PR

 

 

Die konservativen Elitisten beherrschen einen großen Teil der modernen Religion und verwandeln sie in einen Zweig des Unterhaltungsstaates. Also predigt der Geldwechsler im Datenfluss-Tempel: Mit Geld lässt sich Frieden und Erlösung erkaufen! Gute Werke zählen nichts gegen einen stetig wachsenden Haufen Status.

 

Den Konservativen geht es nicht um Tradition und Sittsamkeit, schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr… Es geht ihnen um Geld und die mutmaßliche biologische und spirituelle Überlegenheit der Wohlhabenden.

Die Ehre und der Ruhm der Vergangenheit sind wie immer nur Symbole – und als solche können sie (und sollten nach Ansicht mancher) auf dem offenen Markt zum Kauf und Verkauf angeboten werden.

- The Kiss of X, Liebesleben, Lebenslügen

 

 

4 /

 

Jonathan steht in der Reinigungsblase, als sich die zielstrebigen Schaumwolken vom Swanjet zurückziehen. Das private Charterflugzeug glänzt weiß, grau und mattsilbern, mit feinen roten Streifen auf der vorderen vertikalen Höhenflosse. Das Flugzeug ist ein geniales Deltoid, dessen zentrale Wölbung des Passagierabteils sanft in die Krümmung messerspitzer Flügel übergeht. Zehntausende winziger nanokontrollierter Buckel auf den oberen und unteren Flügeloberflächen weisen auf das radikale Design hin. Die Buckel können winzige Höcker oder Dellen in der Flügeloberfläche bilden, mit denen sich der Reibungskoeffizient der vorbeistreichenden Luft regulieren lässt, sodass der Auftrieb der Flügel ohne Querruder einstellbar ist. Die einzige niedrige Höhenflosse erstreckt sich fast bis zur Nase, sie erhebt sich aus der Pilotenkanzel unmittelbar hinter der Sichtscheibe, weicht zurück und krümmt sich weiter hinten wieder nach vom. Sie ist für die typische Schwanenform und damit für den Namen dieses Flugzeugs verantwortlich. Die Swans wurden erst vor fünf Jahren allgemein eingeführt und haben seitdem den Luftreiseverkehr revolutioniert.

Im Augenblick ist Jonathan noch allein in seiner Blase. Er wartet darauf, dass Marcus und die übrigen Reisebegleiter zurückkehren. Er blickt durch die Membran zum perlmuttblauen Himmel hinauf. Ein kribbelndes Gefühl der Erwartung neuer Dinge ist heute das Äußerste seiner Emotionen. Er kommt sich ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt vor.

Der Reinigungsschaum hat sich in den Aufbewahrungsbehälter zurückgezogen, wo er nun den Schmutz von der Hülle des Flugzeugs verdauen oder absondern wird.

Für einen kurzen Moment ist Jonathan vor Aufregung schwindlig. Er befürchtet, er könnte umkippen und davonschweben, denn das Licht ist so gleichförmig und der glatte graue Zement des Flugplatzes unter der Blase unterscheidet sich so wenig von der Farbe des Himmels, dass es scheint, als würde er schwerelos neben dem Swan im Perlmuttblaugrau treiben.

Jonathan kneift sich mit wohlmanikürten Fingernägeln in den Handrücken. Seine augenblickliche Situation hat nichts Schwindelerregendes oder Belustigendes. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hat er sich mit Männern verbündet, die es todernst meinen, und er zweifelt nicht – zumindest jetzt nicht mehr – an der Radikalität ihrer Entschlossenheit und Hingabe. Er weiß immer noch fast nichts über das, was eigentlich geschieht, was die Gruppe plant, aber er ist keineswegs unbedarft, was den Umgang mit mächtigen Menschen betrifft.

Er muss sich von nun an sehr umsichtig verhalten.

»Jonathan!«

Es ist Marcus. Jonathan dreht sich um und sieht seinen Mentor in Begleitung zweier Männer und einer Frau. Er erkennt Jamal Cadey und sein zuversichtliches Lächeln wieder. Der zweite Mann ist etwa einsachtzig groß, hat feines blondes Haar und einen abwesenden Blick in den blassblauen Augen. Die Frau ist so groß wie Jonathan; ihr pechschwarzes Haar ist ordentlich auf mittlere Länge geschnitten. Ihr Gesicht ist streng und attraktiv, unter den hervorstehenden Wangen leicht eingefallen, aber mit großen, aufmerksamen grünen Augen. Sie sieht Jonathan an, ohne ihn wirklich zu sehen – vorläufig.

Sie nähern sich und Marcus hält sein Pad hoch. Die Tür des Swans gleitet lautlos nach unten und bildet eine Treppe aus. »Alles ist automatisch«, sagt Marcus. »Ich ziehe normalerweise menschliche Piloten vor, aber meiner hat heute frei.«

Sie besteigen den Swan, die Frau zuerst, und nehmen in der Passagierkabine Platz. Jeder der sechs drehbaren Sitze ist an drei Punkten mit der Flugzeugzelle verbunden, an zwei dicken Streben im Boden und einem Träger in der Wand.

Das Cockpit ist vom Innenraum abgetrennt, aber ein breites Fenster zeigt den Blick durch die vordere Sichtscheibe. Jonathan schaut durch die Scheibe, als er Cadey und dem Blondschopf folgt. Im Cockpit gibt es einen Sitz auf der Steuerbordseite; links davon ist das dunkelblaue Gehäuse eines INDA montiert. Die Tür wird wieder eingefahren und schließt sich zischend hinter Marcus.

»Komfort und Luxus«, stellt Marcus mit todernster Miene fest, während er gebeugt mitten in der Kabine steht. »In einer Stunde sind wir in Moskau… in Moscow, Idaho«, fügt er ohne die Spur eines Lächelns hinzu. Marcus scheint in schlechter Laune zu sein. Jonathan fragt sich, ob er Ärger mit Beate hatte.

»Mein Name ist Burdick, Alfred Burdick«, sagt der blonde Mann zu Jonathan, als sie auf gegenüberliegenden Sitzen Platz nehmen. Jonathan schüttelt ihm die Hand und stellt sich vor.

Die Frau sitzt vor Burdick, gegenüber von Marcus. »Calhoun«, sagt sie. »Darlene. Auch wenn Marcus nicht beeindruckt ist – ich bin es.«

Jonathan lächelt. Die Triebwerke laufen an, die Frequenz des Pulsierens steigert sich zu einem kontinuierlichen Summen.

»Magnetohydrodynamisch gepulster Wasserstoff«, sagt Marcus mit der Lässigkeit eines Hobbypiloten. Er steht auf, bevor der Sitz ihn anschnallen kann, und streift mit dem Kopf die cremefarbene ledergepolsterte Decke. »Eigentlich der Overkill für dieses Baby, aber so fliegt es ruhig und schnell. Man dürfte nichts mehr hören, sobald wir Flughöhe erreicht haben. Akustische Phasendämpfung. Reizende Erfindung. Einfach reizend.«

»Ich mag es nicht, wenn es zu leise ist«, sagt Calhoun.

»Dies sind die sichersten Flugzeuge, die jemals gebaut wurden«, sagt Marcus. »Keine beweglichen Teile. Das heißt, eigentlich sind alle beweglich… nur dass sie sehr klein sind.«

»Von einem gigantischen Super-Vogel verschluckt«, fügt Burdick hinzu, während er Calhoun im Blick behält, als hoffte er, sie zu amüsieren. Calhoun lächelt höflich.

»Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein«, weist die Stimme des INDA Marcus an. »Wir werden in wenigen Minuten auf der Rollbahn sein.«

»Gut«, sagt Marcus und setzt sich. Sein Sitz schnallt ihn an. Er verzieht das Gesicht über diese Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit. Es ist das erste Mal, dass Jonathan ihn nervös erlebt.

Seltsamerweise ist Jonathan völlig ruhig. Der Swan setzt sich in Bewegung. Durch ein breites, niedriges Bullauge sieht er einen Ausschnitt des Flughafens, in östlicher Richtung, wo sich die glänzenden Kurven der Wohntürme des südlichen Corridors erheben. Auf dem angrenzenden Rollfeld steht ein schwerer alter Skip-Ram wie ein länglicher schwarzer und smaragdgrüner Käfer. Als der Swan zum Stehen kommt und wartet, rollt der Skip-Ram rumpelnd los, schwer mit Kerosin und gerade ausreichend Wasserstoffperoxid beladen, um ihn auf siebentausend Meter Höhe zu bringen, wo er eine volle Tankerladung Oxidator im Empfang nehmen wird, mit dessen Hilfe er den Orbit erreichen kann; altertümliche Technik, aber immer noch effektiv.

Als Cadey gegen Jonathans Schulter tippt, dreht er sich zu ihm herum. »Warte ab, bis du Omphalos gesehen hast«, begeistert sich Cadey. »Du hast nicht die leiseste Ahnung.«

Jonathan lächelt höflich und hofft, dass er nicht zu abwesend und desinteressiert wirkt.

Jetzt sind sie an der Reihe. Der Swanjet beschleunigt schnell und elegant auf einhundertachtzig Kilometer pro Stunde und hebt ab, um sofort nach Osten abzudrehen.

Einen kurzen Moment lang strömt feiner grauer Dampf über den Steuerbordflügel. Der Dampf verflüchtigt sich, dann wird ein Flaum aus winzigen Flexfuller-Schuppen sichtbar, die den Luftstrom über die Oberfläche lenken.

Rasch steigen sie auf zwölftausend Meter. Die Flügel des Swan werden flacher und breiter. Ihre Geschwindigkeit steigert sich auf siebenhundert Knoten. In kürzester Zeit dürften sie den Staat Washington hinter sich gelassen haben. Moscow, Idaho, liegt knapp hinter der Grenze.

Marcus übernimmt die Aufgabe, ein paar Erfrischungen zu servieren. Er reicht ihnen Gläser mit weißem französischem Bordeaux. Die Sitze drehen sich, damit sich alle Passagiere im Sichtfeld haben. Jonathan blickt direkt auf Darlene Calhoun.

»Zeit, sich etwas besser bekannt zu machen«, sagt Marcus. »Jonathan ist unser neuestes Mitglied. Er hat einen astreinen Stammbaum und verschiedene Fertigkeiten, die wir gut gebrauchen können, sobald wir den großen Schritt gemacht haben.«

Bei dieser Wendung – den großen Schritt machen – wäre Jonathan beinahe zusammengezuckt. Es klingt irgendwie nach Tod.

»Darlene ist aus New York City«, fährt Marcus fort. »Sie repräsentiert etwa eintausend Mitglieder im Osten. Will sich die jüngsten Entwicklungen ansehen, von denen es eine ganze Reihe gegeben hat… eine beträchtliche Anzahl. Nicht alle in Darlenes Gruppe sind vollständig informiert – Gruppen von Investoren, die ihr Vertrauen und ihre Barschaft in unser Unternehmen gesetzt haben. Einige von ihnen können es sich einfach nicht leisten, alles zu wissen. Darlene ist hart und gerecht. Es sind Repräsentanten wie sie, durch die das ganze Vorhaben möglich wird.«

»Eine höchst ungewöhnliche Organisation«, sagt der blonde Burdick.

»In der Tat«, erwidert Marcus. »Jonathan hat die Chance auf volle Mitgliedschaft erhalten, weil es zu einem bedauerlichen Todesfall gekommen ist.«

»Crest«, sagt Burdick.

Marcus wirft ihm einen kurzen Seitenblick zu, der kühl und sachlich wirkt, aber Jonathan weiß, wie dieser Ausdruck zu deuten ist. »Ja«, sagt Marcus nach einem Moment respektvollen Schweigens, wie es scheint. »Mr. Crest. Nach Lage der Dinge glaube ich, dass Jonathan sich als wesentlich effektiveres und obendrein diskreteres Mitglied erweisen wird.«

»Crest hat über eine Milliarde investiert, nicht wahr?«, bemerkt Burdick und diesmal reagiert Marcus mit unverhohlener Gereiztheit.

»Wir haben es nicht nötig, dass der Beitrag jedes unserer Mitglieder an die große Glocke gehängt wird.«

»Entschuldigung«, sagt Burdick.

Calhoun berührt Burdicks Arm und blickt ihn eindringlich an. Burdick versteht den Hinweis und verstummt, ohne sein kontinuierliches Lächeln aufzugeben, das ihm als Verteidigungsmaßnahme dient.

Cadey beugt sich vor. »Es gibt noch so viel zu tun. Angesichts einer wahren Leistung fällt es schwer, die Ruhe zu bewahren.«

»Auf welchem Gebiet liegen Ihre Fertigkeiten, Mr. Bristow«, möchte Calhoun von Jonathan wissen.

»Ich arbeite für die Verwaltung von Nutrim – Design und Verwaltung«, sagt er.

»Dann wissen Sie ja, wie man unsere kleinen Sklaven füttert, nicht wahr?«, fragt Calhoun.

Marcus mischt sich wieder ein. »Jonathan hat noch keine Ahnung vom Gesamtbild. Ich möchte ihn nach und nach in die großen Themen einführen, um nicht zu prahlen oder vorzeitig zu viel zu offenbaren. Er hat noch sehr viel zu verdauen.«

»So ist es«, sagt Cadey. »Ich habe Monate gebraucht, um zu verdauen, was ich weiß… Die verblüffenden persönlichen Konsequenzen sowie das allgemeinere Gesamtbild.«

Jonathan ist bereits in der Lage, eine leichte Empörung zu verspüren. Nur schwach, aber sie ist vorhanden. »Ich denke, man sollte mir so viel sagen, wie ich wissen muss, so schnell wie möglich. Es geht schließlich nicht um die Abenteuer des Grafen von Monte Cristo.«

Marcus beobachtet ihn eine Weile, während er sich mit dem Sitz hin und her dreht. Dann beugt er sich vor, verhakt seine beiden Zeigefinger ineinander und sagt zu Jonathan: »Du weißt, dass ohnehin alles den Bach runtergeht. Das gesamte sorgfältig ausbalancierte Finanzsystem. Die Datenfluss-Kultur. Wir leben in einer Nation der Schafe. Nimm die Hirten weg und alle werden sterben. Nun, die meisten der Hirten sind inzwischen selbst zu Schafen geworden. Irgendwer muss durchhalten, um den Zusammenbruch zu überleben. Unsere Gruppe rechnet damit, dass uns bestenfalls noch fünfzehn Jahre bleiben, bevor wir alle wichtigen Dinge den INDAs und Denkern überlassen… und uns den Lebensabend mit Yox versüßen. Träumende Junkies. Du hast die Zahlen gesehen – die Hälfte aller amerikanischen Bürger glaubt bereits, dass Yox realer und lebenswerter als das wirkliche Leben ist. Großer Gott! Die Hälfte!«

»Nicht von den Leuten, die ich kenne«, erwidert Jonathan sanft, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle ihm widersprechen.

»Nein. Bestimmte soziale Gruppen… unterstützen unsere Position. Sie haben etwas Besseres verdient, als zu einer Randerscheinung in der Datenfluss-Kultur zu werden. Wer heutzutage nicht ständig im Yox ist, kann überhaupt nicht mehr mitreden.«

»Zu wahr«, sagt Darlene Calhoun.

»Amen«, fügt Jamal Cadey hinzu.

»Ehepaare verlinken sich über Sex-Yox – einen intimeren Kontakt gibt es nicht mehr«, bemerkt Burdick.

»Frauen gebären nicht mehr, sondern lassen sich die Arbeit von Maschinen abnehmen«, sagt Marcus angewidert.

»Weil es nicht so schmerzhaft ist«, entgegnet Jonathan.

»Schmerzen gehören zur Herrlichkeit des Lebens«, sagt Darlene Calhoun völlig ernst – eine wahre Pionierin mit ihren hohen Wangenknochen, der fein geschnittenen Nase und der tadellosen, teuren Kleidung.

»Haben Sie…?«, setzt Jonathan an, doch Marcus unterbricht seine Frage.

»Ich kann voller Stolz behaupten, dass ich noch die Errichtung der Fundamente miterlebt habe. Die eifrigsten Visionäre unter uns begannen damit, die Regeln zu entwerfen und die finanzielle Basis zu schaffen. Dann konnten die Bauarbeiten beginnen.«

»Ein Unterschlupf zum Schutz vor der Eiszeit«, sagt Cadey. Sein Gesicht strahlt vor Enthusiasmus. Endlich springt die Begeisterung über, die nun auch Jonathan empfindet. Weg von allem! Es wäre wirklich schön, wenn man einfach noch einmal von vorne anfangen könnte.

»Die Liste jener, die etwas beigetragen haben, ist geheim. Je nach Fortschritt der Konstruktionsplanung und unserer Stellung in der Organisation werden wir irgendwann innerhalb der nächsten fünf Jahre in ein Omphalos gehen, über einen Zeitraum von fünf Jahren«, sagt Marcus. »Wir benutzen die Einrichtungen zur Lagerung einer möglichst großen Menge von Rohmaterial und Allzweck-Nano. Geld wird keine Bedeutung mehr haben. Wir lagern ausreichend wertvolle Metalle, um eine neue, direkte und saubere Ökonomie starten zu können. Kein Symbolismus. Kein Papier, keine Datenfluss-Bits… Hartgeld. Echt und solide.

Die arbeitende Klasse wird sich selbst ausrotten, wenn ihr geliebter Datenfluss versiegt. Wir können sie nicht retten – sie sind Süchtige. Sie sind nun schon seit sechzig Jahren zum Untergang verdammt – all die Arbeitnehmer, deren Jobs von Maschinen übernommen werden können. Und mit Nano… nun, wie ich bereits sagte, menschliche Arbeitskraft und selbst die untersten der Gedumpften, die Börsenmakler und Buchhalter und anderen Bürobreitärsche, sind verdammt. Sie sind zu überflüssigem Fettgewebe geworden und sie sind der Ursprung des Krebsgeschwürs, der unsere Gesellschaft zerfrisst. Die alte kranke Haut, die auf den Schultern der Starken, der Jungen, der Neuen hängt. Und wenn all das überstanden ist, gibt es keine Trennung zwischen der Elite und der arbeitenden Klasse mehr. Es wird nur noch die intellektuellen und spirituellen Meister geben.«

»Amen«, sagt Cadey unter eifrigem Nicken.

»Keine wimmelnden Maden mehr«, bemerkt Darlene Calhoun.

Jonathans unterdrückte, gegensätzliche Empfindungen machen ihn nervös. Er weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll, ob er froh oder bestürzt sein soll, dass er hier ist.

»Bist du immer noch dabei, Jonathan?«, fragt Marcus kokett.

»Ja«, antwortet Jonathan automatisch. Dann schiebt sich alles zu einem stimmigen Bild zusammen: die unausgesprochene Sehnsucht, das frustrierende Gefühl der Stagnation, die tödliche Kälte, mit der seine Frau ihm begegnet. Er hat immer gewusst, dass er etwas Besonderes ist; es ist die übrige Welt, die ihn an der Selbstverwirklichung gehindert hat. »Ja, ich bin dabei.«

Marcus hat sich in Schwung geredet. »Denkt zurück, wie alles begonnen hat – im späten Zwanzigsten. In den Deprimierenden Dekaden. All die wimmelnden Maden, wie Darlene sie bezeichnet, all die Möchtegern-Repräsentanten der Möchtegern-Stämme, der ethnischen Gruppierungen, der misandrischen Feministen und der misogynen Konservativen, Weiße, die Schwarze hassen und ihnen die Schuld für all ihre Missstände geben, Schwarze, die Weißen die Schuld geben, Juden, die Moslems die Schuld geben, und Moslems, die Juden die Schuld geben, jedes Volk gegen ein anderes, und allen wurde in den frühen Datenfluss-Strömen freie Bahn gewährt. Mein Gott!« Marcus scheint seine eigene Darstellung nicht glauben zu können, so chaotisch ist sie. »Jeder meint, der Welt würde es besser gehen, wenn einfach nur seine Feinde beseitigt würden. Diese Ignoranz!«

»Diese Voraussicht«, sagt Cadey.

»Nun fließen die Ströme überall und niemand verhungert, niemand ist krank und die schlimmste Phase der Menschheitsgeschichte dürfte vorüber sein; und dennoch bekämpfen sich die Völkerstämme und balgen sich um die letzten Krümel des Kuchens.«

»Wir bringen die Besten und Klügsten zusammen«, sagt Cadey, um dann entschuldigend zu lächeln, als hätte ausgerechnet Marcus diesen Anstoß nötig.

»Die Extropianer sahen es als erste«, sagt Marcus. »Sie erkannten die Sackgasse des Rassismus und des Stammesdenkens. Die wahren Klassenunterschiede sind intellektueller Natur. Die Fähigen gegen die Disaffektiven, die sich in ihren virtuellen Brot und Spielen verlieren. Die wahren Meister streben nach dem Universum und all seinen Mysterien, nach den Tiefen der Zeit und der Macht der Unendlichkeit. Sollen sich alle anderen um die Krümel prügeln – die Möchtegern-Stämme…«

»Meine Damen und Herren, bitte wenden Sie sich wieder in Flugrichtung und lassen Sie Ihre Sitze einrasten«, weist der INDA sie an. Das Flugzeug befindet sich bereits im Sinkflug.

Marcus schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht, das sich vor Leidenschaft gerötet hat. Jonathan hat ihn noch nie so echauffiert erlebt.

»Die armen gottverdammten Narren! Sie haben ihr eigenes Todesurteil unterschrieben und jetzt werden sie es selbst vollstrecken. Wenn wir alle die Erde verlassen könnten, um uns irgendwo außerhalb anzusiedeln, würden wir es tun. Aber wir sind zu viele. Wir haben jedes Recht, den Wahnsinn der anderen zu überdauern. Wir haben jedes Recht, unsere erdgebundenen Archen zu bauen und mit allen Annehmlichkeiten in die Zukunft aufzubrechen, um das Elend hinter uns zu lassen. Niemand kann uns dieses Recht verweigern.«

Jonathan nickt langsam. Was Marcus sagt, ergibt tatsächlich Sinn, zum allerersten Mal. Er spricht aus, was Jonathan seit Jahren empfunden hat, er vereinigt all seine heimlichen Wünsche nach Veränderung und Anerkennung. Sie haben ihn erwählt, ein Teil ihrer Gruppe zu sein; das ist eine wirkliche Ehre. Er hat immer großen Respekt vor Marcus gehabt, ihn um seine Selbstsicherheit beneidet; er hat sich stets in seiner Gegenwart unwohl gefühlt, hat niemals genau gewusst, was Marcus für ihn oder gegen ihn tun könnte, doch Marcus und die anderen haben ihn aufgenommen, während alle anderen ihn immer zurückgewiesen haben, und nun gehört Jonathan zu dieser Gruppe, die sicher die gefährlichen Klippen umschiffen und überleben wird.

Nach allem, was er durchgemacht hat, nach der Verderbtheit dieser obsessiven und destruktiven Kultur, ist es das Mindeste, was er sich verdient hat. Ein Platz in einem gewaltigen, visionären Plan. Anerkennung.

»Ihr habt Recht«, sagt er leise.

Marcus bringt seinen Sitz in die Landeposition. »Natürlich haben wir Recht«, sagt er und lächelt Jonathan zu. »Und du hast Recht, Jonathan. Ich bin stolz, dass du bei uns bist.«

Als das Flugzeug über grünen Wäldern und den riesigen Wunden offener Bergwerke niedergeht, kann Jonathan kaum seine Tränen zurückhalten.

Slant
titlepage.xhtml
Slant_split_000.html
Slant_split_001.html
Slant_split_002.html
Slant_split_003.html
Slant_split_004.html
Slant_split_005.html
Slant_split_006.html
Slant_split_007.html
Slant_split_008.html
Slant_split_009.html
Slant_split_010.html
Slant_split_011.html
Slant_split_012.html
Slant_split_013.html
Slant_split_014.html
Slant_split_015.html
Slant_split_016.html
Slant_split_017.html
Slant_split_018.html
Slant_split_019.html
Slant_split_020.html
Slant_split_021.html
Slant_split_022.html
Slant_split_023.html
Slant_split_024.html
Slant_split_025.html
Slant_split_026.html
Slant_split_027.html
Slant_split_028.html
Slant_split_029.html
Slant_split_030.html
Slant_split_031.html
Slant_split_032.html
Slant_split_033.html
Slant_split_034.html
Slant_split_035.html
Slant_split_036.html
Slant_split_037.html
Slant_split_038.html
Slant_split_039.html
Slant_split_040.html
Slant_split_041.html
Slant_split_042.html
Slant_split_043.html
Slant_split_044.html
Slant_split_045.html
Slant_split_046.html
Slant_split_047.html
Slant_split_048.html
Slant_split_049.html
Slant_split_050.html
Slant_split_051.html
Slant_split_052.html
Slant_split_053.html
Slant_split_054.html
Slant_split_055.html
Slant_split_056.html
Slant_split_057.html
Slant_split_058.html
Slant_split_059.html
Slant_split_060.html
Slant_split_061.html
Slant_split_062.html
Slant_split_063.html
Slant_split_064.html
Slant_split_065.html
Slant_split_066.html
Slant_split_067.html
Slant_split_068.html
Slant_split_069.html
Slant_split_070.html
Slant_split_071.html
Slant_split_072.html
Slant_split_073.html
Slant_split_074.html
Slant_split_075.html
Slant_split_076.html
Slant_split_077.html
Slant_split_078.html
Slant_split_079.html
Slant_split_080.html
Slant_split_081.html
Slant_split_082.html
Slant_split_083.html
Slant_split_084.html
Slant_split_085.html
Slant_split_086.html
Slant_split_087.html
Slant_split_088.html
Slant_split_089.html
Slant_split_090.html
Slant_split_091.html
Slant_split_092.html
Slant_split_093.html
Slant_split_094.html
Slant_split_095.html