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Kommt heraus aus euren Trümmern,
Kriecht hervor aus eurer Not.
Vorwärts und nicht vergessen,
Worin unsre Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen,
Vorwärts, nie vergessen: Die Solidarität!
Der Schmerz im Rücken, das Pochen im Steißbein und die Wirbelsäule hoch bis in den Nacken, die zerrenden Muskeln im Oberschenkel, alles das treibt Frank Tränen in die Augen, seine Rückenmuskeln sind gespannt wie Stahlfedern, seine Lippen öffnen und schließen sich. Er singt, singt, singt! Der Gaul unter ihm schmort dunstend und grunzt erschöpft, unterdessen herabhängende Äste und schleimige Blätter Franks Gesicht streifen und zerkratzen.
Erschöpfung, Ermattung, Müdigkeit ... und singen!
Vor Madrid auf Barrikaden,
In der Stunde der Gefahr,
Mit der Interkampfbrigade,
Sein Herz voll Hass geladen,
Stand Hans der Kommissar.
Noch ein Lied und noch einen dieser unsäglichen Verse einstimmen, Worte, die durch den kambodschanischen Dschungel widerhallen und so deplatziert sind wie ein Furz in einer Kirche.
Sie singen es mehrmals täglich, die Soldaten des 3e régiment étranger d'infanterie, kurz 3. REI genannt, das Lied von Hans Beimler, denn es macht ihnen Mut, fördert das Solidaritätsgefühl, macht die Hitze, die Feuchtigkeit und nicht zuletzt die Angst erträglich.
Seine Heimat muss er lassen,
Weil er Freiheitskämpfer war.
In Spaniens blut'gen Straßen,
Für das Recht der armen Klassen,
Stand Hans der Kommissar.
Für das Recht der armen Klassen ... So hat Frank seinen Einsatz für La légion étrangère, die Französische Fremdenlegion, nie betrachtet. Ein Freiheitskämpfer zu sein, oder ein Held.
Humbug!
Entwurzelung, die Lust aufs Abenteuer und ein Krieg, für den er noch viel zu jung war, hatten ihn die Verpflichtung unterschreiben lassen. 5 Jahre Ausland, Kriegsgebiet. Hoch dotiert. Es begann in Kambodscha und sollte in Tunesien enden.
Eine Kugel kam geflogen
Aus der Heimat für ihn her.
Der Schuss war gut erwogen,
Der Lauf war gut gezogen –
Ein deutsches Schießgewehr.
Frank hatte diese Lieder nie gerne gesungen, weder das von den Dragonern noch das ‚Eukalyptusbonbon’. Dennoch tröstet die eigene Stimme über Durst und Hunger hinweg, über das, was er in den letzten Monaten erduldet hat, was ihn nie mehr in seinem Leben loslassen wird.
Kann dir mein Wort drauf geben:
„Vencerá la libertad!“
Dem Feind wird nicht vergeben,
Du bleibst in unserm Leben, Hans Beimler, Kamerad!
Sind sie Kameraden? Sind sie Leidensgefährten?
Überspannte Sonderlinge sind sie, notorische Einzelgänger, andersgeartete Individualisten, in morbide Hirngespinste verstiegene Nonkonformisten, viele vom Zerfall signiert, gezeichnet und verändert von zu viel Alkohol, Drogen, Krieg, Verlust und Trauer. Scheiß auf Kamerad! Jeder will nach Hause, nur die meisten haben keines. Niemand ist ein Held, jedermann auf der Flucht.
Da vorne wird der Weg schmaler und unübersichtlicher. Überall hier können sie stecken, diese kleinwüchsigen braunen Gegner, die mit Hass und Todesmut jedem Teufel trotzen.
Colonel Legrange reitet dem Trupp voraus, ein mutiger Mann, die Schultern gegen den Horror nach vorne gestemmt. Wenn er sich umdreht und seiner Gruppe zunickt, zuckt das hagere Gesicht, von der Sonne verbrannt, unrasiert, die Augen irrlichternd von Blut und Tod.
Frank mag diesen Mann, denn Legrange macht kein Hehl aus seinem Zorn über den Fehler, den Frankreich beging, als es den Vietnamesen die Unabhängigkeit untersagte. Himmel noch mal, es ging um irgendeine beschissene französische Kolonie. Nichts Bedeutendes. Soeben hatten sich die kommunistischen Viet-Minh, eisenharte Partisanenkämpfer, erfolgreich gegen ihre aktuellen Besatzer, die Japaner gewehrt. Kein Wunder, dass der politische Führer Ho Chi Minh und dessen General Vo Nguyen Giap selbstbewusst erstarkt unabhängig werden wollten. Sie hatten es sich verdammt noch mal verdient.
Die beiden Vietnamesen hatten die Rechnung ohne die Franzosen gemacht. Diese rüsteten zum Kampf. Warum auch nicht? Für ein paar Palmen, Schlangen, Ungeziefer und einigen Opiumplantagen lohnte sich ein Krieg, nicht wahr? Wenn Legrange darüber sprach, lachte er wie ein Kakadu und sagte mit sarkastisch französischem Akzent: »Merde – Froschfresser sind genauso plemplem wie ihr Nazis.«
Da der Krieg gegen die Viet-Minh in der eigenen Heimat, in Frankreich, als schmutzig galt, war es gut, dass inzwischen mehr als 40.000 deutsche Soldaten bei der Legion dienten. Sollten die es doch richten. So würden nur wenige französische Mütter trauern müssen.
Im Februar 1946 landete als erste Legionseinheit das 2. REI in Saigon. Wenig später kam Frank mit der 3. REI an, von denen letztendlich kaum jemand überleben sollte. Die ersten Monate waren ruhig, doch im November 1946 wurden 29 franzöšsische Soldaten durch Viet-Minh-Truppen massakriert. Im Dezember töteten die vietnamesischen Partisanen 600 unschuldige französische Zivilisten und brachten damit das Fass zum Überlaufen.
Der Krieg begann.
Und singen! Und singen!
Immer schmaler wird der Weg.
Über ihnen spannt sich ein Dach aus Grün, undurchdringlich, beengend. Es verändert seine Konsistenz. Wird schwarz glänzend, hart wie – wie Kohle, wie der Berg!
Wir reiten im Dschungel, denkt Frank. Himmel Herrgott! Wir sind nie geritten im Dschungel. Wir sind geschlichen, gekrochen, gerobbt - aber nie geritten!
In Algerien, da haben wir uns im Sattel gequält, bis die Innenschenkel blutige Fetzen Fleisch waren, in Tunesien sind wir geritten, bevor wir wie Tote vom Sattel rutschten und uns in die Unterstände schleppten, halb verdurstet. Aber niemals im Dschungel ...
Es ist ein Traum!
Der immer wiederkehrende Traum!
Und kalt wie Stahl surrt das Verderben aus der grünen Wand. Messer schwirren, tanzen sirrend durch die Schwüle. Sie kommen so tödlich und behände wie der Biss einer Viper.
Der Kamerad vor Frank reißt seine Hände zum Hals, dreht seinen Kopf ganz langsam nach hinten, grinst wie ein Gespenst, aus seinem Mund strömt Blut. Er zieht mit Bedacht das Messer, eine erstklassige vietnamesische Handarbeit, aus seiner Kehle, betrachtet es versonnen, kichert über sein rotpulsiges Ebenbild, das sich in der Klinge spiegelt, die Kuppe seines Zeigefingers gleitet zärtlich über die Schneide, dann fällt der Mann tot vom Pferd.
Ein Vorschlaghammer bullfert, pobbert, scheppert, Palmen biegen sich knisternd, beugen sich immer tiefer über Frank und die Männer, die vor ihm reiten; ein Tiger lugt aus dem Schilf, borstig, nein!, flauschig wie ein Teppich, mit glühenden Augen, bereit zum Angriff!, und schweigend und sterbend sinkt einer nach dem anderen, Mann für Mann, vom Pferd, Klingen und Schneiden blitzen schwarz wie Kohle, wie Kohle, tropfen blutig, dick wie Sirup, jeder Pferderücken entblößt, irgendwie obszön, zehn, zwanzig Pferderücken, eine braunschwarze Straße Pferderücken, dann sind nur noch Colonel Legrange und Frank übrig, einer ganz vorne, einer ganz hinten, dazwischen das besattelte Niemandsland des Todes.
Legrange hält den Tross an, dreht sich um, stützt sich auf den Sattel wie ein kleinwüchsiger John Wayne, fixiert Frank, der die Nachhut bildet und seine Lippen spalten sich zu einem Lächeln der Wut. Aus seinen Augen spritzen Funken des Irrsinns. Endlich wehen seine Worte zu Frank herüber, gewisperte Fetzen: »Wer zuerst, Sie oder ich, Allemand?«
Eine Machete schweift, von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, aus dem Geblätte und Legranges Kopf, glatt an der Schulter abgetrennt, kippt von den Schultern und aus dem Hals pulst klebriger Ruß und der Bohrhammer pocht, dröhnt, malträtiert den Berg und das Schmidtsche Gerät saugt den Staub ab und die Stempel knirschen unter dem Druck des Hangenden; der Blätterhimmel senkt sich kohlenglitzernd bröselnd, senkt sich und die Stempel kreiseln um sich selbst wie Derwische, wie hölzerne Schrauben, die sich in das Kohlenbett winden, währenddessen das Hangende tiefer, tiefer, tiefer sinkt, erdrückend, heiß wie Dschungelfeuchte - und die Schlagwetterexplosion naht, die man wittert, wenn man nur lange genug unter Tage ist, die Explosion, die alles verrauchen wird und Legranges Kopf kugelt wie ein Fußball durch den Flöz, landet vor Franks Füßen, wie ein Fußball, ein Fußball, ein Fußball und öffnet den Mund und fragt: »Wer zuerst, Sie oder ich, Allemand?«
Es ist der Traum.
Nur dieser immergleiche beschissene Traum!
Stöhnend erwacht Frank.
Gewalt!
Einschlafen nach Willkür, träumen von Gewalt, erwachen mit dem Frösteln des Erlebten.
Gewalt!
Es dauert ein oder zwei Minuten, bis er sich zurechtfindet.
Sein Blick fällt auf die Uhr. Kurz nach Eins am Mittag.
Er ist in Schweiß gebadet.
Lottchen hat das Fenster vom Schlafzimmer geschlossen gehalten, damit keine Geräusche seinen Schlaf stören, deshalb ist es heiß hier drinnen wie in einem Glutofen.
Wieder diese verzerrte Erinnerung, die ihn seit Monaten bedrängt wie ein ekeliges Tier, dem man nicht entkommt. Gibt es keinen anderen Weg als Gewalt, um die Menschen zur Wahrheit zu führen? Colonel Legrange hatte einmal gesagt, eine mögliche Variante sei die Vernunft.
Colonel Legrange ... Immer diese alte Geschichte.
Frank streckt sich, schließt die Augen und atmet regelmäßig. So wird er zumindest die Hülle dieser verzerrten Erinnerung los.
Das ist der Stress, denkt er, die Überlastung, der er ausgesetzt ist, der Zorn, der ihn nicht mehr loslässt, den er auf sich selber hat, weil er sich einerseits für einen Mann mit hohen moralischen Auffassungen, andererseits für einen Versager hält.
Nachdem er Schotterbein mit tugendhafter Unnachgiebigkeit eine abschlägige Antwort gegeben hatte - er wollte weder ein Verräter, noch diesem Mann etwas schuldig sein - hielt der Steiger erbarmungslos dagegen. Er sonderte Frank aus wie ein schmutziges Handtuch, das man auf den Müll wirft. Seitdem schleppt Frank Bahnschwellen, legt Gleise, handlangt unter unentwegter Lebensgefahr beim Schießmeister und liegt in bauchnabelhohen Flözen auf dem Rücken in schwarzem Wasser, während der Berg ihn schier erdrücken will.
Schon bald wurde der Traum sein Gefährte. Besucht ihn unregelmäßig. Legrange und Wille reitend im Dschungel!
Die Arbeit ist Qual, Plackerei, die nie zu enden scheint und die Klimax der Erniedrigung darstellt, da es für Frank keine Alternative, keine Hoffnung auf Veränderung gibt. Nach wie vor ist Schotterbein Steiger, hat sich entgegen seines Versprechens auf keine höhere Hierarchiestufe zurückgezogen, wo er seine Wunden lecken und endlich genügsam werden könnte, wie ein Raubtier, das in seinem Leben hinreichend Wild geschlagen hat.
Vielleicht widerspricht die Moral der Natur des Menschen, hatte Frank erwogen, denn warum sollte sie sonst so große Schmerzen verursachen?
Kann es sein, fragt sich Frank ein ums andere Mal, dass Moral nichts anderes ist als die Regulierung des eigenen Egoismus – oder der eigenen Feigheit?
Letztmöglich ist Moral aber auch einfach nur die Haltung, die man Menschen gegenüber annimmt, von denen man persönlich nicht erbaut ist. Dann wäre Verantwortungsbewusstsein, Sitte, Ethik, kurz: ein anständiges Verhalten! - so hat Frank häufig mit Lottchen diskutiert – nicht mehr als ein Wert für Dummköpfe, ein Haufen Scheiße!
Einig sind sich Frank und Lotte Will über Folgendes: Ungeachtet ihrer Zweifel wollen sie es aus eigener Kraft schaffen! Der Preis ist hoch, da gibt es keine Diskussion. Noch mehr Doppelschichten, viel zu viel Nachtarbeit.
Lottchen hat jetzt zwei Arbeitsstellen. Tagsüber presst sie Leberwurst und schleppt Eimer mit Fleischresten, später reinigt sie die Büros der Stadtverwaltung.
Sogar Deputatkohle hat Frank verkauft. Das wird zwar von der Zechengesellschaft nicht gebilligt, bringt jedoch fünfzig Mark pro Tonne und das ist doch auch was.
So bleibt am Monatsende einiges Geld übrig, das auf der Sparkasse landet. Ein Grundstock für eine gute Zukunft. Mehr als dreiundzwanzigtausend Mark haben sie in den vergangenen zehn Jahren angespart.
Noch zwei oder drei Jahre und es ist genug Bares da, um die Anzahlung für ein kleines Haus zu leisten.
Hin und wieder ist die Versuchung, die Lust, das Geld einfach für schöne Dinge auszugeben, schier übermächtig, aber sie haben haushalten gelernt. Wenn nicht sie, wer dann? Sie räumen noch immer die Trümmer weg, damit darunter eine fein geharkte Fläche ohne Unkraut entsteht, ein Boden, den man einsät, auf dem Schönes und Gutes wachsen soll.
Seit fast zwei Jahren, seit Schotterbeins Angebot und Franks Ablehnung, hat Frank kein Buch mehr gelesen, weil ihm die Augen in jeder freien Minute zufallen und permanenter Kopfschmerz die Absorption von Wissen und Gedankenarbeit unmöglich macht. Das fehlt ihm so sehr. Dann steckt er seine Nase in den Bund eines aufgeschlagenen Buches und atmet den Duft des Papiers, der Druckfarbe, der Worte und trauert um seine gebundenen Freunde.
Derzeit ist er – und da macht Frank sich nichts vor – ein schlechter Vater, der seine Kinder nur noch selten sieht, stattdessen mit seiner Schwiegermutter streitet, während diese sich mit Lotte streitet und Thomas irgendwo dazwischen steht, dem Streit beiwohnt und in der Schule immer schlechter wird.
Frank quält sich aus dem Bett, schleppt sich in die Küche.
Heute, von Dienstag bis zum Wochenende, hat er sich ein paar Urlaubstage genommen.
Gott sei Dank! Vier, fünf Tage kein Pütt, keine Schikane.
Jetzt eine Tasse Kaffee, der den Kopf reinigt, und danach ein Stündchen Arbeit im Garten, in der Sonne, frische reine Sommerluft atmen.