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Ein anderer Gefängniswärter führte mich durch den Bau. Während wir uns dem Zellentrakt näherten, hallten unsere Schritte sehr laut auf dem gefliesten Boden wider. Schließlich gelangten wir zu einem offenen Raum mit einem Schalter, vor dem dicht an dicht Stühle standen. Über dem Schalter war ein knapp zwei Meter hohes Stahlgitter befestigt, das bis zum Tresen reichte.
Auf der anderen Seite des Gitters fanden sich weitere Stühle. Ich war der einzige Besucher. Nachdem der Wärter mir eine Sitzgelegenheit zugewiesen hatte, nahm ich Platz, zündete mir eine Zigarette an und nahm einige tiefe Züge, um mich zu beruhigen. Auf der anderen Seite, mehr als 15 Meter von mir entfernt, schwang eine Tür auf. Ein Wärter trat ein, blickte sich um und gab jemandem hinter sich ein Zeichen. Daraufhin schlurfte eine an den Hand- und Fußgelenken gefesselte Gestalt in grauem Overall mit gesenktem Kopf ein paar Schritte nach vorn, gefolgt von einem weiteren Wärter. Beide Aufseher deuteten in meine Richtung. Offensichtlich warteten sie darauf, dass der Häftling aufsah und ans Gitter herantrat.
Ich erkannte die Kreatur, die da unsicher vor der Tür stand und den Boden fixierte, nicht wieder. Ihr Schädel war kahl und wies an einigen Stellen blasse Hautverfärbungen auf. Von Shugs schwarzer Haarpracht keine Spur. Das konnte nicht Hugh Donovan sein, bestimmt lag hier eine Verwechslung vor.
Schließlich schlurfte der Häftling auf mich zu und blieb kurz stehen, um mich durch das Gitter zu mustern. Mit wackligen Beinen stand ich auf, während er sich mir gegenüber auf einen Stuhl kauerte, den Kopf über die Knie beugte, die Arme auf den Oberschenkeln ruhen ließ und die Hände faltete. Mit immer noch gesenktem Kopf begann er, vor und zurück zu schaukeln. Man hätte meinen können, er sei in ein Gebet vertieft. Und Beten hatte er bitter nötig, falls es sich tatsächlich um Donovan handelte und die Anschuldigungen gegen ihn zutrafen. Aber es war nicht der Kopf von Hugh.
Ich starrte auf den gemarterten, rötlich-weißen Schädel, der wie marmoriert aussah – so entstellt, als hätte sich die Haut darauf verflüssigt und dann gelöst. Was wohl auch passiert sein musste. Ich kannte den Anblick von Spitfire-Piloten. Sobald ihr Cockpit Feuer fing, zerschmolzen die Gesichter dieser jungen, gut aussehenden Männer regelrecht. Wenn die Perspex-Schicht in Flammen stand, gab es keine Möglichkeit mehr, den Brand zu löschen. Und während das Flugzeug auf den Boden zutaumelte, hatte man auch kaum eine Chance, das Cockpit aufzudrücken, ohne sich lebensgefährliche Verbrennungen zuzuziehen. Vermutlich passierte einem Heckschützen auf einer Lancaster das Gleiche, wenn sie von Phosphorgranaten getroffen wurde.
Ich nahm wieder Platz und stützte meine Arme auf den Tresen unterhalb des Gitters, der bis zur anderen Seite reichte.
»Hallo?«, sprach ich ihn vorsichtig an.
»Hallo Dougie.« Er blickte noch immer nicht auf. Seine Stimme klang verändert – er sprach sehr langsam und gedämpft –, aber es war zweifellos Hugh. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Sieh mich an, Hugh.«
Einen Augenblick lang rührte er sich nicht, dann hob er zögernd den Kopf. Zwar hatte ich mich auf den Anblick innerlich vorbereitet, aber nicht ausreichend. Mir stockte der Atem. Es war das Gesicht eines schlecht geschminkten Clowns. Völlig unbehaart, von Nähten und Furchen durchzogen, als hätte ein Kind stümperhaft versucht, einer Flickenpuppe ein Gesicht zu geben. Ein Ohr, das rechte, fehlte ganz. Die Nase war nur noch in Fragmenten vorhanden. Und dann lächelte er, was alles noch schlimmer machte. Eine verzerrte, schiefe Version seines früher so verführerischen Grinsens. Doch zumindest hatte er das Sehvermögen nicht eingebüßt. Die unverwechselbaren, leuchtend blauen Augen schienen mich hinter einer Maske, die er sicher jeden Moment ablegen würde, zu verspotten. Ich wartete auf sein Kichern und unser befreiendes gemeinsames Lachen.
Doch das hier war keine Halloween-Maske, wie wir sie als Kinder aufgesetzt hatten. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. »Oh Gott, Shug. Du hast wirklich was durchgemacht, alter Kumpel.« Instinktiv streckte ich durch das Gitter beide Hände nach ihm aus. Er glotzte sie an, lächelte nochmals verzerrt, streckte jetzt ebenfalls die entstellten Hände aus, berührte damit kurz meine Finger und zog sie dann sofort wieder zurück. Als ich sah, wie der Wärter auf Shugs Seite vortrat und mich kopfschüttelnd ansah, zuckte ich zusammen.
»Du wolltest wissen, wieso ich nie wieder Verbindung zu dir aufgenommen hab ...« Seine Stimme klang, als würde sie vom Meeresgrund aufsteigen.
»Ach verdammt, Shug, keiner von uns ist mehr so schön wie früher.«
»Ich würde jederzeit mit dir tauschen, Dougie«, sagte er leise.
Wir sahen einander lange in die Augen, bis es uns beiden peinlich wurde.
»Erzähl’s mir, Hugh.«
Mit Hilfe suchendem Blick hob er wieder den Kopf. »Ich hab diese Kinder nicht umgebracht, Douglas. Und schon gar nicht den kleinen Rory. Gott ist mein Zeuge, dass ich ihn nicht getötet hab. Wie könnte ich Fionas Jungen töten?« Ich beobachtete, wie seine Augen feucht wurden, und stellte mir die Frage, ob auch das eine seiner großen Lügen war – vielleicht die größte überhaupt.
Hugh und ich hatten in unserer Kindheit ständig miteinander gespielt, obwohl er katholisch war und ich der schottischen Nationalkirche angehörte. Er nannte mich eine Protestantensau, ich beschimpfte ihn als Papistenschwein. Oft boxten wir uns gegenseitig an die Schulter, um zu testen, wer den Schmerz am längsten aushielt. Unsere Freundschaft überstand die Märsche des Oranierordens durch Kilmarnock, bei denen die Trommeln, Flöten und Schärpen der Formation katholische Abweichler wie Hugh von den Straßen vertrieben. Und sie überdauerte auch die Zeit, in der wir unterschiedliche Schulen besuchten und Kindern die religiösen Unterschiede tief eingehämmert wurden. Wenn wir die Hauptstraße entlanggingen – Hugh im schwarzen Blazer seiner Schuluniform, ich in meinem bordeauxroten –, zogen wir zahlreiche Blicke auf uns.
Diese Freundschaft überlebte selbst die Auseinandersetzungen im örtlichen Tanzsaal, Speicher genannt. Eigentlich war das der Treffpunkt der jugendlichen Air Cadets, einer Freiwilligenorganisation der Royal Air Force. Dort legten sich die Protestanten häufig mit den Katholiken an, statt sich mit den Mädchen beim Tanzen zu amüsieren. Hugh ging wie die meisten meiner Kumpels mit 14 von der Schule ab, trat in die Fußstapfen seines Vaters und begann eine Lehre in der Küferei von Johnnie Walker’s. Ich besuchte dank eines Stipendiums der Bergarbeitergenossenschaft weiterhin die höhere Schule, um dort meinen Abschluss zu machen. Das war keineswegs meine eigene Entscheidung. Mein ständig hustender Vater hatte sich geschworen, nicht zuzulassen, dass ich ihm in die Zeche folgte.
Hugh und ich blieben auch in dieser Zeit in Verbindung. Eines Abends schleppte er seine Freundin Maureen, mit der er gemeinsam auf die St. Joseph’s gegangen war, im Speicher an. Und Maureen brachte ihre Schwester Fiona mit. Sie hatte dickes schwarzes Haar, das ihr fast bis zum Po ging, die stolze Kopfhaltung und schlanke Muskulatur einer Tänzerin und dunkle Wimpern, die ihre keltisch-dunklen Augen beschatteten.
An jenem ersten Abend sah sie mich so unbekümmert und herausfordernd an, als wartete sie nur darauf, dass ich irgendetwas Dummes sagte. Ich weiß nicht mehr, worüber wir genau geredet haben, aber es konnte nicht allzu blamabel für mich gewesen sein, denn bald darauf und auch am folgenden Samstag tanzten wir wie die Derwische miteinander. Ihr Haar schwang dabei herum wie die Mähne eines schwarzen Hengstes.
Es war damals ungewöhnlich – ist es vielleicht auch heute noch –, dass Katholiken mit Protestanten auf der Tanzfläche herumwirbelten. Wir konnten nur hoffen und abwarten, dass der Krieg dieses Problem vom Tisch fegen würde. Im Vergleich zu uns hatten es die Montagues und Capulets geradezu leicht gehabt.
Jedenfalls wurden Fiona und ich in jenem unbekümmerten Sommer ein Paar. Wir waren beide 15, und mich hatte die Liebe meines Lebens erwischt.
Auch das ganze folgende Jahr hindurch blieben Shug, Maureen, Fiona und ich unzertrennlich, obwohl ich noch zur Schule ging, während sich die drei anderen bereits ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Meine Taschen waren bis auf die paar Kupfermünzen, die ich beim Zeitungsaustragen verdiente, fast immer leer. Fiona arbeitete genau wie ihre Schwester und ihre Mutter im Hüttenwerk. Wenn ich sie von der Arbeit abholte – ich im Schulblazer, sie in ihrem Arbeitskittel, das lange Haar unter einem Kopftuch versteckt, das sie bei meinem Anblick sofort abnahm –, lästerten ihre Kolleginnen über mich. Die harmloseste Stichelei war noch, dass sie mich den Professor nannten. Aber das juckte uns damals nicht im Geringsten. Wir waren verliebt, und selbst das Drängen von Fionas Priester und ihren Eltern, diese skandalöse Beziehung unverzüglich zu beenden, stieß bei uns bis zum Frühling 1929 auf taube Ohren.
Doch dann erzählte mir Maureen, verbittert und mit hochrotem Gesicht, etwas, das alles änderte: Hugh und Fiona trafen sich schon seit Monaten heimlich. Plötzlich ergaben all die kleinen Ausflüchte von Fiona einen Sinn. Oft hatte sie behauptet, zu müde zu sein, um sich nach der Arbeit noch mit mir zu treffen, oder auch, sie müsse sich noch die Haare waschen. Manchmal tischte sie mir auch die Geschichte auf, mit ihren Freundinnen verabredet zu sein.
Ich erwischte Fiona und Shug dabei, wie sie Hand in Hand im Kay Park herumspazierten und sich leidenschaftlich küssten. Als ich mich schließlich zu erkennen gab, wusste ich nicht recht, was ich tun sollte: Shug verprügeln, Fiona ohrfeigen oder beide umbringen. Doch sie blieben wie angewurzelt vor mir stehen und sahen mich dabei so mitleidig an, dass ich mich einfach umdrehte und wegging. Hugh rief mir nach, es tue ihm leid, das alles sei ja nicht geplant gewesen. Ich hätte ihn vielleicht doch verprügeln sollen.
Das ist jetzt 17 Jahre her. Und wissen Sie was? Es hat auch 17 Jahre lang wehgetan und tut es noch immer. Was weiß ein Teenager schon von der Liebe? Alles und doch nichts. Nichts über die schwierigen Phasen einer Ehe. Nichts über die Tiefpunkte und Zweifel, die Ketten und Fesseln. Aber alles über das Funken sprühende Feuer eines Kusses. Alles über die Qualen bei der Frage, ob sie’s tun wird oder nicht. Alles über den inneren Aufruhr, das verzehrende Begehren und die letzte Gewissheit.
Warum sollte die Liebe eines Jugendlichen weniger wertvoll sein als die eines Erwachsenen? Sie ist zügellos, besitzt einen Hang zum Wahnsinn, es mangelt ihr an den Verteidigungsmechanismen und am Zynismus der späteren Jahre. Die erste Liebe brennt sich tief in ein Herz ein, das noch nicht vollständig entwickelt ist. Als ritzte man seine Initialen in die Rinde und entdeckt sie später groß und stolz auf einem ausgewachsenen Baumstamm wieder. In der Gewissheit, dass sie die eigene Lebensspanne überdauern und noch lange nach dem Tod den Wechsel der Jahreszeiten miterleben.
Natürlich hatte es seit Fiona weitere Freundinnen und Liebschaften gegeben. Nette Frauen, aufgeweckte Frauen, Frauen, die mit mir gespielt hatten, und auch Frauen, die ihr restliches Leben mit mir verbringen wollten. Aber ich war dafür nicht nur viel zu beschäftigt, sondern auch allzu wählerisch. Sie alle mussten sich den Vergleich mit Fiona gefallen lassen und zogen dabei den Kürzeren.
Ich blickte auf das zerstörte Gesicht vor mir. Jetzt konnte ich nicht mehr zuschlagen. Seit jenem Tag im Park hatte ich weder mit Hugh noch mit Fiona ein weiteres Wort gewechselt. Nur von anderen gehört, dass sie immer noch mächtig ineinander verknallt waren. Und dann heiratete Fiona plötzlich einen anderen Mann. Warum? Und wieso nicht mich? War ich nicht einmal zweite Wahl gewesen? Und sie hatte ihrem Ehemann, diesem Glückspilz, einen Sohn beschert. Warum nicht mir, Fiona?
Spielte die Vorgeschichte irgendeine Rolle bei der Ermordung ihres kleinen Jungen? Der Hugh, den ich kannte, wäre zu so etwas niemals fähig gewesen, schon gar nicht zur Tötung von Fionas Kind, großer Gott! Aber galt das auch jetzt noch? Schließlich kannte ich es aus eigener Erfahrung, wie die härtesten Kerle, wenn sie zwei Tage lang in einem Fuchsbau in der Wüste Bombardierungen durchgestanden hatten, völlig ausrasteten. Und ich selbst schreckte nach wie vor mitten in der Nacht in völlig durchgeschwitzten Laken aus dem Schlaf hoch, weil ich geträumt hatte, von Panzern überrollt zu werden. Welche Nachwirkungen mochte da erst eine Verbrennung bei lebendigem Leib nach sich ziehen?
Vor meinem Besuch hatte ich einen alten Kollegen bei der Glasgower Polizei angerufen, der mir erzählte, dass im Laufe des vergangenen Jahres fünf Jungen spurlos verschwunden waren – drei davon im East End, zwei in den Gorbals. Nur der letzte war tot aufgefunden worden. Man hatte Fionas Sohn Rory im hinteren Teil eines Mietshauses im Kohlenkeller entdeckt. Nackt. Vergewaltigt. Gott sei seiner Seele gnädig. Am folgenden Morgen nahm die Polizei Hugh Donovan in seiner Einraumwohnung in den Gorbals fest. Darin fanden sich eindeutige Beweise, dass Hugh Rory ermordet hatte, nicht zuletzt die Kleidung des Jungen.
Und hier saß nun also Hugh Donovan und beteuerte, er wäre es nicht gewesen. Und trotz allem, was er mir angetan hatte, hätte ich ihm gern geglaubt. Mich an die Gewissheit geklammert, dass niemand, den ich kannte, zu derart entsetzlichen Dingen fähig war. Doch die Tatsachen sprachen dagegen. Und es gab auch ein Motiv: krankhafte Rache an einer treulosen Geliebten und ihrem verstorbenen Ehemann.
»Erzähl mir alles, Hugh. Wie ist die Kleidung des Jungen in deine Wohnung gekommen?« Ich holte mein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche, um ihn zum Reden zu bringen. Bei Recherchen für die Zeitung zeigte das meistens Wirkung.
Er schüttelte nur den Kopf und verbarg das Gesicht in den Händen. »Das wird absurd klingen.« Mit gehetztem Blick warf er die Arme hoch. »Ich weiß es nicht, Dougie! Ich weiß nicht, wie die Kleidung dorthin gekommen ist, das ist die reine Wahrheit!«
»An was erinnerst du dich? Ich meine, was ist das Letzte, was du noch weißt, ehe ...«
»Ehe sie mich dort fanden? Und fortbrachten? Hierher brachten?«
Ich nickte.
»Hör mal, ich erzähl dir wohl besser ein bisschen was über die letzten paar Monate. Wie ich Fiona wiederbegegnet bin.«
Was jetzt folgt, basiert alles auf seinen Erzählungen und den Notizen, die ich mir als ehemaliger Polizist und aufstrebender Reporter gemacht habe.