Die wahren Machthaber hoffen, dass wir – die Konsumenten von Yox und Vid – an ihren fiktiven Gegenpart glauben, an die kalten und unbezwingbaren Nullen, die wir als Rollenvorbilder akzeptieren, denn sie vermitteln den Hauch göttlicher Unübertrefflichkeit. Der Finanzier und der Firmenchef wissen, dass sie Olympier sein müssen, in Rätseln sprechen müssen; sie dürfen keine der Schwächen des fleischlichen Erbes zeigen. Wenn wir sie nicht herausfordern, sind sie unfehlbar.
Vierzig Prozent des Bruttosozialprodukts dieser Nation wird für Unterhaltung ausgegeben. Finanziers und Firmenchefs im Unterhaltungsgewerbe haben über viele Jahrzehnte hinweg gewählte Vertreter gekauft und verkauft, bis hinauf zum Präsidenten. Sie sind nicht unfehlbar; genauso wie wir alle sind sie nicht mehr als großspurige Kinder, aber sie verfügen über eine furchterregende Macht. Sie sagen uns, was wir träumen sollen.
- The Kiss of X, Liebesleben, Lebenslügen
3 /
Alice hat so schöne Gutenachtgeschichten geträumt, dass sie gar nicht aufwachen will. Sie ist wieder in Kalifornien, als sie mit zwanzig Jahren ihre paar Sachen in eine Tasche packt und bei Philip einzieht, dessen kleiner, starker Körper ihr als Maß der Vollkommenheit erscheint; sie erlebt noch einmal die Krönung, den top-schinken Höhepunkt, an seiner Seite aufzuwachen, sich von ihm einen Kaffee reichen zu lassen, während er mit reserviertem Lächeln neugierig und verstohlen ihre Nacktheit betrachtet.
All das erscheint für einen Moment so real. Sie schwimmt in alten Wirklichkeiten und schert sich nicht darum, warum es so ist oder wie es sein kann; es ist einfach.
Sie arbeitet im Garten hinter dem Haus von Gerald McGeenee, wo sie mit zwei weiteren Frauen und drei Männern lebte, als sie einundzwanzig war.
Sie reitet oben auf der Welle, hat den Moment des größten Ruhms erreicht. Es ist etwas an den langen Beinen und jugendlichen Rundungen ihres Körpers, an ihrer makellosen Haut und der natürlichen Frische ihres Gesichts, an ihrem halb verblüfften, halb begeisterten Ausdruck, der wie das Lächeln eines Delfins modelliert scheint. Sie ist top in den Vids und sogar im Yox, wo sich so vieles nachbearbeiten lässt, dass wahre Schönheit und Fähigkeit kaum eine Rolle spielen. Doch sogar ihr Mentalhintergrund besitzt diese Frische und Ausdrucksstärke.
Eines Abends in diesem Haus verlinkt sie sich mit zwei Männern und drei Frauen; die urtümlichen Regungen ihres Geistes stehen allen offen, spontane, jugendliche Lust mischt sich über die Kabelverbindung mit ihrer Schwärmerei für Gerald, der anscheinend möchte, dass sie alles für ihn tut, wozu sie problemlos bereit ist, nur um seinen knappen Ausruf der Anerkennung zu hören…
Es ist nur ein leichter Grauschleier am Rand ihrer Sinne, die unangenehme Erinnerung, dass Gerald sich als Monster erwies, dass er sie betrog und sogar gewalttätig wurde, wenn er enttäuscht war. Wenn sie Hilfe brauchte. Wenn sie all seine Spiele nicht mehr mitmachen wollte. Es tat ihr nicht Leid, als sie Jahre später erfuhr, dass Selektoren in Pasadena ihm eine Höllenkrone verpassten und er Kalifornien verließ, um nach Spanien oder Irland zu gehen, völlig zerstört… Nur am Rande ihrer Erinnerungen… mühelos zu ignorieren.
Sie schwimmt im Strom der flüchtigen Freude, die so wichtig in ihrem Leben war:
Larry Keilla im Norden des Staates New York, ein aufdringlicher, aber anständiger Mann, doppelt so alt wie sie, der ihr während der schlimmsten Phase ihrer Karriere Frieden, Liebe und Unterstützung gab, als sie mit einem Fünfjahresvertrag an Bussy Packer und Gap Vid & Film gebunden war.
Schließlich verknallte sie sich in den Großen Weißen Hai höchstpersönlich, Moss Calkins, den Larry ihr in einem Restaurant in Connecticut vorgestellt hatte. Calkins holte sie aus dem Gap-Vertrag, indem er Packer vom US-Senat vorladen ließ…
Es flimmert nur leicht an der Peripherie ihrer Gedanken an Keillas kleines, tadelloses Kolonialhaus mit der weißen Veranda, hinter der sich natürlich gewachsene Wälder erstrecken… Nur am feinen Saum der Stille und des Friedens eines sonnigen Frühlingstages erinnert sie sich an Keillas Ausdruck leiser Betrübnis, als sie ihm erzählt, dass sie zu Calkins ziehen wird.
Was soll sie sonst machen? Sie…
Sie macht Vids, die eine Tortur sind, sie macht andere Vids, bei denen alles glatt und sogar angenehm verläuft, mit echten Teamfreundschaften, die während der gesamten drei Wochen der Primärproduktion anhalten… Alles kein Problem für Alice. Sie ist widerstandsfähig und hübsch und jung und jeder, dem sie vorgestellt wird, betrachtet sie mit respektvollen, neugierigen Blicken, selbst die Frauen, in der wehmütigen und neidischen Variante. Sie geht in den Häusern vieler berühmter Künstler und Sänger, Yox-Produzenten und Autoren an der Ost- und Westküste ein und aus. Sie erinnert sich an viele schöne Betten und großartige Mahlzeiten mit gutem Wein, an exzellente Plugs und spinale Induktionen und exklusivste Paarungen, eine jugendliche Ekstase nach der anderen, bis alles auf einer Ebene zu liegen scheint, in großer Höhe, aber ohne Auf und Ab, eine olympische Ausgeglichenheit, die ihr über viele Jahre hinweg kaum Mühe macht (sofern sie die Mühe nicht nach der Rückkehr ins Tiefland vergessen hat). Warum sollte sie Vorkehrungen für einen möglichen emotionalen Absturz treffen? Sämtliche Zweifel, Schmerzen und Bedenken lassen sich wegtherapieren; sämtlich Abnutzungserscheinungen und Fehler lassen sich durch einen Besuch bei den mitfühlenden Experten glätten, die völlig schmerzfrei eine beschädigte Seele reparieren und auf den rechten Weg zurückführen können. Alle Kosten übernimmt ihre Vid-Gesellschaft oder ihr derzeitiger Liebhaber. Es war ein Spin, der insgesamt sieben Jahre dauerte, der ihr ausreichend flüchtige Momente der Freude verschaffte, um einen langen, stillen, frühen Morgen mit verschwommenem Glanz auszufüllen.
Twist schläft noch auf der Couch. Gelblicher Morgenglanz dringt durch die halb geschlossenen Läden; es gibt keinen Grund, schon so früh aufzustehen; sie haben keine Termine. Alice genießt die Trägheit, bis der vergangene Abend wieder in ihr Bewusstsein zurückkehrt und sich die Ränder und Säume zusammenziehen, sodass die strahlenden Herzen ihrer Erinnerung grau werden und sie wieder in allen Einzelheiten weiß, wer und wo und wann sie ist.
Sie presst die Augenlider fest zusammen und versucht, den Geschmack zurückzurufen. Sie überlegt, ob es für sie an der Zeit sein könnte, ihr thymisches Gleichgewicht auffrischen zu lassen.
Nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht ist Lisa ihr einige therapeutische Sitzungen schuldig.
Twist murmelt und wirft sich auf der Couch hin und her.
»Bist du wach?«, fragt Alice.
»Ja, leider. Es war so wie damals, als ich noch ein Kind war.«
»Gute Träume?«
»Manchmal. Wenn ich aufwache, fühle ich mich einige Minuten lang normal. Und stark. Doch dann kommt alles zurück. Alice, ich danke dir, dass du mich erträgst, aber ich vermiese dir bestimmt den Tag.«
»Auch ich kann jetzt Gesellschaft gebrauchen«, sagt Alice.
»Ich bin keine gute Gesellschaft.« Twist setzt sich auf und reibt sich Schläfen und Stirn. »Womit habe ich das alles nur verdient?«, fragt sie.
»Wir sind einfach verletzlicher als andere«, sagt Alice.
Twist grinst süffisant. »Du meinst, weil wir so häufig für so viele die Beine spreizen?«
Alice verzieht das Gesicht und steht auf, während sie ihren Morgenmantel schließt.
Twist folgt ihr in die Küche. »Hast du zufällig HyperKoffein da?«
Alice schüttelt den Kopf. »Um Himmels willen, nein! Mit wem hast du dich in letzter Zeit herumgetrieben?«
»David gönnt sich gelegentlich eine Dosis.«
»Ja. Der David. Er würde so etwas gebrauchen.«
»Ex ihn nicht so«, sagt Twist stirnrunzelnd. »Er hat es nicht leicht mit mir.«
»War er letzte Nacht mit Cassis glücklich?«
»Ja, wahrscheinlich«, antwortet Twist mit leerem Blick.
»Genügt dir ein normaler Kaffee?«
»Ja.« Twist verdreht die Schulter, eine Seite nach oben, die andere nach unten. Dann wechselt sie und streckt die Arme aus, um die Hände auszuschütteln und die Finger zu lockern. »Ich habe das gesamte Fibe nach diesen Sachen abgesucht, alle News und Kommentare. Dass Sex das Zentrum unserer Persönlichkeit bildet und unsere Sicht auf die Dinge beeinflusst.«
»Eine tiefschürfende Erkenntnis, Twist.«
Twist streckt ihr die Zunge aus. »Jetzt fängst du an, mich zu exen, Alice!«
»Es war nicht herabsetzend gemeint.«
»Ich habe mich mit allen möglichen Strategien beschäftigt, wie sich das Sexualleben überstehen lässt. Wie wir versuchen, uns anzupassen, ohne uns an die Regeln zu halten.«
»Wir sind nicht angepasst«, sagt Alice und beobachtet, wie der Kaffee heiß und braun aus dem Hahn läuft. Sie zieht eine Tasse für Twist heraus und reicht sie ihr.
»Genau das meine ich«, sagt Twist. »Ich hatte niemals eine konsequente Strategie. Und du?«
»Ich habe niemals geglaubt, dass ich eine brauche. Die Männer kommen zu uns.«
»Ja, aber wozu?« Plötzlich bricht Twist zusammen. Sie schafft es gerade noch, die Tasse auf dem Tischrand abzustellen, bevor sie wie eine Flickenpuppe zusammensackt. Tränen strömen ihr übers Gesicht. »Alice! Mein Gott, Alice!«
Alice kniet neben ihr und hält ihre Hand. Twist zittert. »Es macht mir Angst, wie sehr ich mich vor mir selbst ekle. Ich kann nichts mehr empfinden, ohne dass es braun und dunkel wird, wie Scheiße. Ich mache nur irgendwie weiter. Aber ich muss ständig daran denken, wie elend ich mich fühle.«
»Ich melde dich zur Therapie an«, verspricht Alice. »Ich muss nur ein paar Fäden ziehen, dann spielt es keine Rolle mehr, welche Arrangements der David getroffen hat. Du bist in verdammt schlechter Verfassung, Mädchen.«
Twist reißt sich ein wenig zusammen, bis sie wieder sprechen kann. »Ich dachte, ich wäre etwas Besonderes. Hübsche junge Frauen, die an der Wand stehen und darauf warten, dass hübsche junge Männer vorbeikommen…«
»Alles Quatsch«, sagt Alice.
»So viele Frauen machen sich jetzt hübsch, es gibt so viel Konkurrenz. Sie lassen sich etwas Fett wegnehmen, das Haar glätten, die Haut aufpolieren. So viele Frauen mit glatter, makelloser Haut…«
Alice ist nicht klar, in welche Richtung sich das Gespräch bewegt, aber sie weiß, dass es ihr nicht gefällt. »Es gibt einige Dinge, die die Genies nicht antasten können.«
»Was? Unsere Seele? Auch daran manipulieren sie längst herum.« Twist setzt sich auf, atmet tief durch, um sich dann vorzubeugen und behutsam den Kopf auf den Tisch zu legen, genau auf das Ohr, ohne ihre Hände als Kissen zu benutzen. Sie wirkt so ausgelaugt und fern, dass Alice einen plötzlichen Stich der Furcht verspürt. Falle auch ich in ein genauso tiefes Loch?
»Ich mag meine Seele nicht«, sagt Twist. »Sie ist braun wie Scheiße.«
Der Hausmonitor meldet einen Anruf. Alice beobachtet Twist eine Weile, die sich aufrichtet und ihre Tasse nimmt. Schnell setzt sie sie zurück, starrt Alice ruhig an und sagt: »Vielleicht ist es ein Auftrag.«
»Das bezweifle ich«, sagt Alice, wendet sich aber trotzdem an den Hausmonitor. »Okay, leg den Anruf auf mein Pad.« Sie mag es nicht, in aller Offenheit Anrufe entgegenzunehmen, wenn sie Besuch hat.
Die Anfrage ist noch frisch und der Anrufer hat geduldig gewartet. Alice klappt das Pad auf und starrt mit einem irritierenden Schauder auf das Gesicht, das sie gehofft hatte niemals wiederzusehen.
»Spreche ich mit Alice Grale?«, fragt die Frau. »Dem Vid-Star?« Es ist die Beamtin, der sie nach dem Call-in vor dem Fahrstuhl begegnet ist, die große, kräftig aussehende Frau mit der glänzenden Mahagonihaut.
»Ja«, sagt Alice.
»Wir sind uns gestern Abend unter ungewöhnlichen Umständen begegnet. Mein Name ist…«
Alice entgeht der Name, weil gleichzeitig ein weiterer dringender Anruf eingeht. Ein Schlüsselzeichen in der oberen Ecke des Pads verrät Alice, dass die zweite Anfrage von Lisa aus der Zeitarbeitsagentur stammt.
»…und ich hatte gehofft, dass Sie mir und dem Seattle PD einige Fragen beantworten können.«
Alice reagiert nicht besonders schnell, wenn so viele Dinge gleichzeitig auf sie einstürmen. »Könnten Sie bitte einen Moment warten? Ich muss… ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Sie stellt die Beamtin in die Warteschleife und beantwortet Lisas Anruf. Lisa wirkt verzweifelt. Ihr Gesicht hüpft im Rahmen des Pad-Bildschirms hin und her und ihre Haut glüht hinter übermäßig roten Lippen und hastig aufgetragenem Augentöner. Lisa sollte niemals die Beherrschung verlieren. Sie sieht auf einmal so alt aus.
Aber Lisa hat nicht nur die Beherrschung verloren, sie hat Angst.
»Mein Gott, Alice, was ist passiert? Unsere Überweisung für letzte Nacht wurde storniert, und ich wurde von der Citizen Oversight angerufen. Der Mann ist tot! Was, um Himmels willen, ist geschehen?«
»Nichts«, sagt Alice. Sie bemüht sich, völlig ruhig zu bleiben und entfernt sich von der Küche, damit Twist nicht mithören kann. »Ich habe meinen Auftrag erfüllt. Es war keineswegs angenehm, Lisa, das kann ich dir sagen…«
Dann hält Alice inne, als die Information bei ihr angekommen ist, und sie murmelt: »Tot?«
»PD hat vor zwei Stunden die Einzelheiten veröffentlicht. Das Apartment ist vereist und die Gerüchteküche brodelt.«
»Wer war der Mann, Lisa?«
»Sein Name war Terence Crest.«
Der Name sagt Alice nichts.
»Hat er etwas mit dir angestellt?«, fragt Lisa, auf der Suche nach Informationen, die sie möglicherweise zur eigenen Verteidigung benutzen kann, zur Verteidigung der Agentur. »Ich meine, sodass du nicht anders konntest…«
»Er lebte noch, als ich ihn verließ«, erwidert Alice mit leichter Hysterie in der Stimme. »Du hast es arrangiert, und er war sehr unheimlich, und ich hoffe bei Gott, dass du mich nie wieder zu einem derartigen Auftrag zu überreden versuchst.«
»Er war ein sehr reicher und wichtiger Mann, Alice, und ein Mord wird nicht ausgeschlossen. Ich habe die gesamte Agentur im Nacken.«
»Ich weiß nicht einmal, wie er ausgesehen hat. Sein Gesicht war eine furchtbare Leere…«
»Wir können uns keine Pannen erlauben, Alice.«
»Mein Gott, Lisa!«, sagt Alice. »Du hast den Auftrag vermittelt, du hast mich dazu überredet! Ich habe den Mann nicht getötet!«
Lisa antwortet ihr mit einem Blick voll professioneller Verachtung. »Wir müssen einfach sehen, wie sich die Sache entwickelt, Schatz«, sagt sie mit flacher Stimme. »Du solltest dich still verhalten und dir einen Anwalt besorgen. Ich kann dir keinen Agenturanwalt vermitteln – jedenfalls nicht direkt. Wenn im Fibe bekannt wird, dass du involviert bist… Und schau dir mal dein Konto an, Schatz. Seine Verwaltung hat die Überweisung rückgängig gemacht. Für all unsere Schwierigkeiten haben wir eine dicke, fette Null bekommen.«
Die Verbindung endet abrupt.
Alice steht im Wohnzimmer, starrt auf den sanft leuchtenden leeren Bildschirm und kann keinen klaren Gedanken fassen. Die PD-Beamtin ist immer noch in der Warteschleife. Alice stellt das Pad wieder auf den Wohnzimmertisch, dreht sich um, als wollte sie mit Twist reden, nachsehen, wie es ihr geht, bis sie innehält und das Pad wieder in die Hand nimmt.
»Entschuldigung, dass Sie warten mussten«, sagt sie zur Beamtin. »Ich hatte gestern Abend ein Call-in und wir sind uns begegnet, als ich gegangen bin. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Kannten Sie Ihren Klienten?«
»Ich mache keine Call-ins… normalerweise. Meine Agentur hat ihn überprüft. Er wollte nicht, dass ich weiß, wer er ist.«
»Sie haben so etwas noch nie zuvor für ihn getan? Und Sie sind ihm nie zuvor begegnet?«
»Niemals. Wie ich schon sagte, ich mache keine Call-ins.«
»Sein Name war Terence Crest. Ein Milliardär, in der Stadt recht bekannt. Kannten Sie ihn vor Ihrem Call-in?«
»Das habe ich bereits verneint«, sagt Alice. »Er hat speziell um mich gebeten. Ich weiß überhaupt nichts über ihn. Und ich weiß auch Ihren Namen nicht. Ich war abgelenkt, als Sie sich vorstellten.«
»Fourth Mary Choy, Seattle PD.«
»Ja, gut, wenn ich also verdächtig bin, brauche ich wohl einen Anwalt, bevor ich irgendetwas sage.«
»Wir wissen, dass Crest alles auf Vid aufgezeichnet hat. Sie sind höchstwahrscheinlich in der Aufzeichnung zu sehen.«
»Oh, natürlich«, sagt Alice wütend, bestürzt und mit gerötetem Gesicht.
»Genauso wie wir, denke ich – die PD, die Medos. Wir werden uns von Citizen Oversight und Crests Nachlassverwaltung die Erlaubnis holen, das Vid auszuwerten, um die Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren. Ich verstehe Ihre Besorgnis, Alice, aber wenn Sie unschuldig sind, haben Sie nichts zu befürchten.«
»Vielleicht leben Sie auf einem ganz anderen Planeten, Mary Choy. Wenn es nach seinen Verwaltern geht, werde ich nicht einmal meine Bezahlung für gestern Abend erhalten.«
»Ich verstehe.«
Den Teufel verstehst du. Du wirkst sehr integriert, Mary Choy.
»Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen«, sagt die Beamtin, »natürlich in Anwesenheit Ihres Anwalts. Nur um die losen Enden zu verknüpfen. Im Grunde mache ich mir gar keine großen Sorgen wegen dieses Falls, wenn es sich um einen Selbstmord handelt, wie es den Anschein hat. Aber er wird Schlagzeilen machen, vor allem in der Finanzwelt, und ich möchte, dass meine Dienststelle keinen Fehler macht. – Ich hoffe sehr, dass Ihre Agentur Sie jetzt nicht fallen lässt, Alice.«
Alice schluckt. Eine knallharte Frau, die sich um Freundlichkeit bemüht. Trotzdem ist es am besten, sich alle Optionen offen zu halten. »Geben Sie mir Ihre Sig, und ich melde mich wieder bei Ihnen, wenn ich über alles nachgedacht habe.«
»Natürlich.«
Mary Choy lächelt sie an. Alice trennt die Verbindung.
Twist kommt aus der Küche herein und reibt sich mit einem Waschlappen das Gesicht ab. Alice steht völlig reglos auf dem metabolischen Teppich, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, das Gesicht in konzentrierter Nachdenklichkeit angespannt.
»Keine guten Neuigkeiten?«, fragt Twist.
Alice zuckt zusammen, richtet sich auf und versucht wieder die Rolle der gefassten Freundin in diesem düsteren Duett zu spielen. Aber es gelingt ihr nicht. Sie schüttelt den Kopf.
»Nun, ich weiß, was wir jetzt brauchen«, sagt Twist. »Eine Party, die wirklich top-spin ist. Wir müssten eigentlich in der Lage sein, eine ausfindig zu machen, nicht wahr?«
Alice nickt. Sie muss lange und intensiv nachdenken, um eine Verteidigung gegen diese Bedrohung zu errichten. Sie hat es so lange gut gehabt, dass es ihr beinahe gerecht vorkommt. Das ist das wahre Leben, das für den Ausgleich der Bilanz sorgt. »Manchmal kommt es hart auf hart«, sagt sie. »Aber ich habe dir gesagt, dass ich dich für eine Therapie anmelden will.«
»Es geht mir schon besser. Der Kaffee scheint zu helfen. Komisch, nicht wahr?« Trotz ihrer Verrücktheiten hatte Twist stets sehr viel Mitgefühl. Sie versteht andere und ihre Probleme sehr gut; sie hat lediglich Schwierigkeiten, ihre eigene Situation klar zu erkennen. »Wir werden heute Abend ausgehen, okay? Ich werde schon die richtige Party finden.«
Alice wirft ihr einen erschöpften Blick zu und Twist hebt ihre kleinen, schlanken Finger. »Ein netter Spin-Spaß, kein Fatz-Trubel«, sagt sie. »Würdevoll, toujours würdevoll. Wusstest du, dass Gene Kelly ein Neunziger-Star war?«
»Er starb in den Neunzigern«, sagt Alice. »Er war eher ein Star der Vierziger und Fünfziger.«
Twist akzeptiert die Korrektur mit einem schwachen Lächeln. »Hast du es jemals mit ihm gemacht, auf Rollen-Sim?«
»Bin nicht autorisiert«, sagt Alice.
»Ich auch nicht. Ich würde gerne für eine Weile hier bei dir bleiben, wenn das in Ordnung geht, wenn ich dir damit keine Schwierigkeiten mache.«
»Gerne. Ich kann jetzt etwas Gesellschaft gebrauchen.«
»Du bist eine wahre Freundin«, sagt Twist. »Das ist in unseren Kreisen eine Seltenheit, weißt du?« Sie hebt ihre Kosmetiktasche und verstreute Kleidung auf und geht ins Bad, um sich anzuziehen.
Alice hört auf zu lächeln, sobald Twist den Raum verlassen hat. Sie berührt durch den Stoff des Morgenmantels ihren Unterleib und reibt ihn. Sperma bleibt mehrere Tage lang aktiv.
Sie trägt die letzten lebenden Überreste eines Toten in sich.