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Er hatte Sam an Händen und Füßen gefesselt und geknebelt. Aufgrund der beengten Verhältnisse hatte sie die Beine bis zur Brust angezogen und lag wehrlos auf dem Rücken. Sie wirkte angeschlagen, aber immerhin war sie bei Bewusstsein und hatte die Augen geöffnet. Als die Jacht Fahrt aufnahm, rollte ihr Kopf hin und her. Ich nahm das Gewehr herunter.
»Gut so, Brodie, du wirst jetzt brav nach meiner Pfeife tanzen. Wenn du mich verfolgst, krepiert sie nämlich.«
»Du kannst dich nirgendwo verstecken, Slattery«, brüllte ich. »Ich hab auch den lieben Dermot aufgestöbert, und jetzt schmort er in der Hölle!«
»Du bist ein gottverdammter Lügner, Brodie! Niemand nimmt’s mit Dermot Slattery auf!«
»Na ja, jetzt nehmen’s die Würmer mit ihm auf, Gerrit! Die Würmer auf der Planner Farm.«
Schlagartig veränderte sich seine Miene. Als ich sah, dass er die Waffe in meine Richtung schwenkte, tauchte ich ab, während er, außer sich vor Wut, einmal, zweimal auf mich schoss. Ich schaffte es zwar, aus der geduckten Position heraus mein Gewehr abzufeuern, verfehlte ihn jedoch deutlich. Nachdem er die Ruderpinne herumgeworfen hatte, legte sich die Jacht elegant in die Kurve und verschwand schnell in der Dunkelheit. Offenbar nahm er erst Kurs nach Westen, an der kleinen Insel Pladda mit ihrem Leuchtturm vorbei, um danach den Weg nach Südosten, Richtung Irland, einzuschlagen.
Ich schaute ihm nach, bis ich mir ganz sicher war, dass er mich nicht mehr sehen konnte, dann rannte ich über den Anleger und ließ mich in mein Boot fallen. Krachend schlug ich auf dem Boden auf und wäre beinahe gekentert. Ich brachte den Kahn wieder ins Gleichgewicht, verstaute das Gewehr, ließ den Motor an und brauste mit Vollgas aufs Meer hinaus. Slattery würde Sam auf jeden Fall umbringen, ob ich sie zu holen versuchte oder nicht. Wenn er’s nicht längst schon erledigt hatte. Er würde sie einfach wie überflüssigen Ballast über Bord schmeißen. Ich fragte mich, wie bald er probieren würde, das Hauptsegel aufzuziehen. Schaffte er das allein überhaupt? Wenn alle Segel aufgezogen waren, würde er mir endgültig entwischen.
Ich suchte nach dem Punkt, an dem ich die Jacht zuletzt gesehen hatte – westlich von dem sporadisch aufblinkenden Leuchtturm der Insel Pladda –, konnte ihn aber lange Zeit nicht ausmachen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich über die Wellenkämme. Da drüben! Beim kurzen Aufblitzen des Leuchtturmlichts sah ich etwas, das sich leicht schaukelnd vorwärts bewegte, und konnte mich daran orientieren. Also los! Die steife Brise trieb die Jacht immer noch mit hohem Tempo voran. Slattery konnte mühelos weiter auf dieser Route bleiben und den Rückenwind nutzen, bis er irgendwo in Irland von Bord ging. Vielleicht in Belfast, weil er sich in einer großen Stadt vermutlich sicherer fühlte. Nach meiner Schätzung machte er nur sechs oder sieben Knoten, ich dagegen zehn oder elf. Aber das konnte sich ändern, wenn der Wind weiter auffrischte. Oder es Slattery gelang, das Hauptsegel zu hissen. Oder mir der Treibstoff ausging.
Als der Mond sich den Weg durch die Wolken brach, wirkte das aufgewühlte Wasser wie mit Quecksilber überzogen. Wir waren schon ein ganzes Stück an Pladda vorbei, und ich konnte die Lorne deutlich sehen. Das Hauptsegel war noch immer nicht aufgezogen. Ich preschte weiter über die tosenden Wogen und hoffte dabei, dass Slattery auf der Jacht den Motorenlärm wegen des Klatschens der Bugwellen und des Winds in der Takelage nicht hören konnte.
Der Abstand verminderte sich zusehends. Noch 200 Meter, dann nur noch 100. Jetzt rückte Slattery direkt in mein Blickfeld: Er stand mit dem Rücken zu mir. Beide Hände bedienten die Ruderpinne, um Kurs zu halten. Ich meinte sogar, Sams blassen Körper und die weiße Bluse schimmern zu sehen, war mir aber nicht ganz sicher. Sehnsüchtig warf ich einen Blick auf die am Boden liegende Dickson, doch dann fiel mir ein, dass ich sie noch nicht nachgeladen hatte. Und eine Hand benötigte ich zum Steuern. Also zückte ich stattdessen den Revolver.
Mich trennten nicht mal mehr 20 Meter von der Jacht, als er mich schließlich hörte. Er drehte sich um und wickelte Schnur um die Ruderpinne, um sie in Position zu halten. Diese Gelegenheit nutzte ich, um mit der mächtigen Webley auf ihn zu feuern. Sie ging auch los – mit Rückstoß –, verfehlte aber ihr Ziel. Ich schoss ein weiteres Mal, aber mein Boot schwankte zu stark.
Gleich darauf zog er seine Waffe aus dem Hosenbund, beugte sich vor und zerrte an dem Körper zu seinen Füßen, stieß jedoch auf Widerstand. Schließlich zwang er Sam aufzustehen, indem er sie brutal an den Händen hochriss, die auf den Rücken gefesselt waren. Ihr Gesicht verkrampfte sich vor Schmerzen.
Er blieb stehen, setzte Sam als Schutzschild ein und drückte ihr die Pistole an den Kopf. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenklappen, doch er zog sie mit dem linken Arm eng an sich heran, damit sie nicht zu Boden stürzte. Dabei brüllte er mir etwas zu, das der Wind ungehört davontrug. Anschließend nahm er ihr den Knebel aus dem Mund und flüsterte ihr ins Ohr. Sie versuchte, etwas zu rufen, aber ich verstand es nicht. Als sie es erneut probierte, hörte ich nur »Zurück!« und dann »Fahr zurück, Brodie!«. Ich sah, wie Slattery grinste und mit der Waffe vor ihrem Gesicht herumwedelte.
Jetzt war ich so nahe herangekommen, dass ich Sams Gesichtsausdruck erkennen konnte. Ich hatte mit einer entsetzten Miene gerechnet, doch stattdessen empfing mich purer Zorn. Sie zog die Schultern leicht hoch, als müsste sie sich sammeln, und dann schlug ihr Blondschopf wie eine schwarze Mamba zu. Sie grub die feinen weißen Zähne in Slatterys Handgelenk, sodass er, völlig überrumpelt, die Pistole fallen ließ. Er stieß Sam mit solcher Wucht von sich weg, dass sie vor dem Cockpit bäuchlings auf dem Deck landete. Ich gab erneut Vollgas und ließ mein Boot wie eine Robbe durchs Wasser schießen.
Slattery suchte gerade nach seiner Pistole, als die Jacht ins Schlingern geriet. Offenbar hatte er die Ruderpinne nachlässig fixiert. Da nichts mehr gegensteuerte, schwang das Ruder zurück und die Ketsch drehte sich ruckartig um 90 Grad, sodass Slattery quer übers Deck zu den äußeren Planken oberhalb der Spanten geschleudert wurde. Dabei ließ er die Leine los, mit der man das Stagsegel am Hauptmast trimmte. Es löste sich und flatterte nutzlos im Wind hin und her.
Da die Lorne jetzt kaum noch Fahrt machte, ahnte ich einen Zusammenstoß voraus, schaffte es aber gerade noch rechtzeitig, mein Boot so zu drehen, dass es mit der Breitseite gegen den größeren Schiffskörper prallte. Ich ließ meinen Revolver fallen, griff nach dem an einem Tau befestigten Bootsanker am Bug und schlang ihn um die straffe Takelage der Jacht. Danach schaltete ich den Motor aus, zückte mein Messer und sprang auf das Deck zu Slattery hinüber.
Mein Gegner kam gerade wieder auf die Beine. Am Kopf hatte er eine tiefe Schnittverletzung davongetragen, aus der Blut strömte, möglicherweise kam eine Gehirnerschütterung dazu. Nachdem er sich das geronnene Blut aus den Augen gewischt hatte, merkte er, dass ich auf ihn zustolperte.
Am Rande meines Blickfelds sah ich Sam regungslos bei den Rettungsleinen liegen. Slattery hielt erneut nach seiner Pistole Ausschau und bückte sich. Doch als er sich wieder aufrichtete, hielt er nicht die Pistole, sondern eine fast zwei Meter lange Enterstange in der Hand – eine Kombination aus Speer und bösartigem Widerhaken. Genau das Richtige, wenn man einen großen Fisch an Land ziehen oder einen ungebetenen Gast nicht an Bord lassen, ihm vielleicht auch die Eingeweide aufschlitzen wollte. Er holte damit nach mir aus, verfehlte meinen geduckten Kopf jedoch knapp. Gleich darauf streckte er die Stange wie eine Lanze vor und zielte damit auf meinen Brustkorb. Ich wich zur Seite aus, geriet ins Straucheln und stürzte ins Cockpit, doch der dicke Holm der freischwingenden Ruderpinne bremste meinen Fall. Als die mit Stagreitern besetzte Stange an meinem Brustkorb vorbeifegte, fuhr ich zurück und prallte von der Ruderpinne ab. Halb fiel ich, halb sprang ich aufs Deck. Da ich kaum noch Luft bekam, fragte ich mich, ob eine meiner Rippen möglicherweise gebrochen war.
Slattery taumelte um die Pinne herum, holte mit dem Spieß erneut nach mir aus und traf mich an der Schulter. Zunächst spürte ich Schmerzen, dann wurde mein linker Arm taub. Dieser Kampf würde nicht lange dauern. Ein unverletzter, bewaffneter Mann ist gegenüber einem Einarmigen definitiv im Vorteil. Ich tänzelte hin und her, um Slatterys bösartigem Dreschflegel zu entgehen, und versuchte dabei, das Cockpit zwischen uns zu bringen.
Nach einer vollen Drehung fand ich mich weiter in Richtung des Achterschiffs gedrängt. Wieder und wieder bewegte ich den linken Arm, damit das Gefühl darin zurückkehrte. Plötzlich schoss mir ein beißender Schmerz durch die Glieder – immer noch besser als die Taubheit. Mittlerweile war ich bereits nahe am Schiffsheck angelangt und sah mich zu einem weiteren Zurückweichen gezwungen. Slattery hatte wieder sein dreckiges Grinsen aufgesetzt und sah aus, als witterte er Blut. Ständig versuchte er, auf mich einzustechen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis ich endgültig über Bord ging.
Blitzartig stieg eine Erinnerung in mir hoch – die an einen Kampf in Caen. Als wir einen Zug des deutschen Heers aus einer Scheune verjagten, war einer der Krauts wie vom Wahnsinn gepackt drei Meter vor mir aus der Deckung gebrochen. Mit aufgepflanztem Bajonett griff er mich an und brüllte dabei wie ein Irrer. Da hatte ich zum ersten Mal während dieser Verfolgungsjagd Angst bekommen.
Mein Training schaltete sich ein: Im Zweifelsfall lieber angreifen! Ich machte eine Rolle vorwärts und schoss in die Höhe, sodass mein Kopf fast Slatterys Gesicht getroffen hätte, während er den Spieß über mir schwang. Ich versuchte mit meinem Messer auf ihn einzustechen, aber er blockierte mich mit dem Endstück seiner Enterstange. Also rückte ich ihm noch näher auf den Leib und rempelte ihn an, wobei mir ein scharfer Schmerz durch die Schulter schoss.
Beide gingen wir zu Boden und wälzten uns, traten und schlugen aufeinander ein. Schließlich ließ er die Stange fallen, weil sie ihm im Nahkampf nichts nützte, und attackierte mich wie ein Verrückter mit Fäusten, Knien und Zähnen. Dann bekam er die Hand in den Griff, in der ich das Messer hielt, und schlug sie so lange gegen eine Metallverstrebung, bis ich meine Waffe fallen ließ. Allerdings gelang es mir trotzdem, mich herumzudrehen und das Messer aus dem Weg zu kicken. Wenn ich es schon nicht selbst einsetzen konnte, wollte ich es wenigstens nicht ihm überlassen.
Irgendwann schafften wir es beide, auf die Knie zu kommen und uns danach auf dem stampfenden Schiff aufrecht hinzustellen. Keuchend starrten wir uns böse an. Als der Besanmast plötzlich zurück zum Deck schwang, mussten wir uns beide ducken. Unverzüglich rannte ich zu ihm hinüber und wir verkeilten uns ineinander, als wären wir Betrunkene an einem Samstagabend, die sich auf dem Heimweg gegenseitig stützen mussten. Er versuchte das Blut, das auch seinen winzigen Bart durchtränkte, aus den Augen wegzuzwinkern. Währenddessen holte ich mit dem Kopf aus und stieß ihn Slattery mit voller Wucht ins Gesicht, so heftig, dass ich hörte, wie sein Nasenbein knirschte. Dann verlagerte ich meinen Griff, um ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
Im gleichen Moment schwang der Besanmast, der die Halteleine hinter sich herzog, erneut zurück. Instinktiv griff ich nach der Leine, schlang sie Slattery um den Hals, machte hastig einen einfachen Knoten, zog die Schot – wie die Segler diese Leine nannten – straff und machte sicherheitshalber noch einen zweiten Knoten. Während die Jacht wieder ins Schlingern geriet, stieß ich Slattery und den Mastbaum vorwärts. Als er am Deckrand strauchelte, versetzte ich dem Mastbaum einen zweiten Stoß. Slattery, der sich daran festklammerte, wurde mit ihm über Bord gezogen, bis seine Füße ins Wasser baumelten.
Um nicht hineinzufallen, klammerte er sich mit einem Arm an der hölzernen Spiere fest, während er mit der freien Hand verzweifelt versuchte, die Leine um seinen Hals zu lockern.
Doch dann brach sich eine große Welle an seiner Brust, wodurch er den Halt verlor. An der Schlinge, die sich noch fester zugezogen hatte, baumelte er ins Wasser. Voller Panik zerrte er noch eine ganze Weile daran herum und versuchte verzweifelt, die nassen Knoten zu lösen, doch sein Gewicht und die heranrollenden Wellen verhinderten es. Seine Füße strampelten im Wasser, als wollte er davonlaufen. Entsetzt wandte er mir das Gesicht zu und riss den Mund zu einem Schrei auf, doch kein Laut kam heraus. Keuchend blieb ich, wo ich war, und sah zu, wie er an dem Seil hing, das ihn bald erdrosseln würde. Ein- oder zweimal ging noch ein Ruck durch seinen Körper, dann erschlaffte er.
Der Mastbaum neigte sich unter dem Gewicht des Leichnams, der wie ein Anker ins Wasser getaucht war, und die Ketsch machte kaum noch Fahrt. Ich rannte zum Stagsegel hinüber und machte auch die vordere Leine los, sodass es im Wind wild hin und her flatterte. Schließlich bewegte sich die Lorne keinen Meter mehr vorwärts und blieb schwankend im Wasser liegen. Anschließend kehrte ich zum Mastbaum des Besansegels zurück und setzte den Enterhaken an der Stange dazu ein, ihn zur Deckseite hinüberzuziehen.
Anklagend starrten mich die aus den Höhlen getretenen Augen in Slatterys blau angelaufenem Gesicht an, doch ich empfand keine Reue. Ich zerrte die Leiche des Gangsters halb über die Reling zu mir. Danach hing sein Kopf über Deck und die Wellen umspülten nur noch seine Füße. Ich lockerte die Leine um seinen Hals, indem ich die Knoten löste, und sicherte sie mit einer Deckklampe, allerdings so, dass die Schot reichlich Spielraum hatte. Ich würde gar nicht erst versuchen, die Jacht allein zu segeln, bis ich genau wusste, was zu tun war. Außerdem war ich dazu im Moment sowieso nicht in der Lage, weil mir übel war und ich am ganzen Körper zitterte.
Hinter mir hörte ich ein leises Stöhnen.