichtern der Mädchen auf, das versprach: Dann sehen wir uns also am Samstag im Palais, ja? Und das wohlwollende Nicken der alten Männer, die mich willkommen hießen: Du hast jetzt deine Zeit abgeleistet, Junge, genau wie wir im letzten Krieg. Als ich glaubte, genügend stillschweigende Anerkennung geerntet zu haben, bummelte ich wieder die Foregate entlang und danach die Gas Brae. Am Hunslet Barclay’s Yard, dem Rangierbahnhof, wurde ich kurz aufgehalten, weil man dort eine neue Lokomotive über die Hauptstraße auf die Schienen leitete, wo sie später ihren Dienst antreten würde. Der Lokführer nickte und blinzelte mir zu – und ich fühlte mich sofort wieder wie ein von den riesigen Metallrädern und dem wuchtigen Heizkessel schwer beeindruckter Achtjähriger.
Ich unternahm einen Marsch in die eigene Vergangenheit, schüttelte mit jedem Schritt die Jahre von mir ab, befreite mich von der Politur der Bildung, von den Verhaltensweisen eines Städters, von Zynismus und drei Jahren harter Kämpfe. Weiter ging’s, den Hügel hinauf, zum Ortsteil Bonnyton. Links von mir gepflegte, rauchfarbene Reihenhäuser aus Sandstein. Gegenüber zu meiner Rechten eine Siedlung aus älteren, armseligeren Häusern, bewohnt von Bergarbeiterfamilien. Von hier holten die Busse Tag für Tag die Männer ab und brachten sie zu den schwarzen Flözen unter den fruchtbaren Hügeln von Ayrshire. Ich wandte mich nach Osten und marschierte durch die Reihen grauer Wohnhäuser und quer über die ausgedörrten Grünflächen. An den Leinen, die zwischen die gemeinschaftlich genutzten Pfosten gespannt waren, flatterte Wäsche. An jedem Ort der Welt hätte mich der Geruch frisch gewaschener Laken auf der Stelle in diese Siedlung zurückversetzt.
Sie stand hinter den Netzgardinen, wie ich an einer Bewegung bemerkte, und hielt Ausschau nach mir. Und natürlich stürzte sie sofort nach draußen. Ihr winziger Körper flog mir entgegen, das glänzende weiße Haar flatterte im warmen Wind. Vor einer kleinen Ewigkeit hatte dieses Haar noch die Röte von Vogelbeeren besessen. Ich schien diese wilde Farbe von ihr geerbt zu haben. Doch mit zunehmendem Alter holten die schwarzen Borsten meines Vaters zum Gegenangriff aus und verliehen meinen kupferroten Haaren zum Ausgleich die Couleur von getrocknetem Blut. Lediglich meine morgendlichen Bartstoppeln hatten sich die grelle Farbe des mütterlichen Schlachtenbanners bewahrt. Und die dunklen Augen meines Vaters, seine Größe und die breiten Schultern des Bergarbeiters triumphierten letztlich über ihre grauen Augen und die elfenhafte Figur.
»Hallo Mum«, rief ich, winkte, ließ meinen Seesack auf den Boden plumpsen und hielt die Arme für sie auf. Sie wetzte auf mich zu, unsicher, wo sie ihre Hände lassen sollte – vor dem Gesicht, ausgestreckt oder zu einem Dankesgebet gefaltet. Die Rückkehr des Helden.
»Oh Douglas, Douglas. Da schau an! Mein kleiner Junge!«
Schon strömten ihr Tränen über die Wangen. Und auch meine Augen waren feucht, als sie mich gegen sich drückte. Sie fühlte sich so zart und knochig wie ein Vögelchen an. Und roch so wie immer: nach einer Mischung aus Teerseife (mit der sie sich stets das Gesicht schrubbte) und Lavendel (von den Säckchen, die sie zwischen ihre Handvoll Kleider hängte). Genau der Geruch, der mein Zuhause ausmachte. Ich atmete ihn tief ein und wurde wieder zum Kind. Einige der Nachbarinnen streckten die Köpfe heraus, natürlich rein zufällig. Aber alle strahlten und freuten sich darüber, dass einer ihrer Söhne unversehrt heimgekehrt war. Auch wenn ihr Mannsvolk größtenteils nicht den Militärdienst angetreten hatte, weil die Bergarbeiter in den Gruben kriegswichtige Arbeiten verrichteten, gab es doch genügend Männer im Bekanntenkreis, die gar nicht oder als Kriegsversehrte zurückgekommen waren.
Der einzige Schatten, der sich über diesen Tag und alle kommenden senkte, war die Abwesenheit des großen Mannes, dem sich der Kohlenstaub tief in die Hände und den Stirnansatz unterhalb des Schutzhelms eingegraben hatte. Die Abwesenheit meines Vaters. Drei Jahre nach seinem Tod war die rote Mähne meiner Mutter schlohweiß geworden, als gäbe es keine Verwendung mehr für ihre Haarpracht.
Nachmittags würden wir mit Blumen zu seinem Grab gehen. Ich immer noch in Uniform, um ihm den erwachsenen Douglas zu zeigen. Den Mann, den er aus mir gemacht hatte. Aber ohne die Chance zu einem gutmütigen Lästern über die nunmehr von uns beiden getragene Uniform. Niemals würde er die Gelegenheit erhalten, vor mir mit einem unverschämten Grinsen zu salutieren, um zu demonstrieren, dass auch ein Feldwebel seinem Sohn die Ehre erweisen kann, selbst wenn aus ihm ein verdammter Offizier geworden ist.
Doch diese Heimkehr würde anders verlaufen. Nichts blieb mehr von dem Schwung und dem Gefühl von Unverwundbarkeit übrig – all dem, was mich vor zweieinhalb Jahren bei meiner Rückkehr beflügelt hatte. Meine Haut wies inzwischen die typische Londoner Blässe auf, der braunrote Haarschopf war an den Koteletten bereits grau gesprenkelt. Obwohl ich erst 34 war, auf halber Strecke zum biblischen Alter, ging es mit mir bereits abwärts.
Diese Aufforderung zur Heimkehr war zu schnell gekommen. Es kam mir so vor, als sauste ich Hals über Kopf auf einen Knotenpunkt in meinem Leben zu, an dem sämtliche dunkle Fäden aus meiner Vergangenheit aufeinandertrafen und mich in ihr Gespinst einwickelten. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn der Schaffner, der jetzt vor mir auftauchte, rot glühende Kohlen anstelle von Augen besessen und als nächste Station das Fegefeuer angekündigt hätte.
Hugh Donovan hatte den Krieg überlebt und mich von einem Münztelefon im Besucherbereich des Barlinnie-Gefängnisses in Glasgow aus angerufen. »Bar-L« oder das »Große Herrenhaus« nannten wir es immer. Wegen meiner eigenen Probleme war der Aufruhr nördlich der Grenze samt nachfolgendem Gerichtsprozess und Urteilsverkündung unbemerkt an mir vorbeigegangen.
Hugh wollte mich sehen, um mich von seiner Unschuld zu überzeugen. Aber warum gerade mich? Wieso rief er ausgerechnet den Mann an, den er hintergangen hatte, den Mann, der immer noch einen Groll gegen ihn hegte, weil er ihm etwas geraubt hatte? Warum zum Teufel ging er davon aus, dass es mich kümmerte, ob er schuldig oder unschuldig hinter Gittern saß? Genau in dem Moment, in dem ich wieder etwas Ordnung in mein Leben gebracht hatte, wirbelte er alles erneut auf, sodass ich wieder aus dem Takt geraten würde. Und nach allem, was ich gehört hatte, und der Recherche, die ich später am Tag anstellte, saß er eindeutig zu Recht im Gefängnis. Zwischen seiner Verhaftung im November 1945 und der Verurteilung samt Verkündung des Strafmaßes waren lediglich vier Monate vergangen.
Der Richter des Schwurgerichts in Glasgow hatte ihn zum Tode verurteilt. Sehr bald, in kaum mehr als vier Wochen, würde man Hugh Donovan am Frühlingsmorgen des 30. April aufknüpfen.
Ein Glück, dann bin ich ihn los.