19

Wir schafften es, noch einen Anstandsrest Whisky in der Flasche zu lassen, weshalb uns wohl auch der Brummschädel am nächsten Morgen erspart blieb.

Zusammen mit Sam ging ich in die Kanzlei, um auf Neuigkeiten von unserem Agenten auf der Insel Arran, dem Geistlichen, zu warten. Ich nutzte die Zeit, um die Fahrpläne der Eisenbahn und der Fähren zu studieren. Kurz vor Mittag kam Samantha aufgeregt zu mir ins Vorzimmer. »Sieht so aus, als hätten wir ins Schwarze getroffen«, erklärte sie. »In Lamlash ist im Januar eine neue Familie angekommen, eine Mutter mit vier Kindern. Sie haben dort eine Wohnung gemietet. Der Priester wird Sie zu ihnen bringen. Ich hab ihn gebeten, gegenüber der Familie nichts zu erwähnen, bis Sie vor Ort sind. Er erwartet Sie mit der ersten Fähre morgen früh.«

Ich nahm den Zettel entgegen, auf dem Sam die Fährzeiten notiert hatte. »Da hat Cassidy ja wirklich ein Ass aus dem Ärmel gezogen. Wir können nur hoffen, dass es tatsächlich die richtigen Leute sind. Und dass wir sie dazu überreden können, vor Gericht auszusagen. Vor allem, dass sie etwas Relevantes vorbringen können.«

»Wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, Brodie. Das muss uns einfach einen Ansatzpunkt liefern!«

Ich nickte und bereute zugleich, dass ich ihr Hochgefühl gedämpft hatte, was ihren Augen deutlich anzusehen war.

»Wissen Sie, wir könnten die Sache ja auch ein bisschen beschleunigen«, sagte ich deshalb. »Ich dürfte gerade noch die letzte Fähre erwischen, die von Ardrossan ablegt. Dann wäre ich bereits heute gegen 19 Uhr in Brodick. Dort kann ich übernachten und dann gleich in der Frühe den Bus nach Lamlash nehmen. Dadurch gewinnen wir einen halben Tag.«

Sie nickte. »Wunderbar. Hier ist ein kleiner Zuschuss zu den Reisekosten.« Sie reichte mir eine große weiße Note: fünf Pfund. »Nehmen Sie’s! Ich kann es bei den Prozesskosten als Aufwandsentschädigung verbuchen.«

Ich zögerte zwar, war im Grunde aber froh über diese Aufstockung meines schwindenden Barvermögens.

Zur Vorbereitung auf den kleinen Ausflug stopfte ich später in Sams Wohnung ein Paar Socken, Unterhosen und einen sauberen Wechselkragen in meine Manteltaschen. Mein Rasierapparat und eine Zahnbürste fanden im Jackett Platz. Danach machte ich mich auf den Weg.

Am Nachmittag hatte sich der Himmel zugezogen. Der leichte Westwind kündigte Nieselregen an. Ich glaubte, Meersalz in der Luft wahrzunehmen, aber vermutlich handelte es sich lediglich um den herüberwehenden Rauch von den Werften. Nachdem ich mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof gefahren war, stieg ich in den Zug nach Ardrossan und ging, dort angekommen, sofort zur Fähre.

Die Glen Sannox war leider keiner dieser wunderbaren alten Schaufelraddampfer, sondern ein von Turbinen angetriebenes Dampfschiff. Trotzdem erinnerte es mich an die Duchess of Argyll, auf die mich mein Vater gleich nach dem Ersten Weltkrieg mitgenommen hatte. Beim Anblick der beiden Schornsteine und des schlanken Bugs war ich genauso aufgeregt wie als kleiner Junge vor 25 Jahren. Als wir von der Küste Ayrshires ablegten, rechnete ich fast damit, meinen Vater rufen zu hören: Halt dich an der Reling fest, Junge! Vom Hafen aus glitten wir in den Firth of Clyde und nahmen Kurs auf die lang gestreckte Insel Arran. Das Fahrtziel, Brodick, lag mitten an der Ostküste. Dieser Dampfer war nicht nur schön, sondern auch verblüffend schnell: Wie rasend durchpflügten die Turbinen das Wasser.

Bald darauf peitschte uns der Regen vom Atlantik her ständig ins Gesicht und die grauen Wellen brachen sich schäumend am Bug. Als der Dampfer in tiefe Wellentäler eintauchte, um sich gleich im Anschluss wieder daraus emporzuheben, fand ich es an der Zeit, meinen Magen mit einer Tasse Tee und einer Zigarette zu beruhigen. Also ging ich in den überdachten Innenraum und sah durch die mit Wasser bespritzten Fenster nach draußen.

Vor dem Krieg hatte es auf dem Firth of Clyde von Dampfern, Frachtern und hin und wieder auch Passagierschiffen nur so gewimmelt. Später durchpflügten dann Flotten grauer Kriegsschiffe das Gewässer – nicht nur nagelneue, von den Werften gerade vom Stapel gelassene Prachtexemplare auf Jungfernfahrt, sondern auch uralte, mühselig wieder zusammengeflickte Vertreter. Auch diese schickte man hinaus in den Kampf mit den deutschen Wolfsrudeln, die nicht nur unsere Küste, sondern auch die ganze Route bis nach Amerika heimsuchten.

Die Fähren – damals mit Schwermetall gepanzert und zur Verteidigung mit lächerlich kleinen Geschützen ausgerüstet – sollten vor allem nach U-Booten suchen. Bei der Vorstellung, in dieser schiefergrauen Brühe zu ertrinken, wurde mir eiskalt ums Herz. Was war schlimmer? Oberhalb des Meeresspiegels an Bord eines Schiffes zu sterben, wenn dort ein Torpedo einschlug? Oder in der Tiefe, in einem U-Boot, wenn Unterwasserbomben die Außenverkleidung sprengten, sodass das Wasser ungehindert hereinströmte? Ertrinken war ja schon schlimm genug, aber in einem stählernen Sarg gefangen zu sein, während er auf den Grund des Atlantiks herabsinkt und das Wasser durch die zerstörten Schotts hereindringt, kam meiner Vorstellung von der Hölle sehr nahe.

Heutzutage ging es auf dem Clyde gemächlicher zu. Die Fähren, die den Kriegseinsatz überstanden hatten, waren wieder für tägliche Fahrten zu den Inseln Cumbrae, Bute und Arran im Einsatz. Manche hatten sich 1940 sogar bei der Verteidigung des letzten Evakuierungshafens der British Expeditionary Force in Dünkirchen beziehungsweise bei der Operation Dynamo bewährt. Damals schifften sich mehr als 300.000 Soldaten der Alliierten nach England ein; sozusagen im letzten Moment, ehe die Deutschen die Stadt endgültig einnehmen konnten.

Der Wahnsinn des Krieges gehörte inzwischen der Vergangenheit an, doch es würde noch einige Zeit dauern, bis der Weltmarkt sich davon erholt hatte und neuen Bedarf für zivile Fracht- und Passagierschiffe anmeldete. In Anbetracht der vielen Wracks rechnete die Werftindustrie für die nahe Zukunft mit einem wahren Boom an Aufträgen.

Zur Feier des Tages leistete ich mir ein Hörnchen mit Marmelade und eine zweite Tasse Tee, während durch die vorderen Bullaugen die Insel zunehmend an Größe gewann.

Der Dampfer war keineswegs voll besetzt, denn für sommerliche Ausflügler war es noch zu früh in der Saison und für Geschäftsreisende zu spät am Tag. Mir konnte das nur recht sein. Ich genoss die Klimaveränderung und die kurze Verschnaufpause, die mir Gelegenheit gab, das Chaos in meinen Gedanken zu entwirren.

Wieder einmal hatte ich eine Entschuldigung dafür gefunden, meinen Besuch bei Fiona aufzuschieben. Was war nur aus dem Krieger geworden, der seine Kompanie vor nicht allzu langer Zeit in die Schlacht geführt hatte? Jetzt zog er bereits beim Gedanken an die Begegnung mit einer Verflossenen feige den Schwanz ein!

Beiläufig strich ich über die bereits verschorfte Stichwunde an der Stirn und fragte mich, was die beiden Gangster, die mich in der Toilette des Pubs angegriffen hatten, wohl gewusst haben mochten. Wieso waren sie überhaupt auf mich losgegangen? Reagierten sie auf jeden Fremden so, der sich in ihr Revier vorwagte und neugierige Fragen stellte? Nach dem Motto »Nett dich kennenzulernen, und jetzt friss Scheiße, Arschloch«? Oder hatte sie jemand vor einem aufdringlichen Fremden gewarnt? Denkbar.

Ich musste unbedingt ihren Boss kennenlernen – Dermot Slattery – und herausfinden, was er wusste. Falls ich die Familie Reid aufstöberte und sie davon überzeugte, mir zu helfen, konnte ich bereits am Samstagnachmittag wieder in Glasgow sein und meine Fühler ausstrecken, um mich abends mit dem derzeitigen König der Messerstecher zu treffen. Die Zeit lief uns davon. Wir schrieben bereits den 5. April und mussten bis zum 15. April in Berufung gehen. Uns blieben also maximal zehn Tage.

Als die Fähre am Pier von Brodick anlegte, schlurfte ich zusammen mit der Handvoll anderer Passagiere von Bord, hinaus auf die nasse Landungsbrücke. Es regnete nicht mehr. Jetzt brach sogar die Sonne des späten Nachmittags durch die Wolken. Ein gutes Omen?

Am Deich entlang hielt ich auf die kleine Ortschaft zu. Am anderen Ende der Bucht, von vorbeiziehender Bewölkung immer wieder verdeckt, konnte ich vage Brodick Castle ausmachen. Mir fiel ein, dass mein Vater mir die Burg während unseres einzigen gemeinsamen Tagesausflugs in meinem früheren Leben gezeigt hatte.

Ich atmete tief ein und aus und genoss das Aroma von Seetang und Salzwasser, das in der Luft hing. Vielleicht sollte ich im Laufe des Sommers hierher zurückkehren und lange Spaziergänge am Ufer entlang und zu den Hügeln hinauf unternehmen. Auch meinem Bein würde das guttun. Und meine vom Leben in London blassen Wangen würden endlich mal ein bisschen Farbe bekommen. Möglicherweise hatte auch Sam von ihrem Vater die Wanderlust geerbt? Ein seltsamer und eigentlich unzulässiger Gedanke. Schließlich war sie in erster Linie eine überkorrekte Rechtsanwältin. Aber das Abendessen mit Fish and Chips hatte eine andere Facette von ihr enthüllt. Allerdings würde es sicher nicht leicht sein, auch bei anderen Gelegenheiten ihre eisige Fassade zu knacken.

Heute war es ziemlich ruhig im Dörfchen. Nur wenige der Bed-and-Breakfast-Pensionen hatten ihre Werbetafeln ins Fenster gehängt. Sie hoben sich ihre Bemühungen für den bevorstehenden Ansturm der Chips knabbernden und Eis leckenden Klientel während des Glasgow Fair auf. Familien mit geringem Budget nutzten die traditionell arbeitsfreien Marktfeiertage im Juli gern zu verlängerten Wochenenden auf der Insel und suchten sich dann preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten.

Längeren Urlaub auf Arran machten vor allem wohlhabendere Leute – mal abgesehen von den Touristen, die in Zelten auf den Campingplätzen oder in mitgebrachten Wohnwagen übernachteten. Wie Magneten zogen die gepflegten viktorianischen Häuser und Hotels die höheren Angestellten der Fabriken und Versicherungen samt deren Ehefrauen an – Menschen, die der nächsten Beförderung und einer Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern in Helensburgh entgegenfieberten. Dieses feine Seebad an der Nordküste des Firth of Clyde und der Ostküste des Gare Loch lag gerade so weit von Glasgow entfernt, dass man noch gut hin und her pendeln konnte.

Vor einem der großen Häuser – es bot einen Ausblick auf die Uferstraße und die Küste von Ayrshire – baumelte ein »Zimmer frei«-Schild lässig im Wind, als wollte es sagen: Mir doch egal, ob ich jemanden anlocke. Ich überquerte die Straße, ging hinein und sicherte mir ein Zimmer mit Meeresblick für den unschlagbar niedrigen Vorsaisonpreis von einer Crown und sechs Pence. Der einzige Nachteil bestand darin, dass ich mir ein Bad mit anderen Gästen teilen musste. Allerdings stellte sich heraus, dass es gar keine anderen Gäste gab! Das Frühstück kostete lediglich einen Shilling extra. Dafür würde man mir Tee und Toast servieren, so viel ich wollte, außerdem Rührei mit gebratenen Würstchen. Perfekt.

Den Argwohn der vollbusigen Zimmerwirtin – sie fand es seltsam, dass ich kein Gepäck dabeihatte – zerstreute ich, indem ich auf meine Manteltaschen verwies und ihr erklärte, ich müsse gleich am nächsten Morgen zu einer Besprechung nach Lamlash und danach wieder zurück nach Glasgow.

Im Ortszentrum, wenn man es denn so nennen wollte, gab es ein (noch geöffnetes) Café, außerdem einen Souvenirladen, einen Zeitungskiosk, eine Metzgerei und ein Fischgeschäft, die allesamt vergeblich auf Kundschaft warteten. Ich überlegte kurz, ob ich Sam einen Felsstein aus Arran mitbringen sollte, doch er sah wie Vorkriegsware aus. Wie am Vortag bestand mein Abendessen aus Fish and Chips, nur lenkte mich diesmal niemand davon ab. Samantha Campbells scharfe Zunge und ihr ebenso scharfer Verstand fehlten mir; ich vermisste sogar die nüchterne Geste, mit der sie ihr Haar immer hinter die zierlichen Ohren zurückschob.

Ich kehrte früh am Abend in die Pension zurück, schlief gut und bestieg gleich morgens mit einem von Würstchen und Buttertoast gut gefüllten und aufgewärmten Bauch den Bus nach Lamlash. Es war bereits warm, und als wir die schmale Asphaltstraße entlangtuckerten, stieg Dampf von den feuchten Straßen auf. Entlang der zerklüfteten Küste hielt der Bus auf Lamlash zu. Mühsam keuchte er den Hügel hinauf, konnte dafür aber praktisch im Leerlauf in die nächste Bucht hinuntersausen. Durch das dichte Laubwerk der Bäume, die die Straße säumten, erhaschte ich hin und wieder einen kurzen Blick auf die sichelförmige Bucht von Lamlash und das Dorf. Vor der Küste lauerte ein unförmiger Felsbrocken: Holy Island. Die kleine Insel wirkte wie ein perfekter Rückzugsort für Leute, die sich vor herumschnüffelnden Polizisten oder übereifrigen Reportern verschanzen wollten.

Der Bus kam eine Haltestelle vor dem Ortszentrum zum Stehen, ganz in der Nähe der katholischen Kirche, wie mir der Fahrer versicherte. Obwohl die Nordflotte der Royal Navy im Krieg ihr Domizil in der Bucht von Lamlash bezogen hatte, war sie kleiner als die Bucht von Brodick und nicht so gut auf Urlaubsverkehr vorbereitet. Ein Großteil des Dorfes bestand aus ordentlich aneinandergereihten Fischerhäuschen mit gepflegten Vorgärten. Den hinteren Ortsteil nahm die protestantische Kirche für sich ein.

Ich stieg aus, lief an der Uferpromenade entlang, setzte mich auf eine Bank, die eine schöne Aussicht auf den Sandstrand bot, holte eine Zigarette heraus und sah dem Plätschern der Wellen zu. Schon seit Jahren hatte ich nicht mehr aus bloßem Vergnügen aufs Meer hinausgeschaut. Früher war ich in Troon gern durch die Dünen spaziert oder mit nackten Füßen durch das flache Wasser gerannt. Endlich einmal empfand ich innere Gelassenheit, und das lag nicht nur am Nikotin. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie erschöpft ich war und wie sehr mir alles auf die Nerven ging. Der Krieg und sein bitteres Nachspiel. London und der nicht recht fassbare Groll, den die zerstörte Stadt ausstrahlte – eine Stadt, in der die Hoffnungen genauso beschränkt waren wie die Lebensmittelrationen.

Während ich den zänkischen Seemöwen lauschte, fragte ich mich, ob ich nicht der Metropole den Rücken kehren und Zuflucht auf Arran suchen sollte. Ich könnte hier vielleicht ein kleines Boot kaufen, Fische fangen und eigenes Gemüse in meinem Garten anbauen. Abends im örtlichen Pub vorbeischauen, um den Dorfklatsch mitzubekommen, mich gelegentlich auch an den gemütlichen Veranstaltungen mit Musik, Gesang, Tanz und Geschichtenerzählen beteiligen. Oder an den Dartturnieren.

Plötzlich fiel ein Schatten auf mich herab. Als ich mich umdrehte, zeichnete sich eine männliche Silhouette vor der Sonne ab.

»Sind Sie zufällig Mr. Douglas Brodie?« Aus seiner Stimme war der harte nasale Unterton des nordirischen Dialekts gut herauszuhören.

Während ich aufstand, fiel mir sein Priesterkragen auf. Er trug ein blaues Hemd und ein schwarzes Jackett. Das schüttere blonde Haar hatte er mit Frisiercreme dicht an den Schädel geklebt. Dennoch schien er mir fast zu jung für einen Priester zu sein. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkten ungeheuer verletzlich.

»Im Augenblick kommen nicht viele Gäste hierher«, fuhr er fort. »Außerdem habe ich Ausschau nach dem Bus gehalten. Ich bin Pater Connor O’Brien, Mr. Brodie.« Er streckte mir die Hand entgegen.

»Nennen Sie mich einfach Brodie. Und danke, dass Sie dazu bereit waren, sich so kurzfristig mit mir zu treffen.« Ich schüttelte ihm die Hand.

»Dann nennen Sie mich einfach Connor. Gestern wurde mir mitgeteilt, dass Sie im Laufe des Tages eintreffen würden. Aber heute Morgen rief mich Pater Cassidy an und sagte, Sie wären schon am frühen Vormittag hier.«

»Ja, wir stehen extrem unter Zeitdruck. Sie wissen sicher, warum?«

Er nickte. »Sollen wir hier sitzen bleiben? Es ist wirklich ein selten schöner Tag.«

Während wir uns beide auf der Bank niederließen, nahm er eine Zigarette von mir entgegen. Vermutlich war er in meinem Alter, litt aber unter frühzeitigem Haarausfall. Die Frisiercreme sorgte dafür, dass die spärlichen Strähnen die Kopfhaut so gut wie möglich überdeckten und nicht verrutschten. Die dicke Brille verstärkte den Eindruck, einen durch und durch vergeistigten Menschen vor sich zu haben, doch seine verblüffend kräftige Stimme deutete auf innere Zähigkeit und Härte hin – und das lag nicht allein am rauen irischen Dialekt.

»Wie kommt’s, dass Sie an diesen Ufern gestrandet sind, Connor?«, fragte ich.

»Ich bin in Belfast aufgewachsen und wollte irgendwohin, wo es friedlicher ist. Also hat man mich hierhergeschickt.« Er lächelte.

»Ist es hier nicht fast schon zu friedlich?«

»Eher zu klein. Schon komisch, wo hier doch nun wirklich Platz genug wäre.« Er deutete auf den weiten Himmel und die auf und ab tanzenden Wellen. »Es wirkt auf mich ein bisschen zu ...«

»Beengt?«

Er nickte. Ich wusste, was er damit meinte: die Nähe und Neugierde einer so kleinen Dorfgemeinschaft. All das hatte ich in Kilmarnock selbst erlebt. Einerseits zählen Vertrautheit und Anteilnahme zu den Vorzügen kleiner Gemeinden, doch es gibt auch Schattenseiten. Schmust man mit einem Mädchen in irgendeinem dunklen Hauseingang, kann man beinahe augenblicklich hören, wie die ganze Nachbarschaft empört nach Luft schnappt.

»Und Sie, Brodie? Wie kommt’s, dass Sie ausgerechnet hier gelandet sind? Welche Entschuldigung haben Sie vorzubringen?«

Mir war klar, dass er sich nicht nach meinem Auftrag erkundigte, schließlich wusste er in etwa, um was es ging. Er stellte mir eine gewichtigere Frage. Natürlich hätte ich ausweichen und sagen können, es dauere zu lange, das zu erklären. Oder auch so tun können, als hätte ich die Frage missverstanden. Doch da war etwas an ihm, das mir Vertrauen einflößte.

Die Situation erinnerte mich an die Begegnung mit einem Fremden im Pub beim Bier: In der Gewissheit, dass man sich ohnehin nicht wiedersehen wird, rückt man bereitwillig mit den jeweiligen Lebensgeschichten heraus. Also erzählte ich ihm, woher ich stammte, deutete über das Wasser zum Festland und zu den Stränden, an denen ich als kleiner Junge gespielt hatte. Berichtete ihm von meiner Zeit bei der Armee und davon, dass ich mit einer nicht allzu üppigen Abfindung ausgeschieden war und danach die journalistische Laufbahn eingeschlagen hatte, um meine angeschlagenen Finanzen aufzubessern. »Der Journalismus«, erklärte ich, »hat mir zwar schon nach dem Universitätsabschluss offengestanden, aber ich bin stattdessen zur Polizei gegangen. Und nun liegt der Journalismus auf Eis, weil man mich nach Glasgow geholt hat. Ich soll dabei helfen, Hugh Donovans Kopf aus der Schlinge zu ziehen.«

Der Priester hatte sich vorgebeugt, blickte mit auf die Knie gestützten Ellenbogen aufs Meer hinaus und warf nur hin und wieder ein »Verstehe« oder »Aha« ein, während ich meinen Monolog hielt.

»Meine Ermittlung auf Arran ist sozusagen ein Schuss ins Blaue«, gestand ich, »aber wir müssen auch die kleinste Chance nutzen.« Anschließend erläuterte ich ihm, warum die Suche nach Hughs ehemaligen Nachbarn so wichtig für uns war.

»Nun ja, Brodie, bis zu diesem Punkt in Ihrem Leben haben Sie’s nicht gerade leicht gehabt, wie? Aber zumindest kann ich Ihnen den nächsten kleinen Schritt erleichtern. Die Familie, um die’s geht, nennt sich Kennedy. Ich kann nicht sagen, ob die Leute wirklich so heißen. Aber sie sind Anfang des Jahres hier eingetroffen und stammen dem Dialekt nach eindeutig aus Glasgow. Sie gehören nicht zu meinen Schäfchen, doch diese Ortschaft ist, wie gesagt, so klein, dass neue Gesichter sofort auffallen. Und natürlich wird im Postamt über so etwas getratscht.«

»Handelt es sich um eine Mutter mit vier Kindern?«

Er nickte. »Sie hat ein kleines Haus in der Ross Road gemietet, im hinteren Teil von Lamlash, und für das erste halbe Jahr im Voraus bezahlt. Das sprach sich gleich rum wie ein Lauffeuer. Die Familie hält sich von der Dorfgemeinschaft weitgehend fern, aber die Frau hat die Kinder in der Schule und zum Religionsunterricht in der protestantischen Kirche angemeldet. Sie – ich meine Mrs. Kennedy – behauptet, ihr Mann sei im Krieg gefallen. Doch der Dorfklatsch ist anderer Meinung.«

»Vermutlich werden Sie bald erfahren, dass sie in Wirklichkeit Reid heißt. Und falls das stimmt, könnte sie etwas wissen, das einen Mann vor dem Galgen bewahren wird.«

Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
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