10
Frank sitzt am Küchentisch, starrt vor sich hin und wendet den Brief zwischen den Fingern. Kein Wort kommt über seine Lippen. Lotte hat ihm ein Bier hingestellt, aber dieser Trost währt nicht.
Knapp 5000 Mark sind von ihrem Ersparten übrig geblieben. Die Police war ein Misserfolg. Ottos Ratschlag hat ihnen alles genommen, was sie in vierzehn Jahren erspart haben, hat die Willes ruiniert.
Frank hatte jahrelang die Dinge gesehen, die es für ihn gibt und sich gefragt: Warum? Dann hatte er von jenen Dingen geträumt, die es nie gegeben hat und sich gefragt: Warum nicht?
Und diese letzte Frage hatte ihm die Kraft gegeben - wiewohl er manchmal alles nur als Schatten, als flüchtigen Gedanken ansah, wiewohl er an sich zweifelte und sich einen Träumer schalt – hatte ihm die Kraft gegeben, über eben diesen Schatten zu springen.
Ich kann mehr!
Ich bin mehr!
Ich erwarte mehr!
Und nun war Otto daher gekommen, hatte diesen Traum gestohlen und eine gewisse Art des Todes mit sich gebracht. Zurück bleibt er, dieser Schatten, dessen, was Frank gemeinsam mit Lotte geträumt hatte, was der Anfang einer neuen Wirklichkeit werden sollte; bleibt ein schaler Geschmack, dem etwas Schimmeliges anhaftet und der die Kehle verschnürt.
Otto hat Frank aufgeweckt, ein Zustand, der größere Schmerzen bereitet, als er bereit ist, sich in diesen Minuten zuzugestehen, während sich auf seiner Zunge der süße Beigeschmack blutiger Enttäuschung ausbreitet. Er merkt, dass er sich in die Unterlippe gebissen hat.
Soll Frank sich in Ironie flüchten?
Er stützt seinen Kopf in die Handflächen und starrt auf den Brief.
Nein, Ironie ist die letzte Phase der Enttäuschung – danach kommt nur noch Resignation. Und resigniert hat Frank noch nie in seinem Leben.
Über seinem Zorn, diesem kurzzeitigen Wahnsinn, geht die Sonne unter und am Horizont wird es kühler, so frisch, dass es ihn schaudert, aber auch wach macht, den Kopf klärt.
Und schon regen sich seine Kräfte zum Widerstand, stemmt er sich gegen das scheinbar Unvermeidliche, so wie er sich im Krieg gegen den Tod gestemmt hat, wie er sich gegen den Berg stemmt, gegen den Vorschlaghammer, gegen ...
Immerhin könnte es sein ...
Und die Hoffnung, dieses Begehren, die Erwartung, das Gewünschte zu erlangen, streckt seine Flügel aus und trägt ihn ein Stück weit fort. Auch wenn das Schiff seiner Hoffnung nur an einem einzigen Anker hängt, was gewiss nicht ausreicht und keinem Sturm standhält, wenn der Fallschirm durchlöchert ist und die Möglichkeit einer weichen Landung begrenzt, ist Frank nicht bereit, sich und seine Idee aufzugeben.
Immerhin könnte es sein, das sich alles nur als Irrtum herausstellt!
Was hätte Colonel Legrange in diesen Minuten getan? Er hätte gesagt: Was auch immer du jetzt handelst, handele es bedacht und bedenke das Ende. Was du nun am nötigsten brauchst, ist ein Mensch, der dich zwingt, das zu tun, was du kannst, Allemand.
»Lotte«, sieht Frank auf und findet ihr Gesicht. »Was soll ich tun?«
Sie steht mit dem Rücken zum Fenster, schweigt und raucht. Selten hat er sie so stumpf erlebt, so ohne Worte, so fern.
Ihre Wangen wirken hohl, ihre Haut teigig, die Haare ungepflegt und auf der Kittelschürze sind Flecken. Mit diesen vorübergebeugten Schultern und den schmalen Lippen, die grauen Rauch auspusten, wirkt sie im gelben Licht des Sturmes, der vor dem Fenster aufzieht, älter als sie ist, wie eine Überlebende.
»Ich liebe meinen Bruder«, flüstert sie dann nach einer Weile, als könne sie damit erklären, wo es nichts zu erklären gibt.
Frank fragt sich, ob dieser kleine Satz noch die Liebe erklärt, der jener Lufthauch ist, der alles Grüne nährt oder nur noch das Pflichtgefühl, das Familienbande kultiviert?
Die Küchenuhr tickt ohrenbetäubend, der Wasserkessel blubbert. Nebenan übt Thomas auf seiner Gitarre.
»Wir rufen ein Taxi!« Frank schiebt den Stuhl zurück und erhebt sich wie jemand, der viel zu lange gesessen hat, dessen Rücken verholzt ist, der seinen inneren Schlaf getilgt hat und bereit ist, sich gegen das Schicksal zu stemmen. »Wir rufen ein Taxi und fahren jetzt, hier und auf der Stelle nach Berlin.«
Franks hageres Gesicht ist ein Schattenriss, eine vom Sand der Erbitterung und Sturm des Ingrimms zerklüftete Felslandschaft, unter seinen Augen glühen die Reste des Kohlenstaubs, die sich dort in die Haut gefressen haben.
»Knapp fünftausend Mark sind uns geblieben«, sagt Frank mit blecherner Stimme. »Und ich werde Otto zur Rede stellen.« Bestätigend wiederholt er: »Jetzt, hier und auf der Stelle.«
Mit dem Taxi nach Berlin, lieber Gott!, denkt Lotte. Das ist teuer, fast unbezahlbar, aber sie wagt nicht, Frank zu widersprechen. Hätte doch nur einer von ihnen einen Führerschein. Vielleicht würde man sich irgendwo ein Auto leihen können, denn mit dem Taxi nach Berlin ... Davon kann man für eine ganze Woche etwas zum Essen einkaufen oder noch länger. Das ist Wahnsinn! Sie müssen ihre Pässe dabei haben, sonst kommen sie nicht durch die DDR. Das wird lange dauern. Vor 23 Uhr können sie nicht bei Otto sein.
Frank flüstert, seine Kehle ist rau und die Worte kommen schwer über seine Lippen: »Thomas soll uns begleiten. Ich will, dass er sieht, was geschieht, wenn man einem Freund vertraut.«
»Aber Frank ...«
»Thomas kommt mit!«
Fünfzehn Minuten später sitzen sie im Fond des Mercedes, der nach Taxi riecht wie alle Taxen auf der Welt. Leder, Plastik, Parfüm und verhangener Schweiß. Frank hat mit dem Fahrer einen annehmbaren Preis ausgehandelt, der Lotte nichtsdestotrotz eine Gänsehaut auf den Rücken treibt – da kann sie nicht aus ihrer Haut. Tom flegelt auf dem Beifahrersitz, die langen Beine angewinkelt. Er spürt, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss und schweigt, den Kuss von Gaby noch immer auf den Lippen, ihren Geruch in seiner Seele. Noch nie hat er Vater derart aufgebracht erlebt, was dessen wilde Schweigsamkeit noch hervorhebt. Der Fahrer versucht einen oder zwei Witze und lässt es wieder sein. »Scheiß§ Wetter«, murmelt er und biegt auf die Bundesstraße 1 ab.
Lotte hält Franks Hand und flüstert: »Mach keine Dummheiten. Er wird uns alles erklären können.«
Frank starrt geradeaus durch schlierige Scheiben und nickt. Lotte glaubt ihm keines seiner ungesagten Worte. Es ist 18 Uhr durch und die Straßen sind voll.
»Er hat dich zum Weinen gebracht«, murmelt Frank. »Und er hat unsere Zukunft zerstört.«
Anstatt einer Antwort drückt Lotte seine Hand noch etwas fester. Es war unsere Entscheidung, denkt sie, unsere eigene Entscheidung, das Geld bei Otto anzulegen, war unsere Verantwortung! Soll sie das sagen, mit Frank darüber reden? Nein, jetzt nicht.
Tom dreht sich zu seinen Eltern um. Seine Augen sind geweitet, ungefragte Worte hängen an seinen Lippen.
»Dein Onkel Otto hat uns bestohlen!«, stößt Frank hervor. Lotte spürt, dass sich seine Verhärtung auflöst, dass er endlich über das sprechen muss, was ihn innerlich zu zerreißen droht. »Wir haben ihm unser Geld anvertraut und er hat es verspekuliert.«
Tom nickt, als kenne er die Hintergründe.
»Dieses Geld brauchten wir, um ein Haus zu kaufen. Mama und ich haben es uns schon ausgesucht, ein schönes Haus mit einem großen Garten, in der Siedlung Helene. Wir hätten in zwei oder drei Monaten dort einziehen können, alle zusammen, mit Ottilie, die ganze Familie ... und nun ... nun ist alles weg!«
Und ich habe es mir heute sogar angeschaut, ich Närrin!, fügt Lotte in Gedanken hinzu. Da ist man einmal optimistisch, da glaubt man einmal an das, was man tut und fällt prompt auf die Nase.
»Das ist bestimmt ein Versehen«, sagt Tom.
»Ja, so wird es sein«, bestätigt Lotte.
»Lass den Quatsch«, zischt Frank. »Otto wusste genau, was er tat.«
»Was hast du vor, Papa?« Es ist das erste Mal seit zwei Jahren, dass Tom seinen Vater Papa nennt. Es erscheint ihm angemessen.
Auf Franks Gesicht macht sich ein Lächeln breit. »Ich bringe ihn um!«
»Na, na«, kann der Taxifahrer nicht an sich halten.
»Bitte ... Frank«, Lotte erkennt sich nicht wieder. Was ist los mit ihr? Was verschließt ihren Mund? Warum ist sie so devot? Liegt es daran, dass Otto ihr Bruder ist, der ihnen das Leben mit seinem Mundharmonikaspiel rettete? Oder will, kann sie nicht wahrhaben, was nicht sein darf? Steckt sie den Kopf in den Sand, hält sie die Hände über die Augen, in der Hoffnung, niemand sehe sie?
»Na gut«, beschwichtigt Frank. »Umbringen werde ich ihn nicht, aber ich möchte in seine Augen schauen. Ich möchte die Lüge von seinen eigenen Lippen hören. Ich kann nicht warten!«
Das ist es!, denkt Lotte. Er kann nicht warten. Er will wissen, ob er betrogen wurde, denn tief drinnen in ihm keimt gewiss die Hoffnung, es handele sich um einen Irrtum, um einen Schreibfehler oder etwas ähnlich Unverfängliches.
Frank starrt vor sich hin.
Da vorne sitzt sein Sohn, der ein ebenso gutseliger Narr ist wie so viele, die in Vertrauen leben und im Glauben daran sind, dass der Mensch eine gute Seele sei. Thomas wird heute Abend die größte Lehre seiner noch frühen Jugend erteilt bekommt. Er wird lernen, dass Wahrhaftigkeit eine menschliche Tugend ist, die den edleren Geist von der gemeinen Natur scheidet, weil, verdammt noch mal, die Lüge der eigentliche faule Fleck der menschlichen Natur ist. Er wird lernen, dass Freundschaft, so sehr sie auch erstrebenswert sein mag, zuletzt doch nur auf den Nutzen gegründet ist.
Und er wird darunter leiden, wie alle leiden, die diese Lehre ziehen.
Auch ich bin ein Schwachkopf, denkt Frank. Auch ich habe vertraut. Und wurde betrogen. Als wäre es das erste Mal in meinem Leben gewesen. Als hätte ich keine Lebenserfahrung. Liegt es in der Natur der Vorfreude auf ein banales Ereignis wie ein Fußballspiel, dass man seinen Kopf ausschaltet und willig in den See steigt?, erinnert er sich daran, dass er, statt konzentriert, in Gedanken beim Endspiel gewesen war, während Otto, professionell, in Anzug und Krawatte, seinem dubiosen Geschäft nachgegangen war.
Ich habe es nicht besser verdient, urteilt er über sich. Und Lotte hat den ganzen Nachmittag geweint. Sie ist eine gute Frau, die Beste, die Frau, die ich über alles liebe! Und sie hat diesen Kummer nicht verdient, kann nichts dafür, dass ich es für richtig hielt, unser sauer Erspartes einem Angehörigen in den Rachen zu werfen.
Zwischendurch beruhigt sich Frank. Sein Kopf sinkt auf die Brust. Er schnarcht leise. Tom schläft ebenfalls. Lotte starrt mit weit aufgerissenen Augen durch das Autofenster in die Dunkelheit.
Die ganze Reise ist wie ein Albtraum. Die Grenzer, die holperige Straße im Osten, die Geschwindigkeitsbegrenzung. Das Nichts! Die Dunkelheit des Sozialismus.
»Ist es das?«, unterbricht der Fahrer endlich und es ist fast Mitternacht. Er zeigt auf ein weißes Haus, das, von zwei Laternen beleuchtet, wie ein kleiner Palast an der Mündung einer Straße trutzt. Ottos Opel Kapitän wacht vor der Garage und glänzt im Nieselregen.
»Ja, wir sind da«, murmelt Lotte und bezahlt. Sie hatte das Ersparte aus der Zigarrenkiste genommen und die Scheine brennen zwischen ihren Fingern.
Frank ist schon draußen.
Ein kalter Windzug streift durch das Wageninnere. Lotte fröstelt. Auch Thomas steigt aus. »Mein Berliner Kollege ist in fünf Minuten hier«, sagt der Fahrer und reicht Lotte eine Visitenkarte. »Rufen Sie an und er bringt sie für denselben Preis zurück nach Bergborn. Ich spreche das mit ihm ab!«
»Danke. Aber zurück fahren wir wahrscheinlich mit der Bahn«, flüstert Lotte.
Der Fahrer nickt. »Ja. Und glauben Sie mir - manchmal wird nicht alles so heiß gegessen ...«
Den Rest verschluckt der Wind und Lotte schlägt die Tür hinter sich zu.
Die drei Willes blicken den Rücklichtern des Taxis hinterher.
Eine Minute später liegt Franks Finger auf der Klingel.
Die Haustür schwingt auf.
Gina steht vor ihnen. Sie ist dabei, eine Sportjacke abzustreifen, ihr Chanel-Regenschirm lehnt im Flur an der Wand und tropft auf die Marmorfliesen. Hinter ihrem Rücken taucht Otto auf, der sich soeben mit einer Hand die Krawatte abstreift, in der anderen Hand sein Paar Schuhe.
Beide, Gina und Otto, starren verdutzt drein.
Ja, denkt Lotte, uns habt ihr nicht erwartet und gleichzeitig macht sich eine graue Melange aus Gram und Hoffnung in ihr breit.