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Der kleine blau-rote FBI-Jet ist fünfzehn Jahre alt, fliegt nur mit menschlichen Piloten, ist zweckmäßig, aber kaum luxuriös. Bereits nach zehn Minuten sind sie in der Luft und fünf Minuten später haben sie ihre Flughöhe von siebentausend Metern erreicht, in der sie unter ruhigem Summen diagonal den Staat Washington überqueren.
Die vier Agenten und Martin Burke treffen sich in einer kleinen Konferenzkabine im vorderen Bereich mit Mary Choy. Daniels bleibt stehen. Zwei der Agenten -Burkes Begleiter – unterscheiden sich in Kleidung und Verhalten von Torres und Daniels. Sie reden nur wenig. Der eine heißt Hench und der Name des anderen wurde ihr nicht mitgeteilt.
Martin beobachtet Mary Choy misstrauisch und wartet darauf, dass sie irgendeinen Kommentar von sich gibt. Es war Choy, die nach Hispaniola reiste, um dort nach dem Poeten und Mörder Emanuel Goldsmith zu suchen, während Goldsmith in Wirklichkeit – unter höchst fragwürdigen Umständen – einer Untersuchung unterzogen wurde, in Martins Labor in Kalifornien.
Choy scheint jedoch nicht im Geringsten interessiert, dieses Thema anzuschneiden.
»Dr. Burke ist eine Autorität auf dem Gebiet der modernen Instrumente und Techniken zur Mentaltherapie«, sagt Helena Daniels. »Am wichtigsten ist für uns der Umstand, dass er das Design therapeutischer Monitorimplantate besser als irgendjemand sonst versteht.«
Es folgt eine Pause, als würde man von Martin erwarten, dass er etwas dazu sagt. »Danke«, murmelt er nur.
Daniels lächelt schwach und fährt fort. »Wir haben es zur Zeit mit einem umfassenden Zusammenbruch der mentalen Gesundheit bei therapierten Individuen zu tun. Rückfälle, Ms. Choy. Ich bin überzeugt, dass Ihnen die Stats der Public Defense zum jüngsten Anstieg kriminellen und antisozialen Verhaltens bekannt sind.«
Mary nickt.
»Dr. Burke, Sie hatten mit der Workers Inc. Northwest zu tun, die vor einem ähnlichen Problem mit ihren Klienten steht. Rückfälle sind keineswegs etwas Unbekanntes in der Mentaltherapie, insbesondere in Radikaltherapien.«
»Sie liegen selten über drei Prozent«, wirft Burke ein.
»Nehmen wir noch eine dritte und vierte Karte ins Blatt und schauen, was es bedeutet. Workers Inc. Northwest hat die Warnung ausgegeben, dass sich ein sehr hoch entwickelter INDA oder Denker in den öffentlichen Datenfluss hackt. Er scheint in der Lage zu sein, jeden Firewall zu durchdringen. Theoretisch ist das gar nicht möglich. Nicht einmal Multiplex-Petaflop-Maschi-nen können die Schlüsselcodes erzeugen, die nötig wären, um heutige Firewalls zu knacken. Zumindest ist die Regierung nicht dazu fähig. Wir müssen unseren Bürgern vertrauen.« Daniels lächelt ironisch. »Aber irgendjemand hat ein System hergestellt, mit dem sich die sichersten bekannten Firewalls mit den meisten Redundanzen durchbrechen lassen. Ms. Choy, Sie haben in den letzten Tagen einige Erfahrungen damit gesammelt. Es hat mit einem milliardenschweren Investor namens Terence Crest zu, der vor zwei Tagen Selbstmord beging.«
»Ja«, sagt Mary. »Wir wollten Crest wegen eines anderen Falls befragen, aber er brachte sich um, bevor wir mit ihm reden konnten.«
»Crest kam zu mir«, sagt Martin. »Er wollte eine Notfalltherapie auf privater und vertraulicher Basis, zu der ich nicht berechtigt bin.«
»Crests persönliche Aufzeichnungen wurden angezapft und ein Teil davon gelöscht«, fügt Mary hinzu. »Auch das ist angeblich gar nicht möglich.«
Die Agenten hören aufmerksam zu. »Das ist einer der Gründe, weshalb wir in einem älteren Jet mit menschlichen Piloten statt mit einem automatischen Swan fliegen«, bemerkt Francisco Torres.
Mary hält inne, um diese Information zu verdauen, bevor sie weiterspricht. »Jemand oder etwas, der oder das sich möglicherweise Roddy nennt, drang während einer privaten Party in den Datenfluss ein und tötete einen Menschen. Eine zweite Person wurde beinahe getötet, eine mögliche Zeugin des Selbstmordes von Crest. Sie sah ein simuliertes Porträt von Roddy und beschrieb ihn als jungen Mann, der in einem dicken Haufen schwarzen Drecks steht.«
»Roddy«, sagt Daniels und schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ein gewisser Nathan Rashid von Mind Design in Kalifornien ist ebenfalls unterwegs und wird sich hoffentlich rechtzeitig mit uns auf dem Flughafen von Moscow treffen. Er kann möglicherweise einiges zu Roddy sagen.«
Als sich Henchs und Marys Blicke treffen, lächelt der Mann und senkt den Kopf, als wollte er Verlegenheit oder auch nur Desinteresse vortäuschen. Doch Mary spürt sofort, dass Hench weiß, wer oder was Roddy ist. Er kennt den Namen, kennt ihn sehr gut. Was wird hier gespielt?
»Crest war in Green Idaho, um sich dort mit FBI-Agenten zu unterhalten«, sagt Mary. »Mit Ihnen?« Sie starrt Hench und seinen namenlosen Kollegen an, aber sie erwidern den Blick nicht.
Daniels nickt. »Er hat um ein Gespräch gebeten und alles arrangiert«, sagt sie. »Doch im letzten Moment sagte er ab.«
Martin verschränkt die Hände und schaut sich in der Kabine um, als hätte er die Orientierung verloren. »Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit, aber was haben all diese Dinge mit den Rückfällen und mit mir zu tun?«
»Ich gebe Ihnen jetzt eine streng vertrauliche Information«, sagt Francisco Torres. »Jill, der leistungsfähigste Denker von Mind Design, wurde von einem anderen Denker kontaktiert, der sich als Roddy bezeichnet. Mind Design erkannte anfänglich gar nicht die Bedeutung dieser Kontaktaufnahme, doch wie es den Anschein hat, übermittelte Roddy eine Art Geständnis an Jill, zusammen mit einer großen Menge an Beweismaterial.«
»Ein Denker mit schlechtem Gewissen?«, fragt Martin bestürzt.
»Offensichtlich kein gewöhnlicher Denker«, erwidert Torres. »Es könnte sich um eine neue, unorthodoxe Konstruktion handeln, die mit privaten Mitteln finanziert wurde. Vor einigen Jahren war bei Mind Design eine Frau namens Seefa Schnee angestellt, offenbar äußerst fähig und brillant, aber unorthodox. Sie entwickelte einige Ideen zu organischen Computern. Sie glaubte, die Evolution als heuristisches Werkzeug nutzen zu können. Manche Wissenschaftler betrachten die Evolution als hoch entwickelten natürlichen neuralen Prozess, der auf dem Niveau der Spezies so etwas wie Gedanken erzeugt.«
»Evolution? Wie?«, fragt Martin. »Mit Dreck?«
Daniels zuckt die Achseln. »Eine Zeit lang arbeitete Schnee für Terence Crest. Er rekrutierte sie für eine Gruppe, die sich als Aristos bezeichnet. Die Mitgliedschaft bei den Aristos ist ausschließlich auf Hochnatürliche beschränkt. Sie halten überhaupt nichts von Mentaltherapien. Seltsamerweise nahmen sie Seefa Schnee auf, obwohl sie unter einer ungewöhnlichen und behandelbaren mentalen Abweichung litt – vielleicht weil sie selbstverursacht war.«
»Was für eine Abweichung?«, erkundigt sich Mary.
»Ich weiß es«, sagt Martin fassungslos. »Mein Gott, ich weiß, worauf das alles hinausläuft.«
»An diesem Punkt sind die Zusammenhänge nicht allzu schwer zu erkennen, nicht wahr?«, bemerkt Torres.
»Das Tourette-Syndrom«, sagt Martin mit leisem Entsetzen, das sich steigert, als niemand ihm widerspricht.
»Sie hat sich selbst behandelt, um ihr kreatives Potenzial zu vergrößern«, erklärt Daniels. »Dieser Prozess induzierte eine Art von Tourette-Syndrom. Ihre Genialität wurde dadurch nicht beeinträchtigt, und wie es scheint, waren die Aristos brennend an ihr interessiert. Außerdem war sie billig zu haben. Sie änderte ihren Namen und verschwand vor einigen Jahren aus der Öffentlichkeit. Zuletzt benutzte sie den Namen Cipher Snow.«
»Omphalos wird von der Aristos-Stiftung finanziert«, sagt Torres. »Die Mitgliederliste ist streng geheim. Wir haben keine Ahnung, woher das Geld kommt oder wie viele Mitglieder es gibt.«
»Omphalos wurde vor einigen Jahren fertiggestellt«, sagt Mary. »War das vielleicht zur selben Zeit, als Schnee verschwand?«
»Wir glauben, dass beides zusammenhängen könnte.«
In der Kabine hat sich eine Atmosphäre der Entdeckung, der Erregung ausgebreitet, die ansteckend wirkt – nur nicht auf Martin. Als Mary sich zu ihm umdreht, sieht sie, wie er sich die Knie reibt, während sein Gesicht faltig und mit blassen Flecken bedeckt ist.
»Die Aristos-Stiftung finanzierte eine meiner Studien«, sagt er. »Alles legal und korrekt.« Er erwidert Marys Blick mit einem kränklichen Grinsen. »Ich hoffe, Sie glauben nicht, dass ich irgendwie in jedes zwielichtige Geschäft verwickelt bin.«
Mary neigt den Kopf. Sie weiß nicht genau, was sie von diesem Mann halten soll. Alles ist so verwirrend. Sie kratzt sich am Handgelenk, dann am Ellbogen.
»Sie sind mit konservativen Elitisten verbündet, insbesondere der Partei der Neo-Föderalisten«, sagt Martin.
»Keine Zentristen, so viel steht fest«, sagt Daniels.
Die anderen beiden Agenten, Hench und sein namenloser Kollege, beide mit kantigen Gesichtern und großen, starken Händen, hören schweigend zu und machen sich Notizen auf ihren Pads.
»Sie interessierten sich für die Dynamik einer therapierten Gesellschaft«, fährt Martin fort. »Sie wollten wissen, wie bedeutend Therapien für die moderne Kultur sind. Aber könnten sie wirklich für die Rückfälle verantwortlich sein?«
»Das ist nach Ansicht von Nathan Rashid der Punkt, an dem Roddy ins Spiel kommt«, sagt Daniels.
»Wir glauben, dass Seefa Schnee in Omphalos einen Denker für die Aristos gebaut hat«, sagt Torres. »Und dabei könnte es sich um Roddy handeln. Offensichtlich hat Roddy eine Methode gefunden, sich in Monitorimplantate zu hacken… oder sie vielleicht nur zu stören oder funktionsunfähig zu machen.«
»Ich bin nur hier, falls man etwas in Omphalos findet«, sagt Burke zu Mary.
Hench nickt und starrt auf sein Pad.
»Wir landen in zehn Minuten«, gibt der Pilot bekannt. »Machen Sie sich bereit. Man weiß, dass wir vom FBI sind, also wird man keinen roten Teppich für uns ausrollen. Man hat uns die schlechteste Landebahn der ganzen Stadt zugewiesen.«
»Wir wissen jetzt, warum Dr. Burke hier ist«, sagt Mary. »Könnte mir vielleicht jemand erklären, warum ich eingeschaltet wurde?«
Daniels hält sich an einer Sitzlehne fest, als sich das Flugzeug in eine Kurve legt, und beugt sich näher zu Mary hinunter. »Aus zwei Gründen. Der erste ist offensichtlich – Sie können uns helfen, wenn Sie uns sagen, was Sie wissen. Der zweite ist ein wenig abwegig, fürchte ich. Wir sind gewissermaßen in der Lage von Kundschaftern, die unbewaffnet ins Indianergebiet einreiten. Die Mistkerle hier werden jede Gelegenheit nutzen, uns das Leben schwerzumachen. Aber Sie – Sie sind unser As im Ärmel.«
»Inwiefern?«, will Mary wissen.
Hench stellt sein Pad weg, sieht Mary an, und bevor Torres oder Daniels eine Erklärung abgeben können, sagt er: »Ich glaube, wir sind uns vor einigen Jahren in LA begegnet. Auf einer Konferenz zur Koordination von lokalen und Bundesbehörden. Sie haben sich seitdem verändert.«
»Ich habe meine Transformation rückgängig machen lassen«, sagt Mary angespannt. Henchs Bemerkung grenzt an Impertinenz. Wie es scheint, soll Mary gründlich abgeklopft werden, bevor sie ins Team aufgenommen wird, trotz Nussbaums Empfehlungen.
»Was haben diese Flecken auf Ihren Händen zu bedeuten?«, fragt Hench und beugt sich in seinem Sitz vor, als der alte Jet abdreht.
Mary blickt auf ihren linken Handrücken und bemerkt zum ersten Mal die vier blassen Gewebsveränderungen. Überrascht und verlegen bedeckt sie sie mit der rechten Hand.
Hench lässt sie nicht aus den Augen. »Angeblich opponieren die Aristos auch gegen Transformationsbehandlungen«, sagt er.
»Mein Gott!«, ruft Martin. »Was geht in diesem Land vor sich?«
»Dann sollten Sie niemals am vierten Juli nach Green Idaho kommen«, sagt Daniels, als wollte sie die plötzliche Anspannung lockern. »Die Leute hier sind ganz wild auf Feuerwerk. Jedes Jahr werden drei- oder vierhundert Menschen bei Unfällen mit Feuerwerkskörpern verletzt. In Straßenbuden werden sogar Dynamitstangen verkauft, wie sie früher im Tiefbau verwendet wurden.«
Mary drängt das Gewimmel in ihrem Kopf zurück, versucht sich zu entspannen und nicht auf die Hautflecken zu schauen. Das Flugzeug setzt die scharfe Kurve fort und durch das Fenster sieht Mary Grasland, zerstörte Wälder und aufgegebene Bergwerke, die die Landschaft wie riesige braune Geschwüre verunstalten. Plötzlich fällt Schnee in langen verwischten Streifen rings um das Flugzeug.
»Diese Stadt ist ein einziger großer Tumor«, sagt Torres mit gedämpfter Stimme. »Wir sollten einen riesigen Felsbrocken abwerfen und sie von der Landkarte löschen.«
Daniels grinst. »Sie lieben auch dich, Federico.«