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Die Spur aus toten und sterbenden Wespen und Bienen ist dünner geworden. Jetzt sieht Nathan nur noch alle paar Meter einen winzigen, zuckenden Körper, und er hat schon mindestens einen Kilometer durch verzweigte Wartungskorridore, über Treppen und Türen zurückgelegt, die eigentlich hätten verschlossen sein müssen, sich aber problemlos für ihn öffneten. Er ist so tief ins Innere von Omphalos vorgedrungen – vielleicht ist er sogar schon im unterirdischen Bereich –, dass sein Pad nur noch gelegentlich mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen kann – über den Satlink in seinem gepanzerten Mietwagen – das einzige Fahrzeug, das am Flughafen von Moscow verfügbar war.

Er hält an, um wieder zu Atem zu kommen. Keiner der Korridore in diesem Teil von Omphalos wirkt fertig; die Wände bestehen aus unverkleidetem Metall, Flexfuller und Beton und die Versorgungsleitungen liegen frei. Er hört Luft und Wasser durch Röhren an der Decke rauschen. Die Beleuchtung ist dunkelrot und spärlich – auf Arbeiter abgestimmt.

Hier sollen sich normalerweise keine Menschen aufhalten.

Sein Herz pocht, obwohl er sich ein wenig ausgeruht und Luft geschnappt hat. »Verdammt, ich habe Schiss«, sagt er sich und versucht seine Angst zu überwinden. Das Problem ist jedoch, dass seine Furcht völlig berechtigt ist. Er schwebt tatsächlich in Gefahr. Er hat die Leichen im Warteraum gesehen und ist der Insektenspur von dort bis zu diesem Punkt gefolgt…

Vom FBI hat er einen großen Grundrissplan erhalten, der schwach auf dem Nachtdisplay seines Pads leuchtet. Er glaubt zu wissen, wo er sich befindet. Unter der Erde gibt es mehrere unspezifizierte Bereiche, die recht groß sind. Er hält sich am oberen Rand des größten auf, fast im Zentrum von Omphalos, falls sein Orientierungsvermögen ihn nicht im Stich gelassen hat.

Er wünscht sich, er wäre Seefa Schnee niemals begegnet. Er erinnert sich noch gut an den Abend kurz vor dem Ende ihrer kurzen Beziehung, als Seefa mehrere qualvolle Stunden lang mit ihm diskutierte und seine erhitzten Einwände zu widerlegen versuchte, wie sich Insektenstaaten für gezielte neurale Zwecke verwenden lassen. Er kann sich nicht zu der Überzeugung durchringen, dass sie Erfolg gehabt haben könnte, denn in diesem Fall müsste er sich einer Menge unangenehmer Konsequenzen stellen, müsste seine Einschätzung ihrer Fähigkeiten revidieren, wozu er nicht bereit ist. Seefa Schnee hat sich in intellektuellen Konflikten niemals siegreich durchsetzen können.

Doch all das spielt keine Rolle, wenn er sich auf den Grund für sein Hiersein konzentriert. Nicht um dem FBI zu helfen, nicht einmal um seinem Land in einer Notlage zu dienen, sondern um das Gefängnis zu finden, in das Jill verschleppt wurde, und sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu befreien.

Jill ist möglicherweise der sympathischste Intellekt, den er während seines zweiunddreißig Jahre währenden Lebens kennengelernt hat. Nathan ist mehr als nur ein wenig in sie verliebt; es ist eine engelhafte, platonische Liebe, frei von allen körperlichen Konnotationen, obwohl er schon mehrere unrealisierbare Träume hatte…

Natürlich hat er Ayesha niemals davon erzählt.

Er steckt sein Pad in die Tasche. Von nun an ist der Lageplan sinnlos.

Er ist wieder auf sterbende Insekten angewiesen.

Jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, kann sehen, dass Torino völlig Recht hat, sagte Schnee an jenem bedeutungsvollen und anstrengenden Abend. Die Natur ist ein mentaler Komplex. Jede Spezies besetzt ihre eigene neurale Nische, sammelt Informationen und fixiert sie in Form von Wissen. Und Wissen ist Anatomie, der kontinuierlich existierende Körper der Spezies…

Für Seefa stellt jede Biene eines Staates die offensichtliche Entsprechung eines Neurons dar, auch wenn ein biologisches Individuum zu wesentlich komplexeren neuralen Urteilen und Bewegungen imstande ist. Ein Knoten im Netzwerk des Bienenstocks und gleichzeitig ein Muskel. Und inwieweit unterscheidet sich ein Bienenstock als Ganzes betrachtet von dir oder mir oder irgendeinem anderen Tier, abgesehen von ausgesprochen sozialen Tieren? Das soziale Gefüge ist eine Art Überbewusstsein, ist in das Bewusstsein der Spezies eingebettet. Das ist so offensichtlich, dass es schon wieder trivial ist.

Nathan stimmte stillschweigend zu, dass es trivial war. Und gleichzeitig völlig falsch. Er hat sich nie genauer mit Torinos Arbeit auseinander gesetzt und Seefas Ideen kamen ihm noch viel abwegiger vor.

Er beugt sich über eine schwarz-gelb gestreifte Wespe. Der Hinterleib pulsiert schwach, während das Tier über den Boden kriecht und heimzukehren versucht.

Das Problem mit unserer Vorstellung eines Bewusstseins liegt darin, dass wir unsere Art von Ichbewusstsein mit dem Denken im Allgemeinen verwechseln. Ichbewusstsein ist ein Attribut bestimmter Arten von sozialen Tieren. Warum sollte ein denkender Geist notwendigerweise Ichbewusstsein besitzen? Es genügt völlig, ein Weltbewusstsein zu besitzen. Wenn es nicht in sozialen Beziehungen zu anderen geistigen Individuen steht, benötigt es keine sozialen Filter oder Persönlichkeitsmodelle. Es agiert und erhält sich aus eigener Kraft. Es lernt, urteilt und handelt. Ein Weltbewusstsein ist Gott einen Schritt näher als du oder ich.

Er versucht, sein eigenes Ichbewusstsein zu beurteilen, das von Jill, Ayesha, seinen Freunden und seiner Familie. Im Augenblick sind ihm Theorien und bewusstseinslose Wissenschaften scheißegal. Intellektuelle Spielereien können ihm nicht helfen, seine Courage zu bewahren.

Vor ihm befindet sich ein halb geöffnetes stählernes Schott. Aus dem Raum dahinter hört er ein leises und eindringliches Summen, das die Stille des Korridors durchdringt.

Nathan holt tief Luft, hält den Atem an und lugt durch die Tür, während er sich darauf gefasst macht, im nächsten Augenblick zu sterben.

Im Raum hinter dem Schott ist es warm und trocken, nicht völlig finster, aber fast. Langsam gewöhnen sich seine Augen an das Dämmerlicht. Er wagt es nicht, seine Taschenlampe einzuschalten.

Die Wände sind mit unförmigen Klumpen bedeckt: mit Wespennestern. Auf dem Boden wimmelt es vor großen schwarzen und roten Ameisen, die sich zielstrebig zwischen hohen Erdhügeln hin und her bewegen. Er kann keine Bienenstöcke erkennen; vielleicht sind sie in den Wänden verborgen.

Ein einfacher gewundener Pfad führt durch den Raum, aus nacktem Beton und kaum einen Fuß breit. Er schlängelt sich um die Hügel herum und reicht vielleicht – so hofft er – bis zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite.

Ihm bleibt keine Zeit mehr, sich einen anderen Weg zu suchen.

Er macht den ersten Schritt und horcht. Die Geräuschkulisse besteht aus einem kontinuierlichen Summen und dem flüsternden Rascheln von Chitin. Die Wespen umschwirren ihn, aber sie landen nicht und verhalten sich nicht aggressiv. Allerdings sind sie überall. Wenn er kräftig Luft holen würde, könnte er ein paar der Stechinsekten in Mund oder Nase oder in seine Lungen saugen.

Er ist klitschnass. Schweiß tropft ihm vom Gesicht und läuft ihm den Rücken hinunter.

Vielleicht ist das hier nur ein fehlgeschlagenes Experiment. Vielleicht hält sich Seefa die Insekten nur zum Schutz. Für diese Aufgabe sind sie zweifellos gut geeignet, aber es sind keine leicht reizbaren, angriffslustigen Monster, so wie Killerbienen.

Nathan schätzt – er hofft, wäre wohl das bessere Wort –, dass er den Raum bereits zur Hälfte durchquert hat. Er kann ein schwaches gelbliches Leuchten erkennen, das von den Ameisenhügeln zurückgeworfen wird, die wie Stalagmiten in einer Tropfsteinhöhle bis zur Decke hinaufreichen. Zaghaft geht er über den freien Weg um die Hügel herum. Als eine Wespe gegen seine Wange prallt, weicht er vor Schreck seitwärts aus. Einen furchtbaren Augenblick lang glaubt er, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Ameisen zu stürzen, aber er kann sich durch rudernde Armbewegungen abfangen.

Die Wespe sticht nicht, die Insekten bleiben ruhig. Beherrscht.

Sind sie beherrscht oder werden sie beherrscht? Menschen haben seit sechzig oder siebzig Jahren auf unterschiedliche Weise mit Bienen und anderen sozialen Insekten kommuniziert. Die Bienendressur ist eine etablierte wissenschaftliche Anwendung in der Landwirtschaft. Vielleicht hat Seefa gelernt, bestimmte Arten von sozialen Insekten zu beherrschen, was ihre höchste Errungenschaft darstellt.

Doch während sich seine Augen besser an die Lichtverhältnisse anpassen, sieht er, dass ihm die Nester, die Ameisenpfade und sogar die Flugbahnen der Wespen und die Anordnung ihrer Papiernester auf unheimliche Weise vertraut vorkommen. Keine Schaltkreise, so simpel ist es nicht, aber die Muster entsprechen den Prinzipien der Theorie neuronaler Netze. Nicht zufällig und natürlich, sondern geplant, auf eine Weise, die jedem Studenten des Denker-Designs vertraut ist.

Die Prinzipien der Selbstordnung, der Kooperation und der Vernetzung.

Ein Kontrollprinzip, das nur von der verrückten, altmodischen und unkontrollierten Cipher Snow entworfen werden konnte, wie er sich sagt.

Jetzt sieht er das Licht hinter den Hügeln. Es ist eine weitere Tür, beziehungsweise ein Fenster in einer Tür, die jedoch verschlossen ist. Er kann nicht erkennen, was sich dahinter befindet. Dort ist es nur wenig heller als hier im Raum der Insekten.

Nicht einmal jetzt kann Nathan sich zu der Einsicht durchringen, dass er Roddy bereits gefunden hat, dass all dies zum kindlichen und gefährlichen Denker gehört, der Jill schachmatt gesetzt hat.

Der Türgriff ist dankenswerterweise frei von Insekten. Langsam drückt er die Tür auf. Dahinter liegt ein glasverkleidetes Zimmer, das mit einem mindestens zehn Jahre alten Mitsu-Shin-Terminal und einem Drehstuhl für den Programmierer ausgestattet ist. Er kennt diesen Stuhl, es war Seefas Lieblingsstuhl, auf dem sie schon bei Mind Design gearbeitet hat. Bedruckte Plastikaufkleber mit Blümchen und Kätzchen verzieren die Rückenlehne.

Langsam und lautlos schließt sich die Tür. Die Insekten bleiben in ihrem Raum.

Durch die Glaswände blickt Nathan auf einen großen Garten. Er beobachtet, wie über dem Garten konzentrische Lichtringe aufleuchten, bis es sonnenhell wird. Er legt geblendet eine Hand über die Augen.

»Seefa?«, ruft er.

Stille.

Er nähert sich dem Glas. Der Garten erstreckt sich über eine Fläche mit einer Seitenlänge von schätzungsweise dreißig Metern. Er ist von hüfthohen Wänden umgeben, hinter denen er undeutlich eine größere Halle erkennt, die außerhalb des künstlichen Tageslichts liegt.

Eine Schwingtür führt durch die Glaswand nach draußen. Nathan tritt in eine Atmosphäre, die nach feuchter Erde und üppiger Vegetation riecht. Erbsensträucher, die sich an langen Reihen von Spalieren emporranken. Bienen, die eifrig zwischen kleinen Blüten hin und her summen.

Links von ihm, am Rand des Gartens, stehen vier große, grau-weiße Kästen auf Betonsockeln, INDAs älteren Baujahrs. Dicke Kabel schlängeln sich aus den Kästen, breiten sich strahlenförmig aus und graben sich wie bleiche Wurzeln ins Erdreich.

Nathan tritt auf die Krume und bückt sich. Er dringt mit den Fingern tief in den fruchtbaren schwarzen Humus ein, der sich warm und schleimig anfühlt. Die Empfindung erinnert auf irritierende Weise an weibliche Genitalien. Hastig zieht er seine Hand zurück. Das Erdreich ist mit unterschiedlichen Kabeln und winzigen Kunststoffkügelchen durchsetzt. Ein Kabeltyp scheint aus Glasfasern zu bestehen und dürfte Informationen an die INDAs übermitteln. Der zweite Typ verbindet die Kügelchen miteinander, veraltete medizinische Monitoren, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Er durchforstet sein Gedächtnis nach weiteren Einzelheiten über die Kügelchen. Als kleiner Junge sind ihm einmal welche verabreicht worden. Sie sollten den Inhalt des Magen-Darm-Trakts analysieren und nach möglichen Infektionen suchen. Ihre Funktion wurde inzwischen von Diagnose-Toiletten übernommen.

Seefa hat ihre Arbeit mit sehr geringem Budget und großem Einfallsreichtum durchgeführt.

Nun kann Nathan nicht mehr in Abrede stellen, was er sieht.

Das Erdreich ist mit einer dichten Bakterienpopulation durchsetzt, die mit den Erbsen an den Spalieren in Kontakt steht und auf irgendeine Weise von ihnen ernährt wird. Die veralteten medizinischen Monitoren beobachten die Bakterien und registrieren biologische Lösungen für Probleme, die von den angeschlossenen INDAs gestellt werden, vielleicht in Form von Antibiotika oder maßgeschneiderten Bakteriophagen.

Die Bakterien tauschen buchstäblich Körperflüssigkeiten aus, Plasmide und Rezepte. Und mit immenser Subtilität und Leistungsfähigkeit, wenn auch vermutlich sehr langsam, setzen sie die fruchtbarsten und ältesten Methoden der Natur ein, um menschliche Probleme zu lösen.

Es ist genial, einfach und simpel. Nathan hat sich geirrt und Seefa hat Recht behalten. Niemand wollte ihr zuhören, also wurde sie hierzu getrieben, um schwachsinnige Elitisten mit Antworten und Werkzeugen zu versorgen.

Obwohl er sich dagegen wehrt, werden Nathans Augen feucht. Unter anderen Voraussetzungen wäre dies ein Moment von kosmischer Bedeutsamkeit, so großartig wie die Entdeckung von Leben auf einem anderen Planeten.

Er steht mit den Füßen auf dem, was Roddy ausmacht, auf seinem Körper – und auf seinem Geist.

Roddy ist in der Tat ein kleiner Junge, der sich aus einem Haufen Dreck erhebt. Und inzwischen könnten auch wesentliche Teile von Jill als biologische Codierung im Bakterienschleim gespeichert sein.

Er streift die Erde von den Schuhen, bevor er in den Glaskäfig zurückkehrt. Dort setzt er sich auf Seefas Drehstuhl und versucht, die Anzeigen der INDAs zu verstehen, die auf den Bildschirmen erscheinen.

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