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Cemir Cülcze hat Aysel, seiner Frau, einen Brief nach Hemite geschrieben. Der Umschlag ist großformatig, damit er darin die viertausend Mark verstauen kann, in Schreibmaschinenpapier gewickelt, Geld, das er in den letzten Jahren nebenher gespart hat. Damit wird Aysel sich ein schönes Haus kaufen können. Das ist das Mindeste, was Cemir für sie tun kann. Immerhin wird sie lange, lange Zeit alleine sein, vielleicht den Rest ihres Lebens.

Cemir mag keinen Fußball und genießt die Ruhe, denn das Bullenkloster, die Sammelunterkunft für ledige Bergleute am Stadtrand von Bergborn, ist, bis auf ein paar Ausnahmen, wie leer gefegt. Sie alle sitzen zum Fußball-Endspiel in Kneipen oder haben sich zum gemeinsamen Besäufnis bei Freunden zusammengefunden.

Irgendeine Arbeitsgemeinschaft für Bergmannsbetreuung hatte dieses Bullenkloster gegründet, soviel weiß Cemir. Da gab es wohl auch noch ein kulturelles Anliegen – na ja! Seine Freude am Lernen, die er schon als Student in Ankara hatte, war erneut erwacht. Deshalb besucht Cemir einen Deutschkurs, interessiert er sich für diese Dinge. Irgendwann wird auch dies alles ein Teil der Zeitgeschichte sein.

Die Bullenkloster, Wohnheime und Lager für junge Bergleute, waren nach dem Krieg im Schatten der Fördertürme aus dem Boden gestampft worden. Erbärmliche Lebensumstände. Die Stimmung hier ist denkbar schlecht. Saufgelage und Schlägereien sind an der Tagesordnung. Manchmal kommt Cemir sich vor, wie es 1940 in Deutschland gewesen sein muss. Dafür sorgen vor allen Dingen deutsche Junggesellen. Es gibt täglich böswillige Äußerungen und Diskriminierungen, denen sich viele seiner Landesgenossen durch Einverleibung zu entziehen versuchen, was bedeutet, dass Hasan und seine Freunde fortwährend besoffen sind und sich mit Mädchen herumtreiben. Hierhin, in des Teufels Wohnzimmer, hat es Cemir verschlagen, nachdem seine ehemalige Wohnstätte, nur zweihundert Meter Luftlinie entfernt, wegen eklatanter Baumängel abgerissen worden war.

Die gegenwärtig herrschende Stille in diesem entseelten Asyl lässt seinen letzten Brief an Aysel besonders vollendet werden. Nahezu so wie der Schriftsteller Nazim Hikmet wählt Cemir seine Worte sehr sorgsam, gezügelt, fast spartanisch.

Was er seiner Frau erklären will, bedarf präziser Worte. Es dürfen keine Missverständnisse bestehen bleiben. Aysel würde es ihm sonst nie vergeben! Und sie wird ihm viel zu vergeben haben, sehr viel.

Während er schreibt, erinnert er sich an die Welt seiner Kindheit, die von unbeschreiblichem Reichtum war. Die Natur, ihre Farben, ihre Gerüche machten den kleinen Cemir manchmal fast verrückt, brachten ihn in eine Art Ekstase. Dann sang er aus vollem Hals. Er verführte die Kinder des Dorfes zu tausend Abenteuern: Melonen in Nachbardörfern klauen, Vögel jagen, in den Bergen Beeren und Pilze pflücken, den Leuten einen Bären aufbinden und die unglaublichsten Streiche spielen. Die Kinder folgten ihm überallhin, wie gebannt, gehorchten ihm bei jeder Gelegenheit. Ja, schon damals verfügte er über eine naturgegebene Autorität.

Meistens unterschied man nicht zwischen Kindern und der Welt der Erwachsenen. Die Kinder arbeiteten mit den Erwachsenen auf den Feldern, auch konnten sie bis zum frühen Morgen aufbleiben, um den großen Erzählern zuzuhören. Keinem wäre es in den Sinn gekommen zu sagen: »Das sind Kinder, sie können diese Geschichten nicht verstehen.« Die Gesänge, die Erzählungen, die Legenden waren für alle dieselben. Im Königreich von Cemirs Kindheit gab es keine geschlossenen Türen.

Er erinnert sich an Großmutter Jamila, ohne die sein Leben anders verlaufen wäre, an den alten Muchmat, der Jamilas Kladde gefunden hatte, an Onkel Murat, der eine Zeit lang für Cemirs Unterkunft gesorgt hatte und selbstverständlich an seinen Vater Kemal Cülcze, seine drei Schwestern und an Mama Aiche.

Cemir blickt tränenverhangen den Schwaden der Nargile hinterher, schmeckt den Tabak auf der Zunge und die Vereinsamung im Herzen.

Da gibt es dieses schöne Gedicht aus seiner Heimat, einige wenige Zeilen über das Leben.

 

Leben wie ein Baum

einzeln und frei

und brüderlich

wie ein Wald

das ist

unsere Sehnsucht

 

Cemir lauscht in sich hinein, horcht dem Strom nach, der sich sehnsuchtsvoll durch sein Bett schlängelt, nomadisch wie Gewässer sind, mannigfarbige Fragmente im Sonnenschein irisierender Erinnerungen.

Er seufzt seine Sentimentalität davon. Rührseligkeit führt zu nichts. Sein Herz schlägt schneller, sein Oberarm schmerzt bestialisch, wie immer, wenn Cemir innerlich bewegt ist und in seinem Schädel hämmert es wie jedes Mal, wenn die Demütigungen, die der Steiger an ihm vollzieht oder die Erinnerungen daran seine Seele zu verbrennen drohen. Das müssen die Empfindungen einer Eselin sein, die von einem schwärigen Burschen geschändet wird oder die einer Frau, deren Mann ein Schläger ist. Sie alle haben keine Hilfe, sind abgetrennt und isoliert.

Hin und wieder ertappt Cemir sich beim Hadern. Warum ausgerechnet ich? Was habe ich diesem deutschen Mann angetan? Reicht es aus, ein Fremdländer zu sein?

Und er erinnert sich der Worte aus dem Koran: »Zwei Menschen in einem Dorf starben. Einer verehrte Allah, der andere nicht. Der Imam des Dorfes sah den Frommen in der Hölle und den Ungerechten mit Wein und Jungfrauen im Paradies. Als sich der Fromme über die offensichtliche Ungerechtigkeit beklagte, erwiderte Allah: »Sei still, habe ich nicht das Recht, mit meinem Eigentum so umzugehen, wie es mir passt?«

Vor allen Dingen die Kopfschmerzen sind es, die Cemir seit Monaten den Schlaf rauben, den Appetit, die Freude am Leben. Der Betriebsarzt hat Cemir mit Aspirin zu helfen versucht, aber die Schmerzen gehen tiefer, viel tiefer, als ein läppisches Medikament wirkt. Einmal, es ist noch keine drei Wochen her, war ihm schwarz vor den Augen geworden, unter seinen Füßen bäumte sich der Boden auf, sein Körper war innerhalb von Sekunden in Schweiß gebadet und seine Muskeln entbehrten jegliche Kraft. Träume jagen Cemir Nacht für Nacht durch alle Vorhöfe der Düsternis und haben ihm schließlich den Weg gewiesen, den er nun gehen wird.

Bedächtig öffnet er die Lederschatulle und hebt den Dolch in seine Handfläche. Die Klinge funkelt makellos, die Schneide ist leicht gekrümmt. Dies ist kein billiges Schnappmesser oder Ähnliches, sondern eine rituelle Waffe, mit einem Elfenbeingriff, perfekt ausgewogen, die haarscharfe Verlängerung seines Handgelenkes.

Die letzten Monate waren die Hölle gewesen. Seinen Schmerzen im Arm, im Schädel, zu denen sich Muskelschmerzen gesellt hatten - der Betriebsarzt, oder besser dessen Dolmetscher, meinte, es könne sich um Rheuma handeln oder sonst etwas mit den Nerven - sowie einem heftigen Husten in den Bronchien zum Trotz, hatte Cemir mit einem Trupp Deutscher und Portugiesen vor Kohle gelegen, hatte dem Berg das schwarze Gold und monatlich fast neunhundert Mark abgetrotzt, unermüdlich, damit Aysel und seine Mutter jeden Monat ausreichend davon bekommen konnten.

Nun wird dies ein Ende haben.

Die Nargile wird kalt und Cemir packt den Tabak zu seinen Utensilien. Er wäscht sich das Gesicht, reinigt seine Hände, streicht seine Kleidung glatt. Der Dolch steckt im Innenfutter seiner Cordjacke.

Heute hat er Nachtschicht.

In wenigen Stunden wird er einfahren. Bis dahin wird er spazieren gehen, drüben im Park bei der alten Salinenanlage wird er seine Sinnesempfindungen reinigen, auf einer Bank sitzen, wird er Gebete sprechen, Allah um Verständnis bitten und dieses Verständnis erhalten.

Später, im Flöz, wird er den Steiger, wird er Schotterbein töten!

Es wird den Schinder ereilen wie ein Blitzstrahl. Cemir beschließt, den Mann nicht leiden zu lassen. Deshalb wählt er den rituellen Dolch, nicht die Dinge der Arbeitswelt, wie Hacke, die Schaufel oder Strom.

Hier geht es frei von Hass um seine Ehre, die er reinwaschen muss und um die Befreiung des Getiers, welches an seiner Seele frisst wie ein begehrliches Monster, wie der Adler, der sich täglich an der Leber des Prometheus labte.

Was danach geschieht, weiß alleine Allah!

Cemir verlässt das Haus. Ebenso gut könnte die Welt ausgestorben sein. Keine Menschseele ist hier draußen. Ganz Deutschland wartet darauf, Weltmeister zu werden.

Er beugt den Kopf gegen die Stille und schreitet weit hinein in die Einöde seiner Traurigkeit.