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Die Hauptstraße führte mitten durch Enniskillen. Es herrschte lebhafter Verkehr; nicht zuletzt waren erstaunlich viele Pferdewagen unterwegs. Mir fiel auf, dass sich die Menschen in dieser Provinzstadt im Wilden Westen von Irland außerordentlich gut kleideten, doch dann riefen mir die Kirchenglocken ins Gedächtnis, dass heute Sonntag war. Der Umstand, dass ich einen großen Riley mit schottischem Nummernschild fuhr, trug mir die forschenden Blicke der Einheimischen ein. So nahe bei Lisnaskea bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich jemand vom Slattery-Klan hier herumtrieb und mich erkannte, deshalb setzte ich meinen Hut auf und zog ihn tief in die Stirn.

Die Gesichter der Menschen da draußen kamen mir irgendwie vertraut vor, auch wenn ich keinen von ihnen kannte. Aber diese Art von Gesichtern – so bleich und konturenlos wie Haferkekse – hatte ich während meiner Kindheit und Jugend in Westschottland hundertmal am Tag gesehen. Der Dialekt, der durch das offene Seitenfenster hereindrang, klang genauso unverständlich wie der schlimmste Slang in den Gorbals.

Nachdem ich Enniskillen hinter mir gelassen hatte, hielt ich mich Richtung Süden und steuerte direkt auf Lisnaskea zu. Ich wartete, bis ich einen Feldweg entdeckte, bog von der Straße ab und hielt an, um mich der Stille hinzugeben – zumindest dem, was man auf dem Land als Stille definierte. Denn während ich ausstieg und den Kofferraum öffnete, zwitscherten die Vögel so laut, als ginge es um ihr Leben.

Beim Geruch von Gras und warmer Erde fiel mir ein, wie ich vor vielen Jahren Hand in Hand mit Fiona am Kilmarnock Water, dem Flüsschen, das sich mitten durch den Ort schlängelte, spazieren gegangen war. Doch heute musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren. Ich wickelte das in ein Tuch gehüllte Bündel aus, das neben meiner Jacke im Kofferraum lag, und warf das Jagdmesser mehrmals in die Luft, um ein Gespür für seine Auswuchtung zu bekommen. Danach suchte ich mir einen etwa drei Meter entfernt stehenden Baum aus und schleuderte das Messer in dessen Richtung.

Da es scheppernd vom Stamm abprallte, änderte ich meinen Griff und probierte es erneut. Diesmal flog es schnurgerade und ohne zu schwanken auf den Baumstamm zu und bohrte sich in die weiche Rinde. Dieses Wurfmanöver wiederholte ich so lange, bis ich mit meiner Leistung zufrieden war und das Flugverhalten verinnerlicht hatte. Danach trat ich einige Schritte zurück, warf nochmals in gleicher Körperhaltung sowie mit gleichem Schwung und traf erneut. Anschließend säuberte ich das Messer und verstaute es mit der Spitze nach unten in meiner rechten Socke. Der Stahl fühlte sich kühl an und die scharfe Klinge drückte beim Gehen gegen den Fußknöchel.

Danach öffnete ich eine Patronenschachtel, holte die Dickson heraus, klappte ihren Kipplauf auf, steckte zwei Patronen in die Kammern und ließ den Lauf wieder einrasten. Ich hob das Gewehr an die Schulter und nahm ein paar über mir kreisende Krähen ins Visier. Am liebsten hätte ich jetzt die Präzision der Dickson getestet, wenn das auch nur ein Vorwand gewesen wäre, um wieder einmal den Rückstoß einer Waffe zu spüren und Kordit zu schnuppern. Schließlich lag es schon eine ganze Weile zurück, dass ich eine so hochwertige Waffe in den Händen gehalten hatte. Eine Zeit lang verfolgte ich damit eine Taube und brüllte peng peng!, doch das schien sie wenig zu beeindrucken. Ich verstaute das gute Stück vorübergehend im Stiefel und fütterte meine linke Jackentasche mit Gewehrpatronen, die rechte mit .455-Munition.

Als Nächstes ließ ich die Webley aufschnappen, überzeugte mich davon, dass in jeder der sechs Revolverkammern Kugeln steckten, ließ die Trommel nur zum Spaß einmal rotieren und verstaute dann, um für böse Überraschungen gerüstet zu sein, beide Waffen vorne im Wagen: die Dickson auf dem Boden unter dem Fahrersitz, damit ich mich nur leicht vorbeugen musste, um sie mir bei Bedarf zu schnappen, die Webley im offenen Ablagefach unter dem Lenkrad, sodass ihr vulkanisierter Griff beruhigend nah bei meiner rechten Hand auf ihren Einsatz wartete. Schließlich setzte ich mich wieder ans Steuer und fuhr dem Showdown im Wilden Westen entgegen.

In der irischen Grafschaft Fermanagh war Lisnaskea mit knapp 3.000 Einwohnern nach Enniskillen die zweitgrößte Ortschaft. Die Bevölkerung setzte sich größtenteils aus Landarbeitern oder Steinmetzen zusammen, die den Sandstein oder Kalk bearbeiteten, der überall im Norden beim Hausbau zum Einsatz kam.

Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es mir nur mit Dreistigkeit gelingen würde, die Planner Farm ausfindig zu machen. Deshalb fuhr ich direkt in die Ortsmitte hinein und auf der Hauptstraße entlang, die unvermittelt und ohne ersichtlichen Grund eine Biegung um 90 Grad vollzog. Vielleicht war diese eigenwillige Straßenführung der Trunkenheit eines Bauplaners geschuldet – oder aber den Verantwortlichen war eine lange gerade Strecke einfach zu langweilig erschienen.

In der Ortsmitte verbreiterte sich die Straße kurz, diesmal aus plausiblerem Grund, denn dort stand eine Markthalle aus schönem Sandstein, flankiert von einem hohen Steinkreuz, das wie aus einer anderen Epoche hinübergerettet wirkte. Ich hielt in der Nähe und streckte meinen Kopf aus dem Fenster, denn gerade zuckelten dort zwei alte Jungfern in ihrem schönsten schwarzen Sonntagsstaat vorbei. Auf den ergrauten Köpfen thronten fesche Hütchen, und mit ihren Handschuhen umklammerten sie Gebetsbücher.

»Entschuldigung, meine Damen«, sprach ich sie an. »Vielleicht können Sie mir helfen? Ich brauche eine Wegbeschreibung.«

Sie lächelten und hasteten herüber, um nachzuschauen, wer und was sich in dem großen Wagen verbarg. Glücklicherweise waren die Waffen so verstaut, dass die Frauen sie von draußen nicht entdecken konnten.

»Wonach suchen Sie denn, junger Mann?«, übersetzte ich mir ihren schwer verständlichen Dialekt.

»Nach einer Farm, der Planner Farm.«

Sie wichen so erschrocken zurück, als hätte ich mich gerade vor ihren Augen splitterfasernackt ausgezogen. Was ich in gewisser Weise wohl auch getan hatte.

»Und wen genau suchen Sie da?«

»Dermot Slattery.«

Ihre Köpfe fuhren herum: Sie tauschten einen wissenden Blick aus.

»Und was wollen Sie von dem?«

»Ich liefere ihm diesen Wagen. Den hat er in Glasgow gekauft und mich gebeten, ihn hierher zu überstellen.«

Das schienen sie zu schlucken.

»Immer geradeaus bis ans Ortsende, dann noch ein Stück weiter. Die Farm liegt etwa zwei Meilen außerhalb auf der rechten Seite. Sie können das Schild gar nicht verfehlen.«

Viel lieber hätte ich diese Angelegenheit zu nächtlicher Stunde als am helllichten Vormittag erledigt. Aber wenn ich die Zeit für einen Sturm auf die Festung als unpassend einstufte, ging es den Slatterys vermutlich ähnlich. Ich setzte darauf, dass sie sich im Moment für unangreifbar hielten – verschanzt in ihrer Burg, dazu noch auf heimatlichem Territorium. Bestimmt rechneten sie nicht im Traum damit, dass in ihrer Mitte plötzlich ein bis an die Zähne bewaffneter, eiskalter Schotte erschien. Andererseits stand zu bedenken, dass sich die Slatterys Sam als Köder geangelt hatten und vielleicht nur darauf warteten, dass ich anbiss und bei ihnen auftauchte.

Ich beobachtete, wie sich im Riley das Rädchen des Meilenzählers langsam vorwärtsdrehte. Als er die zweite vollendete Meile anzeigte, fiel mein Blick auf ein Schild und einen Zufahrtsweg, gesichert durch ein verriegeltes Holztor, derzeit aber offenbar unbewacht. Vorsichtig bremste ich und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 20 Meilen an der Zufahrt vorbei. Kein Mensch zu sehen.

Kurz erhaschte ich einen Blick auf ein Schieferdach und ein niedriges, weiß getünchtes Gebäude, das zur Linken und am hinteren Ende des Grundstücks von einem Wäldchen gesäumt wurde. Dann war ich auch schon daran vorbeigefahren.

Ich hatte etwa eine Meile zurückgelegt, als mir ein weiteres Gehölz auffiel. Als ich darauf zuhielt, fand ich das, was ich gesucht hatte: einen Forstweg. Ich holperte mit dem Wagen über die Buckelpiste, bis ich von der Straße aus nicht mehr zu sehen war, und bog in eine kleine Lichtung ein. Mittlerweile raste mein Herz, weshalb ich mich kurz zurücklehnte und die Augen schloss. So gut ich konnte, rekonstruierte ich das Bild der Farm in meinem Kopf.

Bei den Seaforth Highlanders hatten die Ausbilder uns beigebracht, gegnerische Ziele in der Kürze eines Wimpernschlags zu registrieren – eine Übung, die das fotografische Gedächtnis schulte.

Also gut, was hatte ich gesehen? Einen geraden Zufahrtsweg, knapp 150 Meter lang, der zu einem klobigen Gebäude führte, das wie ein Hufeisen angelegt war, dessen Enden nach vorne in Richtung Auffahrt wiesen. Zwischen diesen Seitenflügeln hatte ein schwarzes Auto geparkt. Rechts davon glaubte ich eine Person erspäht zu haben, doch in diesem Punkt war ich mir nicht ganz sicher. Das Kennzeichen blieb ein Rätsel, aber der Wagen sah wie der große Austin aus, der mir auf Arran begegnet war. Wenn das stimmte, fanden vier, vielleicht auch fünf Personen bequem darin Platz. Vermutlich waren Dermot und seine Frau, Gerrit und ein oder zwei Leibwächter damit nach Irland gefahren. Und der Kofferraum bot genügend Stauraum für ein gefesseltes Entführungsopfer. Oder auch für eine Leiche.

Ich stieg aus, ließ den Revolver in der Innentasche meines Jacketts verschwinden, warf mir das Jagdgewehr mit nach unten gerichtetem Doppellauf über die rechte Schulter, den Riemen der Wasserflasche über den anderen Arm und lief zur Straße zurück.

Je nach Situation würde ich vielleicht unverzüglich ins Gebäude hineinstürmen. Die Sache auf die harte Tour durchziehen. Falls die Farm scharf bewacht war, konnte ich mir zumindest eine Orientierung über das Gelände verschaffen und am Abend zuschlagen. Vor allem befürchtete ich, dass die Slatterys Wachhunde einsetzten. Und wenn diese Biester auch nur das kleinste Geräusch hörten oder einen Fremden witterten, würden sie sich bis zur Teezeit die Seele aus dem Leib kläffen oder mir ein Stück aus dem Allerwertesten reißen.

Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
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