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Ohne ein Wort des Grußes schiebt sich Oma Käthe an ihren Söhnen Rudi und Otto vorbei, wie ein Raupenfahrzeug mit Schaufeln voller Fragen, Problemen und Stellungnahmen, lässt Lotte und Frank links und rechts stehen wie Zinnsoldaten, pflanzt sich mitten in der Küche auf, steckt sich eine Zigarette an, pafft wie eine Dampfmaschine, die auf Hochtouren läuft, und stemmt die Hände in die Hüften. »Na, ist es wieder passiert? Dieses Ding mit Ottilie?« Ihr Busen bebt, ihre grauen Augen blitzen. Um sie herum wabert Zigarettenqualm.

Das ist der Moment, den Lotte gefürchtet hat, der über den Verlauf ihres Geburtstages bestimmt. Ein falsches Wort, das als Angriff gewertet werden könnte, und der Teufel in Gestalt von Oma Käthe ist los. Dann vergisst sie ihre gestandenen fünfundfünfzig Jahre, dass sie seit zwanzig Jahren ohne Mann ist, ihren Hass auf die Russen, und dass sie unter Gibbus leidet, also einen ansehnlichen Buckel hat.

Es geht um das Wohl von Ottilie und da ist Oma Käthe nicht zu bremsen. (Sonst eigentlich auch nicht, aber heute könnte es besonders heftig werden.)

Frank tritt zu ihr hin und drückt die kleine verwachsene Frau an sich. »Schön, dass du da bist, Muttel!« Er benutzt das schlesische Wort für Mutter und wie üblich dringt er damit durch ihren Panzer, er, ihr Lieblingssohn, verlässlicher als ihre Leiblichen Otto und Rudi, attraktiver ohnehin. Ein guter, fleißiger Mann. Und mit ihrer Tochter wird sie noch ein Wörtchen zu reden haben. Und wo bleibt Regina? Lippenstift auftragen unten im Klo? Was glotzt ihr alle so? Steht nicht rum wie die Ölgötzen!

Oma Käthe macht sich von Frank los. Von ihren weißen Wimpern löst sich eine Träne und kullert über die Wange. Ihre Mundwinkel zittern. »Wo ist meine Süße, Frank? Wo ist Ottilie?«

»Sie ist zur Beobachtung im Krankenhaus«, fährt Lotte dazwischen. Sie übersieht die Rührung ihrer Mutter. Davon will sie nichts wissen.

Es sind die kleinen Flirts von Frank, die eine erstaunliche Wirkung auf Oma Käthe haben. Frank hegte schon immer für die resolute Kompaktheit seiner Schwiegermutter so etwas wie Bewunderung und legt mit warmer Herzlichkeit Schicht für Schicht frei, bis er die herbschlesische Zugänglichkeit berührt.

Da ist er weiter als Lotte, die das nicht mehr kann, da sie eine Erinnerung pflegt, die unauslöschlich ist, ein Erlebnis, das einen Keil zwischen Tochter und Mutter getrieben hat, der jede zukünftige Verbindung der Seelen verbietet. Sie hat Frank viel über Oma Käthe erzählt, oh ja! Aber nicht alles. Und dieses alles macht jenen Konflikt aus, den sie seit zwanzig Jahren in sich trägt und von dem Frank nichts ahnt, Gott sei Dank!

»Ottilie geht es gut, Muttel«, sagt sie, obwohl sie ihre Mutter in Gedanken immer Oma Käthe nennt, reserviert, unzugänglich.

Lotte hat sich im Griff. Sie ist eine vollendete Gastgeberin. Sie freut sich, ihre Brüder wieder zu sehen. Piefke Rudi, Otto, Gina und ihre Mutter haben sich die Anreise richtig was kosten lassen. Erst mit dem Zug aus Berlin, wo sie alle in eigenen Wohnungen leben, dann mit einem Taxi. Das kostet was. Damit man pünktlich vor dem Mittagessen da ist. Das honoriert Lotte. Sie hat – wie es sich gehört – gehörig vorgekocht, Schweinebraten, Sauerkraut, mit Speck durchgezogen, Kartoffelklöße, die sie gestern Abend geknetet hat, die jetzt aufgegangen sind, auch der Eierstich für die Vorsuppe steht schon im Kühlschrank.

Es ratschratscht an der Tür.

Lotte geht und kehrt untergehakt mit Regina zurück.

Ottos junge Frau steckt in einer frechen Chanel-Kopie, einem Kostüm, das sie aus einem Burda-Wäscheschnitt gefertigt hat. Ihr Gesicht ist ein einziges großes Oval, die Lippen und Grübchen Herzchen, die Augen oval, tief, nach der neuesten Mode geschminkt, die Nase rundlich, frech aufgeworfen wie bei einer Puppe, die Haare modisch toupiert, glitzernd vor Haarspray, die Gestalt duftend nach Nummer 5.

Neben Regina wirkt Lotte bieder und hausfraulich, vergleicht Frank impulsiv. Gina ist so modern angezogen, so – attraktiv, so deplatziert. Sie sieht aus wie eine Süßigkeit. Eine Kindfrau, weich und fest gleichermaßen, eine die man besser nicht oberflächlich bewertet, wie Frank weiß.

Denn da ist Ginas Geschichte.

Und die hat nichts mit Süßigkeiten, Wohlbefinden und Wärme zu tun, sondern mit einem versoffenen Vater, einer blöden Mutter, einem Kindesmissbrauch, einem erniedrigenden Gerichtsprozess, damals 1957, und dem Ehrgeiz eines schmalen, geschundenen Mädchen, dass trotz alledem ihr Ziel nicht aus den Augen verliert: Ihr Leben meistern, mittlere Reife, eine Lehre absolvieren, Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen. Mit sechzehn verlässt sie ihre Mutter – der Vater sitzt im Knast – und schafft den Grundstein ihrer Zukunft.

Und so passt sie doch zu ihnen, ist eine Jäckel, intelligent, stark, eine Überlebende.

Die Gesellschaft gruppiert sich um den Küchentisch. Es ist etwas vor zwölf Uhr, Zeit für einen Frühschoppen, einen Willkommensgruß, ein Schnäpschen für die Männer, Steinhäger aus der braunen Flasche, ein Bier oder auch zwei, Käthe trinkt Eckes Edelkirsch, Gina goutiert den Cinzano.

»Also Lotte ...« Käthe wendet sich mit scharfem Blick an ihre Tochter. »Was ist los? Was hast du mir am Telefon verschwiegen?«

Lotte bereut, nicht irgendeine Ausrede für die Abwesenheit ihrer Tochter erfunden zu haben. Gestern, nachdem sie den Schreck überwunden, Ottilies Arme verbunden hatte und ungeduldig auf Frank wartete, rief Oma Käthe an - unten bei Rampfs, die schon ein Telefon haben und von denen man sich für heute vier Stühle geliehen hat -, man holte Lotte dran und Oma Käthe fragte, ob alles in Ordnung sei, als wolle sie einem unerfreulichen Tagtraum nachspüren, hellseherisch, gespenstisch, und Lotte sagte die Wahrheit, war zu verzagt für eine Ausflucht. Allerdings wusste sie da noch nicht, dass man Ottilie im Krankenhaus behalten würde.

»Niemand weiß was Genaues«, sagt Frank. »Zumindest sagt uns keiner was, aber ich glaube, die haben keine Ahnung. Der Arzt meinte, sie leidet unter inneren Spannungen. Dadurch tut sie sich weh. Das machen auch andere Mädchen. Sie zerschneiden sich die Arme, manche drücken Zigaretten auf ihrem Körper aus, andere essen nichts mehr. Scheint nicht ungewöhnlich zu sein.«

»Aha.« Oma Käthe trinkt den dritten Likör. »Das war ja nicht das erste Mal. Woher kommt das? Wer kann mir das erklären?«

Ja, denkt Lotte, wer kann uns das erklären?

»Die süße Kleine ... Wirklich grauenvoll ...«, flüstert Gina und bremst sich, als hätte sie noch einiges zu sagen, als wäre dies nicht der letzte Satz zu diesem Thema.

Otto reicht Gina Feuer und schüttet sich ein Bier ein. An seiner rechten Hand blitzt ein Ring mit einem schwarzen glatten Stein. Er ist ein hagerer hühnerartiger Mann, glatt rasiert, glatthäutig, ähnlich poliert wie seine Mutter unter glatten braunen Haaren, die aussehen wie eine Perücke; sogar seine Kleidung wirkt merkwürdig faltenlos.

Sein sechs Jahre jüngerer Bruder Rudi – der Piefke, wie die Familie ihn nennt - saugt an einer schmalen Don Diego und kippt den Steinhäger, ganz Rock’n’Roller, der er ist, immerhin spielt er seine Elektrogitarre fast so gut wie Chuck Berry und das will was heißen! Wer ihm begegnet, staunt über seine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Horst Buchholz. Allerdings ein Hotte, der es ganz schön hat krachen lassen, denn unter den Augen trägt Rudi Schatten, die von durchzechten Nächten ahnen lassen, seine Haare sind zu lang, um ordentlich zu wirken, Hose und Jackett schmal, der fingerschmale Lederschlips schlampig gebunden.

»Ja, Gina, es ist grauenvoll«, echot Lotte.

»Es gibt einen Grund«, sagt Oma Käthe, die Stimme hart wie Stein, lauernd, als finde sie die Ursache zwischen den Zigarettenschachteln, die auf der Tischdecke verteilt sind, den überquellenden Aschenbechern, zwischen den Bierdeckeln oder überhaupt hier in der Küche. »Es gibt immer einen Grund.«

»Lotte soll Ottilie am Montagmittag nach Hause holen. Wir dürfen sie nicht besuchen, weil am Samstag und Montag ein Seelenklempner mit ihr sprechen wird. Sie soll durch uns nicht abgelenkt werden. Ich finde das zwar ziemlich hart für das Kind ...«, sagt Frank.

Wer kann uns das erklären? Ist Oma Käthes Frage wieder in Lottes Kopf, kreist, dreht sich, hallt wider. WER KANN UNS DAS ERKLÄREN? Wer, um Himmels willen?

Vor sechs Wochen, als es das erste Mal passierte - dem Himmel sei Dank!, benutzte sie keine Rasierklingen, sondern ein halbstumpfes Küchenmesser - versorgten sie ihr danach die Arme mit Jod und Mullbinden. Lotte erinnert sich, wie sie auf das Mädchen eingeredet hatten. Ottilie schwieg. Starrte gleichgültig vor sich hin. Lotte rüttelte ihre Tochter, schrie sie an. Ottilie schwieg.

Vor drei Wochen dann die zweite Selbstverstümmelung. Diesmal brachten sie Ottilie in ein Krankenhaus. Pubertät, meinte der behandelnde Arzt. So was käme vor. Kein Grund zur Beunruhigung. Man legte eine Akte an. Sie beantworteten drei, vier Fragen, das war’s und auf nach Hause. Ottilie schwieg. Lächelte unglücklich, weinte und schwieg. Frank wurde es zu viel. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, seine Augen Tümpel der Verzagtheit. Lotte drückte währenddessen den zitternden Körper ihrer Tochter an sich. Sie alle waren überfordert. Hatten so viel Angst. Dann stritten sie sich. Und Ottilie stand da und starrte ihre zeternden Eltern an. Es war grauenhaft. Beschämend. Da überlebte man Flucht, Krieg, Erniedrigung und Schlimmeres und wusste nicht weiter, wenn die eigene Tochter sich die Arme zerschnitt. Sie waren so hilflos, so unglaublich hilflos. Sie alle, denn nun kam noch Tom dazu und weinte und rotzte und wie von einer Tarantel gestochen drehte Ottilie sich um, riss die Küchentür auf, warf einen dunklen Blick über ihre Schulter und sagte ganz leise: »Schuldig!«

Dann war sie raus ins Kinderzimmer, und Eltern und Bruder starrten ihr hinterher. Hatten sie das Wort richtig verstanden?

Schuldig!

Ja, das hatte sie gesagt. Den Sinn gab Ottilie nicht preis, so sehr sie auch bedrängt wurde.

Auch gestern verschloss sie sich, gestern, als es erneut geschah. Die Wunden, die sie sich zugefügt hatte, waren die schwersten bisher.

Endlich, endlich kam Frank von der Schicht, Lotte war noch eins tiefer am Telefon und Tom passte auf seine Schwester auf. Sie brachten Ottilie ins Krankenhaus. Ein Arzt sprach ausführlich mit ihnen, konnte die familiäre Verdüsterung jedoch nicht erhellen. Sie solle zur Beobachtung in der Klinik bleiben. Montag würde sich ein Psychologe um sie kümmern. Eine Kapazität, der Mann. Dann würde man sehen ...

Später schickten sie Tom ins Bett, und als sie sich alleine wähnten, redeten sie miteinander. Sie fragten sich nach den Gründen, schoben Überlegungen hin und her.

SCHULDIG!

Was hat das zu bedeuten?

Lotte wollte die Geburtstagsfeier absagen. Frank sperrte sich, man könne jetzt sowieso nichts ändern, Trübsal blasen sei sinnlos, und sie stimmte ihm zu. Da merkte sie, dass auch er einen Kummer mit sich trug. Er war keiner der Männer, die ihre Gefühle verbargen, sondern öffnete sich ihr vertrauensvoll. Sie erfuhr von Schotterbein und der Sache mit dem Türken. Franks Streit mit dem Despoten verhieß Schwierigkeiten. Was hatte Frank am Montag zu erwarten?

Sie machten sich ein Bier auf, dann noch eines.

Himmel noch mal, warum kam es Lotte mit einem Mal so vor, als wenn sich der Himmel grau über sie wölbte, als wenn eine Wand mit Problemen vor ihnen aufragte? Konnte man dieses dumpfe Gefühl nicht einfach wegreden, wegtrinken, wegdenken? Nein, sogar Tränen nützten nichts, außer dass sie noch trauriger machten.

War dies das Ende der Träume? Wollte Frank nicht alles tun, Lehrgänge, Fortbildungen, alles! um in ein paar Jahren als Steiger viel mehr Geld mit nach Hause zu bringen? Musste es überhaupt der Pütt sein? Gab es auch andere Möglichkeiten? Mit vierzig ist man noch nicht zu alt für einen neuen Anfang, oder? Hauptsache genug Geld für ein Häuschen im Grünen, draußen am Stadtrand, mit einem Garten und einem kleinen Teich und einer Garage, in der nicht nur Fahrräder, sondern sogar ein Auto stehen würde - ein kleines Auto, man blieb ja auf dem Teppich, nicht wahr? - und jedes Kind hätte sein eigenes Zimmer und alle hätten fließend heißes Wasser und eine helle schöne Badewanne und eine Toilette.

Es zog düster durch ihre Herzen, sie lehnten sich aneinander und dachten daran, was sie schon miteinander durchgemacht hatten. Das und das dritte Bier gaben ihnen Zuversicht.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Das ist ihr Familienspruch. Die Wahrheit. Sie würden Sieger sein, weil sie immer zusammenhalten, weil sie Freunde sind, durch dick und dünn gehen ...

Die Hoffnung stirbt zuletzt, denkt Lotte und weinte noch etwas, als sie später eng an Frank gedrückt lag.

Jetzt ist Lotte froh, dass Thomas, während sie hier um den Küchentisch sitzen, rauchen, schwatzen, trinken, dass Tom jetzt draußen ist und spielt. Sie ist froh, dass er sie nicht nervös machen kann, dass er nicht zu viel mitbekommt von Dingen, die ihn noch nicht berühren sollten. Insgeheim weiß sie, dass sie sich belügt. Wie soll Thomas, der mit Ottilie in einem gemeinsamen Zimmer schläft – ein Problem, das sie bald lösen müssen, sehr bald! – wie soll der Junge von den Geschehnissen unberührt geblieben sein? Aber sie will ihn in nichts reinziehen. Das dünne Kerlchen ist sowieso sensibel wie ein Birkenschössling.

Heute soll Thomas ihretwegen das Mittagsessen überspringen, eine Extravaganz, eine Disziplinlosigkeit, die sie sich gönnt. Er wird noch genug schlemmen dürfen. So verdirbt er sich nicht den Magen und wird nicht nervös, wenn er stundenlang mit den Erwachsenen zusammen sein muss. So kann sie sich ganz auf den Besuch konzentrieren.

Die Stimmen um Lotte herum verlieren sich. Oma Käthe, Otto, Piefke, Frank, sie alle ... sind draußen, außerhalb ihrer jähen Teilnahmslosigkeit. Sie sehnt sich nach einem gemütlichen Nachmittag gemeinsam mit Frank und den Kindern. Das wäre das Schönste, ihr allerschönstes Geburtstagsgeschenk, denkt sie melancholisch. Am liebsten würde sie weinen. Aber sie reißt sich zusammen, so wie sie ihre Gefühle immer bezwungen hat, ihr ganzes Leben schon.

Sie kommt wieder in Gang, erwacht. Ist wieder zurück, im Hier und Jetzt ihrer Geburtstagsfeier; sie blinzelt und nimmt alles mit erstaunlicher Klarheit wahr. Durch das Fenster fällt die frühherbstliche Sonne, fällt auf Frank, fängt die Vorgebirge seines Gesichts ein, die hervorstehenden Wangenknochen, die Spitze seines Kinns, die senkrechten Erhebungen über seinen Brauen, die im Licht glühenden Haare. Er ist ein Hüne und neben ihm sieht Käthe Jäckel wie eine pausbäckige Märchenoma aus, rotwangig poliert, fast faltenlos, die grauen Haare korrekt zurückgekämmt, der Dutt im Netz gefangen, die scharfgrauen Augen brillenlos auf Lotte und die anderen gerichtet.

Gina schwenkt ihr Glas, leert es, es ist schon das Vierte. Das stört Lotte, denn die Kleine kann keinen Alkohol vertragen, der Tag ist noch lang. Wenn Gina betrunken ist, zeigen sich die Grenzen ihrer Kompensation, entsteigt dem Bad der Misshandlungen eine stahlharte Frau, dann kann sie streitsüchtig und ungerecht sein.

Gina fragt: »Wann ist Ottilie mit der Schule fertig?«

Frank antwortet: »Im nächsten Jahr geht sie auf Stellensuche.«

»Hat sie einen besonderen Berufswunsch?«

»Nein, aber es gibt genug Arbeit in Deutschland. Wir werden das Richtige für sie finden.«

»Ihr findet das Richtige für sie, aha!« Ginas Stirn legt sich in Falten. »Wisst ihr ... Möglicherweise kann ich ja was für das Mädchen tun. Ich meine ... wenn wir ihr schon die Entscheidung abnehmen ...«

»Du machst mich neugierig«, sagt Otto.

»Lasst euch überraschen.« Gina lächelt geheimnisvoll. Sie nimmt die Zigarette von der Spitze und drückt diese aus. Als sie aufsieht, fühlt sie alle Blicke auf sich gerichtet. »Vermutlich ist alles ganz einfach. Sie fühlt sich nicht mehr wohl hier in Bergborn. In dieser Wohnung. Versteht ihr?«

»Nein«, gab Lotte zurück.

»Vielleicht will sie einfach nicht mehr den Abwasch machen, hier rumputzen, in Eimer pinkeln, Leuten zugucken, die ihre Karnickel schlachten und all das.«

Franks Kiefer mahlen. Seine Brauen ziehen sich zusammen. An seinem Hals zeigen sich rote Flecken. »Harte Worte, Gina. Was willst du damit sagen?«

Gina winkt ab.

Gott sei Dank, denkt Lotte, sucht Gina keinen Streit, sonst hätte sie nicht abgewunken, sondern das Thema bis zum bitteren Ende ausdiskutiert. Sie erinnert sich daran, dass Gina einmal sagte, sie habe niemals klein beigegeben, wenn sie ihrem Lehrer einmal angekündigt hatte, eine Arbeit nicht schreiben zu wollen – im Gegensatz zu den restlichen Schülern der Klasse, die, Konsequenzen fürchtend, großen Plänen schneller untreu wurden, als man eine Papierschwalbe bauen konnte. Es käme nicht unbedingt darauf an, Recht zu haben mit dem, was man tue, sondern es überhaupt zu tun.

Endlich fällt Lotte auf, dass ihr noch niemand gratuliert hat, nicht einer auf ihr Wohl angestoßen hat (abgesehen von Frank und Thomas heute Morgen.) Keine Geschenke sind ausgepackt, keine Blumen überreicht. Alles lagert noch draußen im Flur vor dem großen Wandteppich. Ottilie beherrscht den Tag. Das Mädchen wäre glücklich, wenn sie das wüsste - umgehend schämt Lotte sich für diese Mutmaßung.

»Macht euch ruhig was vor ...«, sagt Gina. »Ich weiß, worüber ich rede. Wenn man sich nicht durchsetzt, unterliegt man.« Ihre Augen sind verhangen, dunkel.

Oma Käthes Wangen verziehen sich und sie entblößt makellose Zähne, so echt wie ihr Buckel, als wolle sie zubeißen, die Argumentation schnappen wie ein Haifisch, ein scharfes Lächeln. »Unsere Regina will sagen, dass meine kleine Ottilie nicht für den Haushalt geschaffen ist, sondern größere Ziele zu haben hat.«

»Muttel, bitte ...«, unterbricht Lotte.

Oma Käthe ist unbeirrbar. »Sie will sagen, dass Ottilie unter den Umständen hier leidet. Sie will damit sagen, dass Frauen, die sich nicht unentwegt aufdonnern und benehmen, wie eitle Hühner, nichts wert sind. Sie will damit sagen, dass Hausfrauen Scheiße sind.«

So lange Lotte sich erinnert, gab es einen von Oma Käthe um die Ohren, wenn das böse Sch ... Wort genannt wurde. Darüber, dass sie es jetzt benutzt hat, staunen alle, jedoch nicht über die kleine Rede, denn so etwas ist man von Käthe Jäckel gewohnt. Die Wangen der kleinen harten Frau sind vom Eckes gerötet.

»Ich guck mal, ob was im Radio läuft«, wirft Rudi ein. Seine Stimme ist hell und unsicher.

Frank fährt dazwischen und erstickt möglichen Zwist im Keim. »Der Arzt meinte, es könne sein, dass Ottilie ein schlimmes Erlebnis gehabt hat, irgendetwas, das sie auf diese Art verarbeitet. Wir werden uns alle Mühe geben, das zu finden.« Seine Stimme bebt ganz leicht. Er zwingt sich zur Ruhe. »So ist das eben, wenn man etwas Schlimmes erlebt hat. Es verändert einen, nicht wahr?« Er blitzt Oma Käthe an.

Gina drückt die Zigarette aus, als handele es sich nicht um einen Aschenbecher, sondern um Oma Käthes Gesicht. Sie nagelt Lotte mit einem scharfen Blick fest. »Ein geschlechtsreifes Mädchen teilt sich ein Zimmer mit einem Knaben vor der Pubertät. Das ist doch ...« Ihre Augen blitzen wie Diamanten. Sie lässt ihr Urteil im Raum stehen.

Frank lehnt sich zurück und hakt die Daumen hinter den Hosengürtel. Er fixiert erst Lotte, sehr intensiv, dann einen nach dem anderen. Bis hierhin und nicht weiter!, heißt das.

Gina schnauft, hat den Tadel begriffen, schüttet sich das Glas voll und nüselt beleidigt. Otto legt den Arm um sie, tätschelt ihre Schultern und sein glattes Gesicht ist lang und trübe. »Was gibt’s denn heute zu Mittag? Ich hab‘ Kohldampf.«

Auch in dieser Familie gilt es die faszinierende Handhabung zu beobachten, wonach Angriffe, Ungerechtigkeit, Parteilichkeit und Rechthaberei zu Gekakel und Getöse führen, dem meist eine stickige Ruhe folgt, denn niemand will einen Streit endgültig eskalieren lassen. Jeder ruht sich aus, denkt nach, will hemmen, glätten, Gehörtes überhören und ist nur zu gerne bereit, Gebogenes zu begradigen. Man windet das Thema wie ein feuchtes Handtuch, sucht Auswege wie einer, der sich verlaufen hat, hat den Willen zur Harmonie. Es gibt so vieles, über das man reden kann und wenn es das Wetter ist. Das ist ein ewiger Kreislauf der Anstrengung, in gewisser Weise ein Elixier für Familientratsch, Gemeinsamkeiten und erneut gewünschten Begegnungen, denn der Genuss am Klatsch ist größer als die tägliche Eintönigkeit.

»Heh, gefällt euch das?« Rudi hat einen Sender gefunden, der moderne Musik bringt.

Gina verabschiedet sich nach unten auf die Toilette, Otto tritt ans Fenster und gafft raus, räumt dann die Kakteen und die Amaryllis auf einen Beistelltisch, öffnet einen Flügel, damit Luft reinkommt, Oma Käthe sitzt wie angegossen und starrt vor sich hin.

Frank räuspert sich, dass alle zusammenzucken, hustet und spuckt in sein Taschentuch. Er sieht auf, alle Blicke sind auf ihn gerichtet. »Wie wär’s, wenn wir unserer lieben Lotte mal gratulieren?«

Man entschuldigt sich - Ja, liebes, liebes Lottchen, herzlichen Glückwunsch zum Dreiunddreißigsten! Hach, es war aber auch alles so nervös, bitte verzeih uns! Aber glaub ja nicht, wir hätten dich vergessen, aber nein doch, sonst wären wir ja nicht hier! -, alle freuen sich über die Zerstreuung, überreichen Geschenke, küssen und drücken den Gegenstand ihres Wohlwollens und da kommen Lotte ein paar Tränen, aber aus anderen Gründen, als alle denken. Mann oh Mann! Sie weint ganz schön viel in letzter Zeit. Das geht ihr gehörig auf die Nerven.

Frank, der ihr schon heute Morgen gratuliert hat, der ihr eine Platte von Zarah Leander geschenkt hat, wo ihr Lieblingslied drauf ist, nimmt sie ganz doll in den Arm, streichelt ihren Rücken, küsst ihren Nacken und in seinen Augen sieht Lotte den verhaltenen Zorn und die Traurigkeit, die wie eine Dunstglocke über der Küche hängt. »Es tut mir so Leid«, flüstert er. »Der Nächste, der eine blöde Bemerkung macht, fliegt raus.«

Man begegnet sich beim Essen und Oma Käthe hilft und Gina packt mit an, was sie noch nie gemacht hat. Oma und Gina schweigen sogar und das hat Seltenheitswert.

Erst gibt es eine Vorsuppe aus Markknochen, mit vielen Augen drauf, die bläulich irisieren, schön kräftig und gesund und darin Eierstich, ganz liebevoll in gleichgroße Würfel gestochen und alle schmatzen und sinnieren und schlürfen.

Danach ist der Braten dran.

Das passt zum Thema Wirtschaftswunder.

»Alles wird teurer.« sagt Lotte. »Bald haben wir eine Inflation, darauf wette ich. Stellt euch mal vor, in der Rundschau stand, wir haben hunderttausend Arbeitslose. Wo soll das noch hinführen?«

Frank fährt auf. »Wirtschaftswunder, wenn ich das schon höre! Die Einzigen, die sich wundern, sind wir Kumpels, der Arsch der Welt. Auf unserem Rücken läuft das. Die guten Zeiten sind schon lange vorbei, vor allen Dingen, seitdem alle übers Öl quatschen, das die Kohle ablösen soll.«

Dann sind die Renten dran.

»Die Paläste bauen sich die Bonzen«, schimpft Frank. »Wir berappen und die Knappschaft freut sich, wenn einer frühzeitig abnibbelt. Dann sparen sie Geld.«

Über Vertrauensärzte wird diskutiert und über Betriebsräte, über die Gewerkschaft und die Absatzkrise, über Ludwig Erhard und das Tagesgeschehen. Die üblichen Themen also.

Die Küche duftet nach Sauerkraut und im Topf schweben federleichte Kartoffelknödel nach schlesischem Hausrezept, die man so schön in Soße tunken kann, ein Leckerbissen, der im Mund zergeht; man redet über Thomas, und wie stolz man auf ihn ist – auch wenn er im Moment in der Schule ganz schön faul ist, aber das wird vorbeigehen! - und darüber, dass man sich darauf freut, wenn der Bube später heimkommt, denn jeder hat ihm was Schönes mitgebracht, Comics mit Superhelden, weil alle wissen, dass er sie mag. Die Geschenke für Ottilie kann Lotte ja aufbewahren. Lotte freut sich, denn sie weiß, dass Frank seinem Sohn diese Comics nicht verbieten wird und sie erinnert sich, dass Thomas seine Schultasche heute nicht vorgeführt hat, na egal! Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen.

Nachdem alles abgeräumt ist, und sich wie ein brüchiger Turm in der Spüle stapelt, kommt der Nachtisch dran. Selbst gemachtes Apfelmus, fein zerkocht mit etwas Zimt drin und viel Zucker, noch nicht ganz durchgekühlt und deshalb umso aromatischer, eine leckere Explosion auf dem Gaumen.

Besteck klimpert, während die Frauen abspülen, reden, wobei selbst Oma Käthe leidlich entspannt wirkt, denn alle sind müde vom Essen. Da ist keine Kraft für Streit, Diskussion und Missverständnis.

Gläser werden rumgereicht, ein Magenbitter zum Abschluss, die gute Stube wird aufgeschlossen, wohin sich die Männer verziehen, Frank reicht die Zigarren herum, teure Habanos hecho en cuba, nur für diesen Geburtstag gekauft, was ein ganz schönes Loch in die Haushaltskasse reißt, kippt drei Attaché ein und die Stimmen der Frauen sind weit weg, draußen in der Küche.

Die gute Stube, das Wohnzimmer, wird von einem Schrank beherrscht, ein bücherbestückter Koloss, der sich über die braune Ledergarnitur, Couch und ein Sessel beugt. Frank kurbelt den Tisch mit gekachelter Marmorplatte etwas höher, damit seine langen Beine darunter Platz haben.

Piefke knallt sich in den Sessel, so lässig wie Hotte Buchholz in Die glorreichen Sieben oder wie Elvis in Viva Las Vegas. Er atmet die Zigarre unter der Nase ein und blinzelt zu Frank rüber. »Mmmh. Nicht schlecht, altes Haus.« Frank nickt und reicht ihm die Streichhölzer. Rudi pafft und mustert Otto über die Glut hinweg. »Is‘ was, Bruderherz?«

Ottos Gesicht ist lang wie die Zigarre, die er gedankenverloren anglotzt. Unerwartet hat er Tränen in den Augen. Frank, der immer zwei, drei davon bei sich hat, reicht seinem Schwager ein reines Taschentuch rüber. Otto putzt sich geräuschvoll die Nase, sehr hühnerhaft, den Kopf rauf und runter hackend und die glatten Haare fallen über seine Stirn, seine Brille ist ganz beschlagen. Piefke windet sich im Sessel und beugt sich zum Weinbrand rüber. Blitzschnell zieht Frank die Flasche weg. Piefke blinzelt verdutzt.

»Ich will nicht drüber sprechen«, murmelt Otto ins Taschentuch.

»Otto, kann ich etwas für dich tun?« Frank steht auf, verschließt die Flasche und stellt sie ins Regal. Er legt Otto eine Hand auf die Schulter.

»Sie ist ein Engel.« Otto sieht über die Schulter zu Frank hoch. Seine Augen glitzern feucht, während er, ohne hinzusehen, seine Brillengläser poliert.

»Wer?«, fragt Frank. »Gina?« Dumme Frage, er weiß genau, wen Otto meint. Ist doch immer das gleiche Spiel.

»Ja klar Gina. An ihr is was, ich weiß nicht ... alle sind scharf auf sie. Es scheint, als sei sie geboren, um geliebt zu werden, wenn du verstehst, was ich meine. Ich glaub, sie hat was mit nem Anderen.«

»Gibt’s Beweise?«, fragt Frank. Ja, es ist wie immer.

Otto schiebt die Brille auf seine Nase und schüttelt den Kopf.

»Himmel noch mal, Otto.« Frank stupst seinen Schwager kameradschaftlich an, umkreist den Sessel und lässt sich zurück auf die Couch fallen. Da ist er wieder: Ottos Eifersuchtsanfall. Den kriegt er regelmäßig nach ein paar Schnäpsen. Dann fühlt er sich nicht gut genug für diese schöne junge Frau und kriegt das heulende Elend.

Piefkes Finger trommeln einen Rhythmus auf das Sesselleder. Bye Bye Johnny B. Goode. Seine Augen starren etwas glasig und Frank denkt, dass es Zeit ist für einen starken Kaffee.

Otto antwortet nicht, aber er druckst und seine Finger ringen miteinander.

»Liebe Düse. Gina ist ne dufte Frau, ein echt steiler Zahn, aber sie ist doch keine, die es mit anderen treibt ...« Oder? Piefkes Blick findet Frank und der schüttelt den Kopf.

Die Küchentür geht auf und Otto tut so, als wenn alles klar ist, schaltet blitzschnell um, denn Gina wird stinksauer, wenn er mal wieder mit seinen Verdächtigungen vorankommt. Frank und Piefke nuckeln an der Zigarre, Otto zündet seine umständlich an, pustet in die Luft, seine Augen folgen dem Schmauch, als gebe es dort etwas außerordentlich Wichtiges zu entdecken.

Gina kneift ihre Augen zusammen und mustert ihren Mann, der aufgesprungen ist und mit den Armen rudert. Sie grinst. »Na, sind wir mal wieder beim Thema?«

Es klingelt. Klingelt noch mal. Ratsch, ratsch!

Gina kommt rein und baut sich vor Otto auf. Sie sieht schön aus, in gewisser Weise, Unsinn! ohne Einschränkungen – erotisch! das muss Frank eingestehen. Das Herzchengesicht wirkt nun eckiger, schärfer umrandet, eindimensional wie das Foto in einem herzförmigen Medaillon. Als er sich fragt – es ist nur eine funkengleiche Eingebung -, ob Gina ihm als Mann gefährlich werden könnte, ist er einen Herzschlag lang gewillt, Ottos ewigen Vermutungen Glauben zu schenken. Was fängt Gina allen Ernstes mit diesem Mann an? Die beiden passen zusammen wie eine Mücke zur Fliegenklatsche.

»Machst du wieder alle verrückt mit irgendwelchen ...«

»Aber Darling«, ringt Otto mit Worten. »Beruhige dich doch. Wir wollen doch keinen Streit.«

»Wenn ich im Bett leidenschaftlich sein soll, dann darf ich das auch sein, wenn ich wütend bin«, schnauft sie. »Also halt deine Klappe – und nenn mich nicht Darling!«

Schon wieder rennt der Zorn mit dem Verstand davon, denkt Frank und beschließt, der Sache ein Ende zu machen. Otto steht da wie ein Narr, die Zigarre klemmt zwischen seinen Zähnen, wieder sind die Brillengläser beschlagen. Piefkes attraktives Männergesicht wirkt genauso verknotet wie seine dünnen Beine. Frank meint, ein verhaltenes Lachen hinter den Schauspieler-Grübchen zu beobachten. Na, das würde auch noch fehlen. Andererseits – es käme auf einen Versuch an. Alle auslachen, das wäre was!

Lotte macht sich auf zur Tür.

Tom kommt zur Küche reingerannt, Lotte folgt ihm und alle kümmern sich nur noch um den Jungen, begrüßen ihn überschwänglich, tätscheln sein Haar. Piefke drückt seinem Neffen die Hand wie einem Erwachsenen, die beiden blinzeln sich verschworen zu und Oma Käthe hat – vorübergehend – alles vergessen, was sie zu sagen beliebte und herzt ihren Enkeljungen, als sei dieser das letzte Kind auf der Welt. He, was bist du wieder groß geworden!, kneift sie ihm in die Wange, so dass Toms Brille verrutscht.

Frank atmet durch und blinzelt Lotte zu. Sie beide wissen, dass Thomas die Situation vorerst gerettet hat. Gut gemacht, du Held wider Willen und viel Spaß mit den Bilderheftchen, die sie dir schenken werden.