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Im Hinrichtungstrakt des Hauptgefängnisses von Glasgow gibt es keine Fenster. Wohl nur ein besonders sadistisch veranlagter Architekt würde einen letzten Blick auf die malerischen grünen Hügel in der Umgebung zulassen. Das Gleiche gilt für Gemälde und Topfpflanzen. Eher unwahrscheinlich, dass man einen zum Tode Verurteilten mit einem hübsch gerahmten röhrenden Hirschen wie dem Monarch of the Glen oder einer schmucken Zimmerpalme erfolgreich vom Unvermeidlichen ablenken kann. Außerdem stattet der Besucher diesem Ort in der Regel nur einen einzigen Besuch ab. Mit einer Haube über dem Kopf.
Vor dem Krieg führte man mich einmal durch jenen Zellentrakt in His Majesty’s Prison Barlinnie. Noch heute, Jahre später, muss ich nur die Augen schließen, um mich an jede trostlose Einzelheit und den genauen Grundriss zu erinnern. Fast so, als hätte mir jemand beides in die Lider eintätowiert.
Stellen Sie sich eine Ansammlung grauer Monolithen vor, die die Landschaft am Stadtrand von Glasgow verunstalten. Massive Klötze mit winzigen Gitterfenstern, die Dächer mit viktorianischen Schornsteinen verziert. Gebäude, wie sie ein Kind entwirft, wenn es wie besessen ein Haus nach dem anderen auf seinen Malblock kritzelt. Dieser ganze hässliche Steinhaufen wird von einer hohen grauen Mauer umgeben. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf den Innenhof in der Mitte und das Gebäude, das jeder hier Trakt D nennt.
Im Inneren sieht es wie in den meisten Gefängnissen aus: ein hoher gewölbter Raum mit einander gegenüberliegenden Laufgängen, zwischen denen ein Abgrund klafft. Auf jeder Ebene an die Wände geklatschte Zellen. Metallplattformen als Brücken zwischen den Laufgängen. Stahltreppen, welche die einzelnen Ebenen miteinander verbinden.
Im dritten Stock jedoch gibt es diesen ganz besonderen kleinen Zellentrakt. Sein Insasse kann nirgendwo mehr hin. Er kann nur noch die kurze Brücke überqueren und auf der anderen Seite durch die schlichte Holztür treten. Machen Sie diesen Spaziergang, gehen Sie durch die Tür. Mit offenen Augen.
Hinter dieser Tür ist die Luft abgestanden, die weißen Wände scheinen auf einen zuzurücken. In der Raummitte befindet sich eine in den Boden eingelassene Falltür. Daneben steht ein Hebebaum, offenbar mit ihr verbunden. Unmittelbar darüber gähnen drei rechteckige Öffnungen in der Decke, sodass man den langen Tragebalken in der Kammer oberhalb erkennen kann. Durch die mittlere Öffnung baumelt ein Strick samt Schlinge vom Balken herunter. Auch die anderen beiden breiten Deckenschlitze sind einladend geöffnet, bestens gerüstet für Stoßzeiten, in denen man hier drei Todeskandidaten gleichzeitig hängen kann. Sie dürfen sich um den besten Platz auf der Falltür streiten.
Heute steht nur eine einsame Gestalt auf dem mit Kreide eingezeichneten T in der Mitte der Klappe. Der Oberkörper ist mit einem breiten Lederriemen gefesselt, den Kopf bedeckt eine Haube. Die Schlinge baumelt lose um den derart präparierten Hals, sie ist ummantelt von weichem Leder. Zumindest verhindert das Schürfwunden an empfindlicher Haut. Ein Messingschlupf sichert die Schlinge, damit sie nicht verrutscht, sondern sich schnell und wirksam zuzieht. Schließlich soll der Strick den Verurteilten nicht qualvoll erdrosseln, sondern ihm einen schnellen Tod durch Genickbruch bescheren – das Kennzeichen einer zivilisierten Gesellschaft.
Jetzt spaziert ein Mann in blauer Uniform über die widerhallenden Holzbohlen und greift grinsend nach dem Hebel. Mit einem schockierend lauten Schlag und einem Scheppern öffnet sich die Falltür. Der Tragebalken im Raum darüber ächzt unter dem Gewicht gequält auf. Die Gestalt stürzt in die Tiefe, wo eine Auffangwanne wartet. Der Strick steht unter Spannung und zittert wie eine gezupfte Gitarrensaite. Der Wärter amüsiert sich über die bleichen Gesichter der vier neuen Wachtmeister, die dem Schauspiel im Rahmen ihrer Weiterbildung beiwohnen. Dann gibt er dem Wärter im unteren Raum das Zeichen, die Attrappe vom Strick loszubinden.
All diese Bilder kann ich heraufbeschwören, während ich auf der oberen Pritsche meines Schlafabteils auf dem Rücken liege und vom Nachtzug nach Glasgow durchgerüttelt werde. Aber diesmal hat die Attrappe ein Gesicht. Unter mir und ringsum spüre ich, wie der Royal Scott durch die Nacht braust, wie die Stahlräder unerbittlich über die Schienen rattern. Hin und wieder kreischt die große Bestie schrill auf, sodass ihr mitternächtlicher Schrei durch das Grabesdunkel der Landschaft schneidet. Jedes Mal warte ich auf einen antwortenden Ruf, doch er bleibt stets aus. Zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren fahre ich nach Hause, und der Gedanke an das, was mich dort erwartet, erfüllt mich mit einer explosiven Mischung aus Zorn und Furcht. Ich ziehe noch mal an meiner Zigarette, beobachte, wie die Spitze aufglüht, wieder erlischt und der Rauch wirbelnd davontreibt.
Vier sorglose Tage früher gammelte ich in meiner winzigen Mansarde in South London herum. Zur Abwechslung machte ich mal eine gute Phase durch. Fast eine Woche lang hatte ich mehr geschlafen und weniger getrunken. Vielleicht hing beides miteinander zusammen. Meine frisch geputzten Schuhe – Drill der Armee – standen an der Tür, bereit für den Spurt zur Fleet Street. Die Frühlingssonne strahlte durch das schräge Oberlicht herein. Ich hockte am Tisch und trank meinen zweiten Becher Tee, während ich in der Times vom Vortag las. Daneben lag die Zeitung, für die ich arbeite, der London Bugle.
Man muss seinen Gegner kennen, pflegte mein alter Einpeitscher bei der Armee zu sagen. Hinzu kommt mein Faible für die Anzeigen auf der Titelseite der Times. Auf ihre Weise vermitteln sie ein genauso deutliches Bild von Britannien wie die Nachrichten und Berichte im Innenteil. Sie erzählen Geschichten eines Landes in Geldnöten, in dem Gentlemen ihre feinen Lederhandschuhe zum Verkauf anbieten und ehemalige Offiziere der Royal Air Force oder Träger des Distinguished Flying Cross sich als hoch qualifizierte Privatsekretäre anpreisen. Es ist eine Nation, in der gut ausgebildete Mechaniker Arbeit als Chauffeure suchen und Kriegshelden nach Gartenarbeiten oder handwerklichen Jobs Ausschau halten. Die Früchte des Sieges besaßen für einige Menschen einen bitteren Nachgeschmack.
Ich schlürfte meinen Tee und war dankbar für den Job, den ich gefunden hatte. Seit dem letzten Monat beschäftigte mich der Bugle als freien Mitarbeiter und gab mir regelmäßig Aufträge für Artikel. Darüber hinaus bestand Aussicht auf eine Festanstellung. Ich verdiente genug, um mir Essen, Zigaretten und Scotch leisten zu können – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Zumindest hielt es mich davon ab, einfach nur den kläglichen Rest meines Abschiedssolds zu versaufen.
Vor zwei Wochen hatte ich meinen schlaffen Körper zu Les’ Boxschule in der Old Kent Road geschleppt und bekam – mal abgesehen vom Muskelkater – langsam wieder ein Gefühl dafür, wie es war, wenn es einem in körperlicher Hinsicht gut ging. Das harte Aufbautraining für den D-Day, die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie, lag schließlich schon eine ganze Weile zurück.
Nach der leicht depressiven Stimmung der letzten Woche hoffte ich jetzt auf ein Licht am Ende des Tunnels. Der Sonnenschein auf dem Gesicht würde mir guttun. Ich war sogar so optimistisch drauf, dass ich bei Lena Horne mitsummte und unmelodisch eine Oberstimme zu Artie Shaws Solo improvisierte, die mir das BBC Light Programme gerade auf Langwelle servierte. Sogar die erste Zigarette des Tages schmeckte mir und diente nicht nur der Befriedigung meiner Nikotinsucht.
Da klingelte das gemeinschaftlich genutzte Telefon im Hausflur.
Ich schielte auf meine Armbanduhr. Gerade erst Viertel nach sieben durch. Irgendjemand begann den Tag offensichtlich verdammt früh. Mir war klar, dass Mrs. Jackson nicht an den Apparat gehen würde, es sei denn, sie hatte ihr Hörgerät aufgedreht. Warum ihre Töchter überhaupt das Telefon hatten installieren lassen, war mir ohnehin schleierhaft. Bei dem lauten Organ der Alten schien das völlig überflüssig zu sein. Die anderen drei Mietparteien erhielten nur selten Anrufe. Trotzdem hatte keiner von uns etwas dagegen, sich an den monatlichen Gebühren für den Apparat zu beteiligen.
Immer noch in Pantoffeln und Unterhemd eilte ich zur Tür. Ich hätte zwar gern noch ein Viertelstündchen Zeitung gelesen und das Kreuzworträtsel gelöst, aber vielleicht war es ein Anruf vom Bugle. Also sauste ich die drei Treppenfluchten hinunter und griff nach dem glänzenden schwarzen Hörer.
»Ja, hallo? Brodie am Apparat«, keuchte ich.
»Mr. Douglas Brodie?« Eine schicke Stimme. Eine professionelle Stimme. Die Stimme einer Telefonistin.
Langsam kam ich wieder zu Atem. »Ja, so heiße ich. Doug Brodie.«
»Bleiben Sie am Apparat. Ich habe ein Gespräch für Sie. Der Anrufer müsste dann jetzt bitte das Geld einwerfen.«
Ich hörte das Scheppern und Rasseln von Münzen. Es waren mehrere, mindestens im Wert von einem Shilling, also musste es sich um ein Ferngespräch handeln. Meine Mutter, die das Telefon ihrer Nachbarin benutzte? Ein Unfall? Schlechte Nachrichten kamen häufig früh am Morgen. Doch es meldete sich eine männliche Stimme mit schottischem Akzent. Genauer gesagt: mit westschottischem Akzent, der mir in Erinnerung rief, wie ich früher selbst mal gesprochen hatte.
»Bist du das, Dougie Boy?«
Mir lief es eiskalt den Nacken hinunter. Mittlerweile nannte mich niemand mehr Dougie. Schon seit zehn Jahren hieß ich überall nur Brodie. Die Stimme kratzte an meinen Erinnerungen, aber ich konnte ihr kein Gesicht zuordnen. Wollte es nicht. Mein Verstand wollte sich mit der offensichtlichen Ähnlichkeit nicht anfreunden. Denn diese Stimme stammte aus der Zeit der Pfeil-und-Bogen-Spiele, der ausgedrückten Pickel und tuschelnden Mädchen. Als Faustkämpfe mit blutigen Lippen und pochender Wut geendet hatten. Und aus der Zeit eines ungeheuren Verrats, der noch immer an mir nagte.
»Wer ist dran? Um was geht’s?« Um mich abzustützen, presste ich die Handfläche gegen die Wand und spürte, wie der kühle Verputz ihr jegliche Wärme entzog.
»Das ist die große Frage«, erwiderte die Stimme.
Ich kramte in meinen Erinnerungen. Klangfarbe und Rhythmus der Stimme waren schwerer und langsamer als früher, aber dennoch auf verstörende Weise vertraut. Ich wusste, wer am Apparat war, aber glaubte es nicht, konnte es nicht glauben. Wie sollte es möglich sein, dass er es war?
»Machen wir’s nicht komplizierter, als es ist. Wer ... sind ... Sie?«
»Erzähl mir bloß nicht, dass du das nicht weißt, du Protestantensau«, gab die plötzlich sehr resolut klingende Stimme zurück.
Jetzt war alles klar. Diese spöttische Begrüßung, typisch für den Westen Schottlands: Ich sah sein Gesicht vor mir, das Gesicht eines kleinen Jungen mit breitem, albernem Grinsen und schwarzen Stirnfransen. Damals hatten wir Soldaten gespielt, die aus den eigenen Schützengräben stürmten, um es mit den Maschinengewehren der Deutschen aufzunehmen. Wetteiferten darum, wer mit der größten Theatralik im Stacheldraht hängen blieb und zum Schein krepierte. Shug Donovan – oder Hugh, als wir anfingen, uns mit Mädchen zu treffen – schlug uns alle. Wenn er zu Boden stürzte, drehte er eine melodramatische Rolle vorwärts, gab laute Schmerzensschreie von sich und schlug mit den Armen wild um sich. Er wuchs zu einem hoch aufgeschossenen, gut aussehenden Jungen heran und wirkte mit seinen schwarzen Haaren und blauen Augen wie der Inbegriff eines keltischen Barden. Die Mädchen liebten ihn und sein unbekümmertes Grinsen, während ich ihn aus denselben Gründen hasste. Ganz besonders wegen dieses einen Mädchens, das sich in ihn verknallt hatte.
Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich 1929 aus Kilmarnock fortgegangen war, um an der Glasgow University zu studieren. Im Laufe der Jahre hatte meine Mutter mir hin und wieder seltsame Geschichten über ihn erzählt, obwohl sie wusste, dass es mich störte, wenn sie ihn auch nur erwähnte. Zu der Zeit, als ich mich in der Polizei von Glasgow hocharbeitete, machte er sich als Küfergeselle bei Johnnie Walker’s einen Namen. 1939 trat ich bei den Seaforth Highlanders in die Armee ein, obwohl ich selbst aus dem Tiefland stammte. Aber in diesem Regiment hatte schon mein Vater gedient. Donovan landete irgendwann als Heckenschütze bei der Bomberstaffel der Royal Air Force. Eine todsichere Methode, um wirklich ums Leben zu kommen – und so kam es vermeintlich auch.
1943 schrieb mir meine Mutter, Hugh Donovan sei in seinem Flieger bei der Bombardierung Dresdens in den Flammen umgekommen. Mein erster rüder Gedanke war: Geschieht dir ganz recht, du Arschloch. Gleich darauf schoss mir wegen meines schlechten Gewissens die Röte ins Gesicht, was mich dazu veranlasste, Donovans Mutter in einem Brief mein Beileid auszusprechen. Aber die Schuldgefühle dieses Moments wollten nicht verschwinden.
»Shug? Bist du das?«
»Klar doch, Dougie.«
»Aber wie zum Teufel kann das sein? Ich dachte, du wärst tot!« Meine kippende Stimme hallte im leeren Flur wider.
»Das dachte ich auch, Kumpel. Genau wie du.«
»Wie wunderbar, dass du überlebt hast, einfach fantastisch!« Nun konnte ich das mulmige Gefühl, wenn ich an Shug und unsere letzten Begegnungen dachte, ein für alle Mal begraben und eine neue Seite in unserer Geschichte aufschlagen.
Doch er unterbrach meine Überlegungen mit den Worten: »Dougie, das ist nicht ... das ist überhaupt nicht wunderbar ...«