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In der Nähe bellt ein Hund, jault hysterisch, verstummt, als würge ihm etwas die Kehle zu, beginnt erneut zu kläffen. Das ist ein Hund, der abgerichtet wurde, über ein Grundstück zu wachen, einer, der sein Opfer stellen will.
Aus der Garageneinfahrt stolpert ein Junge, wie ein gejagter Hase oder wie ein Halbwüchsiger, der etwas ausgefressen hat und dem man auf den Fersen ist. Seine Haare sind schweißverklebt, die Augen hinter den Brillengläsern sichern flink, spähen gehetzt.
Es ist der elfjährige Thomas Wille, den sein Klassenlehrer Tom nennt. Tom - das klingt achtbar, gewichtig, in dieser Zeit modern, sehr amerikanisch, hat was von Chuck oder Bill oder sogar Elvis irgendwie. Tom will Schriftsteller werden. Seine Klassenkameraden Uwe, Micha und Georg sehen das anders, raue Jungens, die nach der Schule auf Tom warten, um ihm seine dichterischen Ambitionen auszutreiben.
Wenn es um so was wie Raufereien geht, halten sie Thomas Wille für einen Dummkopf, weil der häufig nicht mal wegläuft, wenn sie ihn erwischen, obwohl er mit seinen langen Beinen bestimmt ganz schön flink abhauen könnte und sich, wenn sie dann ihren Spaß mit ihm haben, kaum wehrt. Man kann ihm den Kopf in den Sandkasten stecken, die Brille verbiegen, dieser Bohnenstange ein paar blaue Flecken verpassen.
Wie immer wird seine Mama die Brille, ein Kassengestell, mit Leukoplast flicken müssen. Nichts Besonderes, Tom kennt das schon, hat so seine Erfahrung mit kaputten Brillen, Tränen und Sand zwischen den Zähnen.
Tom, das Haar straßenköterblond, Fassonschnitt mit ausrasiertem Nacken, die Schulterblätter, von denen Papa sagt, man könne Hüte dran aufhängen, nach vorne geschoben, als stemme er sich gegen die zu erwartende Schelte an, beschleunigt seine Schritte, beeilt sich, denn er weiß, dass er nicht pünktlich sein wird. Und das mag Mama überhaupt nicht.
Seine Ärmchen lugen streichholzdünn aus Kurzärmeln, die so breit wie Fledermausflügel sind, die zerschrammten Beine stecken in Hosen, deren Säume weit über den Knöcheln flattern. Die Hosen des Jungen haben Hochwasseralarm, dennoch ist das besser als kurze Lederhosen, die alle Jungs hier tragen, aus Kostengründen, denn Leder reißt nicht, wenn man beim Fußballspielen stürzt. Seitdem sein Spielkamerad Erwin Krug die Lachnummer des Bolzplatzes ist, weil der nie auf die Toilette geht, wenn er muss, und ihm mit schöner Regelmäßigkeit Kackwürste aus den Lederbeinen plumpsen - eine eklige Angelegenheit, über die die Jungs sich vor Lachen ausschütten und die Mädchen angewidert abwenden - hat Tom eine konditionierte Abscheu gegen diese Bayernhosen entwickelt. Eine Abscheu, die nur noch mit seinem Widerwillen vor Schweinehirn in Zwiebeln gebraten konkurrieren kann, ein Essen, das Mama regelmäßig kocht, typisch schlesisch und das genauso regelmäßig von Tom verweigert wird.
Er ist zufrieden. Er hat es den Blödmännern mal wieder gezeigt. Er hat sie überlistet. Sollen sie sich doch die Beine in den Hintern warten. Er kennt das Problem ganz genau. Wenn sie ihm auflauern, er ihnen sozusagen in die Arme läuft, wehrt sich irgendwas in ihm, abzuhauen. Er fühlt sich dann feige. Jemand, der einer Auseinandersetzung aus dem Weg geht, so einer will er nicht sein. Dann nimmt er Geringschätzung in Kauf, ohne sich zu wehren, weil seine Hemmschwelle, jemanden zu schlagen, einem anderen Menschen Gewalt anzutun, größer ist, als die Angst vor den Konsequenzen.
Tom lässt es – so weit er es verhindern kann - gar nicht zu einer persönlichen Konfrontation kommen, und nimmt Umwege. Heute hat er sich aus dem Schulgebäude geschlichen, durch die Sporthalle, hat sich hinter Büschen durch den Park geschlagen, hin zur Siedlung, nicht weit weg vom Förderturm, Papas Arbeitsstätte, an Vadder Ronsmanns Taubenschlag vorbei, aufgepasst vor dem Schäferhund, der weiter weg immer noch bellt und lefzt und ihn um Haaresbreite erwischt hat, trotz der langen Kette, mit der er an einen Baum gebunden ist; weiter und verborgen hinter an Leinen aufgehängten Bettlaken, an den Wellblechgaragen vorbei, ein Schatten, niemand, den man einfach so einfängt. Ein Meister der Flucht. Heute wird Tom unbeschadet nach Hause kommen, aber viel zu spät – au weia!
Er stakst mit Flamingoschritten weiter, erwacht, zurückgekehrt von seinem Gedankenausflug, zurück nach Bergborn.
Bergborn mit seinen sechstausend Einwohnern hat eine eigene Zeche, mehr Tauben als Einwohner und einen für eine Bergarbeiterstadt untypischen Namen, der daher rührte, dass man noch vor sechzig Jahren in der Nähe einer Salzsaline kuren konnte. Einige Gebäude, deren Stuckfassaden unter Taubenkot bröckeln und ein Kurpark legen Zeugnis davon ab.
Graue Häuser in dieser farblosen Straße, Fassaden, deren Stein brüchig ist, Fenster mit Holzrahmen, auf denen Fliegen im Ruß ersticken, Schornsteine, die sich im Alter zu beugen scheinen, invalide und verbraucht. In einem Fenster, das vielleicht noch schmutziger ist als die anderen, lehnt eine Frau mit den Unterarmen auf ein Kissen gestützt, wobei ihre Augen jeder Bewegung folgen, wie ein Vogel, der nach Beute späht.
Es riecht nach Kohl, den man in großen Töpfen zusammen mit fettem Schweinefleisch siedet, den Dunst von in Essig eingemachten Gewürzgurken, Kartoffelschalen, die als Kaninchenfutter gekocht werden und Zigarettendämpfe, kalt und schwarz, dazu, wie ein Leitthema, der Treberdunst einer nahe gelegenen Brauerei.
Eine Straße weiter langt Tom vor einem Haus an. Es hat vier Stockwerke. Dieser Kasten ist doppelt so hoch wie die anderen Häuser, hat einen Aschehof, gesäumt von dunkelfeuchten Zuchtlagern für flauschige Langlöffel, daneben Wellblechgaragen, in denen Autos rosten, dahinter ein Plumpsklo mit Senkgrube, das zwar trocken gelegt ist, jedoch trotz Kalk und Chemie vor sich hin stinkt, besonders im Sommer. Weiter hinten raus gibt es Anbauflächen für Kohl, Kartoffeln, Mohrrüben und Rhabarber, Gartenfläche, die alle nur den Acker nennen. Zwischen Kloschuppen scharren ein paar schlecht befiederte Hennen im Dreck, auf Futtersuche, und nur selten hört man sie gackern. Dieser alte Kasten passt irgendwie nicht zu einer adretten Kleingartenanlage Marke Lebensfreude Bergborn nebenan.
Hier wohnt Tom mit Papa und Mama und seiner drei Jahre älteren Schwester Ottilie.
Tom steigt das Treppenhaus hoch, auf den Holzstufen, die unter jedem Schritt stöhnen und ächzen, die der Junge jeden Tag immer wieder rauf und runter knarrt, zu den Toiletten, von denen es zwei im Erdgeschoss gibt, eine für Männer und eine für Frauen. Nachts braucht die Familie Wille das nicht, weil sie Pinkelpötte haben, welche, die man mit einem Drehdeckel verschließen kann.
Wer ist hier für diesen Kohlgestank zuständig? Ist es Frau Rampf, der Tom im Hausflur begegnet – Guten Tag Frau Rampf! - eine Frau mit trümmergestähltem Gesicht und Kittelschürze, oder ist es ihr Mann, der einen saftigen Tabakstumpen zwischen den Lippen knetet, mit Cordhose an, gehalten von Hosenträgern. Sie verschwinden in ihrer Wohnung.
Dann ist da noch dieser verschleierte Schimmelgeruch, der vom Kohlenkeller aufsteigt. Da werden die Heizvorräte aufbewahrt, die Deputatkohle, die Papa umsonst kriegt, weil er auf der Zeche arbeitet. Dort unten hackt Tom regelmäßig Holz auf einem Stempel, den Papa aus dem Streb mitgebracht hat. Tom macht das einmal in der Woche, seine Finger sind alle noch dran. Wer weiß, vielleicht hat der alte Knopp, der eins unter den Willes wohnt und wirklich so heißt und wirklich ein ganz flaches Gesicht hat mit einer wirklich knolligen roten Knoppnase darin, das entsprechende Beil geklaut und hackt damit in seiner Küche grad einem Kaninchen den Kopf ab. Jedenfalls war das Beil vor ein paar Wochen verschwunden gewesen. Als Papa ein Neues hatte kaufen wollen, war es wieder aufgetaucht, steckte im Knust, die Schneide blutverschmiert. Seitdem hat der Kohlenkeller der Willes ein Vorhängeschloss.
Tom hat drei Stockwerke bewältigt. Vor ihm führen drei Stufen zur Dachwohnung hoch. Dort, auf halber Höhe der Wohnungen links und rechts, ist die Tür, die man einen Verschlag nennen könnte. Die Klingel hat einen Drehknopf, den Tom betätigt und es macht ratscheratsch!, und jemand kommt von drinnen eine Treppe runtergerannt, eilfertig, ungeduldig und reißt die Tür auf.
»Wo bleibst du denn? Jetzt aber rauf, sonst setzt’s was!« Die Stimme streng, aber nicht laut. Ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen, grüne Augen, die blitzen, ob vor Leidenschaft oder Zorn lässt sich nicht ausmachen, vielleicht ist es zornige Leidenschaft. Die Hände wringen ein Spültuch, wischen Hackfleischreste von den Fingerspitzen, es gibt Frikadellen.
Das ist Mama.
Sie wartet auf Tom, denn in einer halben Stunde, noch schnell bevor Papa nach Hause kommt, startet der Bräunungswettbewerb.