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Der County-Sheriff und seine Deputies haben nicht das Geringste dagegen, dass Mary, Martin und die FBI-Agenten allein in Omphalos eindringen. Die Deputies haben eifrig Insektizide durch die Löcher gesprüht, sodass nun die gesamte Umgebung nach Lösungsmitteln stinkt. Die Wespen fliegen nicht mehr. Der Sheriff bietet die Möglichkeit an, die Löcher zu vergrößern, indem sie mit einem Haken aufgerissen werden, aber Torres lehnt dankend ab. Sie können mühelos durch die Löcher einsteigen, so wie sie sind.
Mary fühlt sich gar nicht gut. Im Mund haben sich offene Stellen gebildet und ihre Augenlider brennen. Ihre Haut fühlt sich heiß und ausgetrocknet an und juckt unter der warmen Kleidung. Sie ist überzeugt, dass sich die Pusteln auf ihrer Hand über den Arm ausgebreitet haben, obwohl sie nicht nachgesehen hat.
Martin Burke steht vor der zertrümmerten Innentür und wirkt verängstigt und deplatziert.
Federico Torres und Helena Daniels haben sich mit Taschenlampen und Seilen aus ihrem Gepäck ausgerüstet, als wollten sie ein Höhlensystem erkunden. Daniels reicht Mary und Martin jeweils eine Taschenlampe.
Die zwei phlegmatischen, muskulösen, gut gekleideten Agenten, Hench und Mr. Namenlos, haben sich ebenfalls gewappnet und wirken wesentlich besser vorbereitet und zuversichtlicher, als Mary sich fühlt. Sie stecken den Kopf zusammen, während Torres und Daniels zuhören, bis sie die Gruppe wieder auflösen. Hench wird als erster das Gebäude betreten, während Mr. Namenlos den äußeren Bereich erkundet.
»Noch können Sie es sich anders überlegen, wenn Sie nicht mitkommen möchten«, sagt Daniels und mustert Mary und Martin mit recht ernster Miene, als würde sie ihnen eine solche Entscheidung in Wirklichkeit übel nehmen.
»Ich bin dabei«, sagt Mary nur.
»Sie sehen nicht gut aus«, sagt Daniels zu ihr und betrachtet ihr Gesicht. Sie streckt eine Hand aus, um Marys Wange zu berühren, doch Mary wehrt ihre Finger ohne Umschweife ab.
»Ich bin in der Lage, meine Arbeit zu tun«, sagt Mary.
Martin kommt vom Tor zur Fahrzeughalle zurück. »Sie lassen die Umkehrung Ihrer Transformation durch interne Monitoren überwachen, nicht wahr?«, fragt er Mary.
»Ja.«
Martin schüttelt den Kopf. »Das ist nicht gut. Sie sollten sich unverzüglich in eine Klinik bringen lassen.«
»Sie glauben, dass das, was man hier losgelassen hat, sämtliche internen Monitoren angreift?«, fragt Torres – eher neugierig als bestürzt. Mary spürt kein Anzeichen echter menschlicher Wärme bei den Agenten.
»Gehen wir«, sagt Mary. »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.« Sie verlässt sich auf ihre eigene Diagnose, nach der ihr Krankheitszustand nebensächlich und lästig ist, sie aber nicht beeinträchtigt – noch nicht.
»Elf Besucher befinden sich im Gebäude«, teilt der Sheriff Torres mit. »Bisher ist keiner wieder herausgekommen. Einige könnten mit illegalem militärischem Nano ausgerüstet sein. Unsere Einheiten haben Spuren in einem Lagerhaus nicht weit von hier gefunden… in Green Idaho werden recht viele geschmuggelte Waffen umgeschlagen. Ich kann nicht sagen, um welchen Typ es sich handelt, aber jedes Nano muss von außerhalb kommen, also ist es Ihr Zuständigkeitsbereich.«
Torres antwortet dem Sheriff mit einem knappen, überhaupt nicht kritischen Lächeln.
»Gehen Sie und versuchen Sie Ihr Glück«, sagt der Sheriff, während er zurückweicht und angewidert die Hände ausschüttelt. Er ist ein wenig rot geworden, aber seine Verlegenheit ist nicht so groß, dass er sich zu übertriebener Tapferkeit anstacheln ließe. Er bleibt draußen.
Torres nimmt über ein kleines Pad eine Satlink-Verbindung mit einem Kontrollzentrum in Utah auf und teilt mit, dass er jetzt Omphalos betreten wird. Er steigt als Erster durch das größte und tiefstgelegene Loch. Dann folgen Daniels, Mary und Martin und zuletzt der phlegmatische Agent. Wegen seiner recht breiten Schultern hat er gewisse Schwierigkeiten, sich durch die Öffnung zu zwängen.
»Hier sieht es ja furchtbar aus!«, sagt Daniels und hält sich ein Taschentuch vor Nase und Mund, um sich vor dem säuerlichen Hefegeruch zu schützen. Der dunkle Innenraum ist mit halb aufgelösten Überresten übersät: die zwei Fahrzeuge, vermutet Mary, während sie den Strahl ihrer Taschenlampe durch die Dunkelheit streichen lässt.
»Sie haben hier etwas hergestellt«, sagt Torres. »Das ist hochgradiges Zeug. Ich habe noch nie eine so intensive Destruktion gesehen.«
»MN«, sagt Hench und schürzt die Lippen – entweder in Bewunderung oder Missbilligung. Mary kann seine Reaktion nicht deuten.
»Nano?«, wendet sich Martin leise an Mary. Sie sind hier die Außenseiter und er scheint es für das Beste zu halten, sich mit ihr zusammenzutun.
Mary nickt. »Militärisch. Jede Menge.«
Torres beugt sich über einen leeren Kanister, der halb aufgelöst in einer geschwärzten Ecke steckt, und schnuppert daran. »Fertigungspaste, mit Nähr- und Explosivstoffen gesättigt«, sagt er. »Ich werde D.C. darüber informieren. Kein gewöhnlicher braver Bürger kommt an so ein Zeug, ohne dass die Regierung davon weiß.«
»Es ist nicht zum ersten Mal geschehen«, entgegnet Daniels trocken.
»Ja«, bestätigt Torres angewidert, »aber damals liefen die Leute nur einen Tag lang damit herum, bevor sie geschnappt wurden.«
Mary blickt sich zu Hench um. Er verhält sich tadellos: keine Reaktion, nur mit seinen unmittelbaren Aufgaben beschäftigt.
»Hm«, macht Daniels. »Hier ist es zu deprimierend. Lassen Sie uns weiter hinein gehen.«
»Mutig erhobenen Hauptes in die Höhle des Löwen«, sagt Torres beiläufig.
Daniels murrt und wendet sich Mary und Martin zu. »Das braucht er, um sich anzuspornen«, erklärt sie. »Und es bedeutet, dass er noch am Leben ist.«
»Ich werde auch nach meinem Tod nicht damit aufhören«, entgegnet Torres.
Mary ist erleichtert, dass die Agenten schließlich doch menschliche Züge offenbaren.
Die verbogenen Stufen führen einladend zum aufgesprengten Schott hinauf, doch Hench beugt sich über einige Klumpen in der abgehärteten glänzenden Schicht, die überall den Boden bedeckt. »Ein Warbeiter, vom Typ Frettchen, würde ich schätzen«, sagt er.
»Verdächtig«, bemerkt Torres.
»Eher verdaut.«
Sie steigen die Treppe hinauf und betreten dahinter den dunklen Korridor. Mary rümpft die Nase. Vor ihnen befindet sich etwas Unangenehmes. Sie tritt ständig auf kleine Insekten – Wespen, Bienen und Ameisen, von denen sich einige noch bewegen. Sie haben nur ein paar Kanister Wespentod mitgenommen, falls sie Schwierigkeiten mit weiteren Insekten bekommen. Martin trägt einen der Behälter – ein sicheres Zeichen, dass Torres und Daniels nicht davon ausgehen, dass weiterhin eine Gefahr besteht, oder dass sie ohnehin nicht glauben, etwas dagegen unternehmen zu können.
Mary versteht ihre Reaktion. In schwierigen Situationen neigt jeder dazu, das zu ignorieren, was keinen Sinn ergibt, was sich mit keiner vernünftigen Hypothese vereinbaren lässt.
Torres konsultiert einen Plan auf seinem Pad. »Ein Stück weiter befindet sich angeblich eine Art Warteraum.«
Plötzlich geht die Beleuchtung im Korridor wieder an. Für einen Moment werden sie vom hellen Licht geblendet. Mary blinzelt und beschattet die Augen. Durch die Helligkeit scheint der Gestank noch intensiver zu werden. Martin stützt sich mit einer Hand an der Wand ab, während er vorsichtig zwischen die Häufchen aus toten Insekten zu treten versucht.
Sie können die Insekten jetzt nicht mehr ignorieren. »Wo, zum Teufel, kommen die vielen Viecher her?«, fragt Daniels rhetorisch.
Torres erreicht als erster den Warteraum. »Mein Gott«, sagt er ohne allzu große Regung – wie man es als Profi tut, wenn einen nichts mehr umhauen kann, man aber trotzdem noch eine Seele besitzt.
Mary tritt in den Raum, dicht gefolgt von Martin.
»Alle sind tot«, sagt Daniels kurz darauf. Sie benutzt ihr Pad, um einige Vid-Aufnahmen zu machen. Zwei der Toten wurden erschossen, der dritte ist mit Insektenstichen übersät. Nach vier Minuten winkt Torres sie hinaus.
Mary sieht sich ihre Handrücken an. Jetzt haben sich auch auf ihrer rechten Hand und an beiden Handgelenken kleine Hautausschläge gebildet. Sie berührt ihr Gesicht. Pickel auf den Wangen und der Stirn.
»Verdammter Mist«, sagt sie nur, dann leiser: »Scheiße. Scheiße.«
Daniels wirft ihr einen kurzen Blick zu. Sie hat nichts verstanden. Normalerweise flucht Mary nicht; auch in schwierigen Situationen neigt sie nicht dazu, unfeine Äußerungen von sich zu geben.
Martin Burke jedoch beobachtet sie aufmerksam.
Sie knirscht mit den Zähnen und folgt Torres.