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Es ist gegen Mittag und die Hitze wabert über dem Kurfürstendamm.
Lotte Wille hat sie sich ein paar Tage freigenommen, lässt Arbeit Arbeit sein und besucht ihre Tochter Ottilie, die seit einem Jahr bei Regina und Otto wohnt.
Lotte ist ganz durcheinander, so sehr werden ihre Augen von den unzähligen Schildern abgelenkt, auf denen Berlin die Filmfestspiele feiert. Sie liest Namen wie Sidney Lumet oder Roman Polanski. Namen, die ihr nichts sagen. Sie ist noch immer geschafft von der Zugfahrt durch die DDR. Zuerst die Passkontrolleure, die sie angestarrt haben, dass ihr fast das Herz stehen blieb. Eine unendliche Weile Auge in Auge, dann wieder der Blick auf das Ausweisfoto und zurückgeschnellt in Lottes Gesicht. Dann die Zugfahrt, durch graue Schächte, gelb geflieste Wände, Soldaten mit Waffen an jedem Bahnsteig. Eine Sünde ist das mit der Mauer! Und das Schlimmste ist, dass dieses Gefängnis für alle Zeiten bestehen bleiben wird.
Wie immer, wenn Lotte in Berlin ist, fühlt sie sich von der Weitläufigkeit der Straßen überfordert - schreckt sie vor den schrill bimmelnden Straßenbahnen zusammen, deren Fühler oben an der Stromleitung elektrisch knispelnde Funken sprühen, direkt vor dem Hauptbahnhof schlängeln sie sich in beide Richtungen durch den Kopfstein – schaudert es sie vor den braungrau endlosen Häuserzeilen - staunt sie über die Vielzahl an Autos - schüttelt sie den Kopf über Männer mit Bierflaschen, von denen ihr einer hinterherruft ‚Du bist aber een steilen Zahn, watt?‘ Angetrunkene, die am Kiosk stehen, kleinen Holzbaracken, wo man Getränke, Zeitungen und Zigaretten kaufen kann.
Alles ist so groß, so unüberschaubar. Die Ruine der Gedächtniskirche starrt in den Himmel. Menschen hasten und scheinen keine Zeit zu haben.
Ja, immer wenn sie in Berlin ihre Tochter Ottilie besucht, hat sie Heimweh nach Bergborn, sehnt sie sich zurück nach der Überschaubarkeit der kopfsteingepflasterten Straßen, der Bergarbeitersiedlungen mit den geordnet rotbackigen Häusern, Hinterhöfen, Torwegen und Gärten, wo man miteinander spricht, sich erkennt und zunickt, wenn man sich beim Einkaufen im neuen Konsum begegnet, tratscht und Neuigkeiten austauscht.
Überhaupt ist das mit dem Einkaufen so eine Sache. Viele Menschen fahren nach Berlin, um sich von der Buntheit verführen zu lassen. Was nützt ihr, Lotte, ein großes Warenangebot? Sie hat, was sie benötigt. Sparen ist angesagt, sparen, bis der Grundstein für ein eigenes Haus erfüllt ist. Schaffe, schaffe, Häusle baue, treu und redlich ...
Lotte ist vor dem kleinen Laden angelangt. Sie fummelt ein Taschentuch aus der Handtasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch färbt sich braun. Das ist Berliner Dreck, der in der Luft schwebt, selbst im Sommer, selbst wenn der Nachtwind den Dunst vertrieben hat; freilich, es ist erträglicher als im Herbst, wenn die Abgase aus den Schloten stinkend einen dräuenden Nebel über die Städte legen, eine Dunstglocke, die greifbar ist, deren Auswirkungen Bäume entlaubt.
Der Bodensatz harter Arbeit ist es, sagt man, kommt von drüben rüber, sagt man, nicht Schminke ist es, denn Lotte schminkt sich nie! Sie mag diese Beschönigung nicht. Außerdem macht Make-up die Haut kaputt, altert sie frühzeitig, verschönt und fälscht.
In geschwungenen Lettern steht auf der Schaufensterscheibe GINAS MODE.
Das Schaufenster ist blitzblank geputzt, die Auslage spartanisch und mit einer Markise gegen den Sonneneinfall abgeschattet. Die Dekoration ist seit Lottes letztem Besuch vor vier Wochen abgeändert worden. Hier ein Minirock, dort eine Bluse, ein überbreiter Gürtel, da eine Plattenhülle von The Beatles, daneben eine von The Rolling Stones - vier hohlwangige Kerlchen mit tiefliegenden Augen - zwei Paare Schuhe, eine vergrößerte Zeitungsanzeige Die AVON-Beraterin bringt Geschenke für die ganze Familie, drei Parfümfläschchen Caléche von Hermes, das war’s. Obwohl Lotte sich fragt, was Schallplatten mit Mode zu tun haben, weckt die Gesamtgestaltung einen Nerv in ihr, der verwegen zu flackern beginnt. Wie würde sie sich in einem Minirock machen? Schöne Beine hat sie ja und auch sonst kann sie sich noch sehen lassen. Und dieser Duft von Hermes würde Frank bestimmt behagen. Um Haaresbreite hätte sie sich laszive Gedanken gestattet, dann nimmt die Preise wahr, die Gina für ihre edlen Waren verlangt:
Mein lieber Scholli! Wer kann sich so was leisten?
Sie mustert ihr Spiegelbild im Schaufenster. Ihr Kostüm ist schlicht, aber bequem und gradlinig. Sie hat es sich aus dem Quelle-Heft bestellt, das im letzten Jahr das erste Mal in ihrem Briefkasten gelegen hatte. Einfach einen Zettel ausfüllen, wegschicken und die Ware kommt ins Haus. Das ist die moderne Welt. Und man spart so viel Geld dabei, weil diese Produkte viel billiger sind als anderswo und dennoch gut aussehen.
Ja, ich bin attraktiv!, denkt Lotte starrköpfig und stößt die Ladentür auf. Ein Glöckchen bimmelt.
Drinnen sorgt ein Deckenventilator für eine angenehme Temperatur. Die Beleuchtung ist hell wie Sonnenschein, aber frischfarbiger, griffiger. Halogen nennt man dieses Licht, weiß Lotte, das gibt es erst seit wenigen Monaten. In diese Helligkeit tritt die Inhaberin, das herzförmige Gesicht perfekt zum Cleopatra-Look gestaltet, so wie es Mode ist. Die Augen mit herrlich langen falschen Wimpern verschönt, die Lippen blutrot, das Rouge elegant und unaufdringlich, die schulterlangen Haare braun gefärbt auftoupiert, in den Ohren blitzen Stecker, groß wie Fingerhüte, der füllige Pony liegt wie ein knapp hochgezogener Vorhang strenglinig über den Augen. Sie trägt ein rosafarbenes Minikleid, sehr schlank und dezent, dazu kniehohe Stiefel.
Die Frauen umarmen sich, tauschen Floskeln aus, bis Lotte die eine gewichtige Frage stellt: »Wie geht es Ottilie?«
»Komm, wir trinken etwas. Du musst ja am Verdursten sein.«
»Geht es ihr gut?«
Gina lacht leise. »Sie wird jede Woche selbstbewusster. Sie ist schon eine richtige Frau.« Sie füllt zwei Gläser mit Mineralwasser.
»Naja ... eine Frau?«
»Sie ist fünfzehn durch.«
Die Frauen trinken.
Wie erschöpft sie aussieht, denkt Gina.
Wie hübsch sie ist, denkt Lotte.
»Wo ist Ottilie?«
»Sie macht eine Besorgung, aber sag doch: Wie gefällt dir deine neue Arbeit?«
»Ach weißt du ...« Lotte lässt die letzten Worte im Raum schweben und nippt am Wasserglas. Wie wohl der Ventilator tut.
Gina nickt. »Scheiße, sag’s ruhig.«
»Man verdient gut. Sehr gut.«
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit als die Wurstfabrik?«
»Wir haben Pläne und brauchen das Geld. Umso dreckiger die Arbeit, desto mehr Verdienst.«
»Alles für Haus und Garten, ich weiß«, lächelt Gina und streichelt mit dem Handrücken über Lottes Wange.
»Außerdem sind es ja nur ein paar Stunden am Tag. Nachmittags und abends putze ich Büros. Da habe ich nette Kolleginnen.« Lotte zieht den Kopf unmerklich von Gina zurück.
»Ich weiß – das hast du beim letzten Mal auch schon erzählt. Und dann hast du geweint.«
»Komm, hör auf«, sagt Lotte verlegen. »Das muss eine hormonelle Sache gewesen sein, hat mein Frauenarzt gesagt.«
Gina lächelt vielsagend und sagt: »Scheint ein echter Fachmann zu sein.«
»Lass uns über was anderes reden.«
»Wie läuft’s denn so mit Oma Käthe?«
Lotte stellt das Glas ab. »Seitdem Muttel bei uns wohnt, auf Thomas aufpasst und den Haushalt schmeißt, ist es wie früher: Sie hat das Regiment übernommen! Du kannst dir vorstellen, was da manchmal los ist. Du kennst Muttel ja.«
»Immer mit der großen Klappe vorweg.«
»Dauernd hält sie mir vor, ich würde zu viel rauchen. Man könne Zigaretten schließlich auch einzeln kaufen. Was geht sie das an? Sie sollte sich an die eigene Nase fassen. Sie selbst gibt ihre halbe Rente für Qualmerei aus. Wie ich diese Doppelmoral an ihr hasse!«
Regina schweigt und mustert ihre Schwägerin interessiert.
»Vor ein paar Tagen hatten wir einen Riesenstreit, weil wir ihre Kocherei kritisiert haben. Sie machte eine schlesische Spezialität, Geschlinge[7] , und als Frank in den Topf guckte und meinte, so etwas Ekeliges würden wir nicht essen, hat sie ihr Strickzeug durch die Küche gepfeffert und rumgeschrien, wir wären undankbar, Frank sei unverschämt und so weiter. Ich glaube, sie war kurz davor abzuhauen.«
»Und?«
»Du kennst doch Frank. Mit Muttel hat er eine Engelsgeduld.«
»Er ist ein Filou. Er flirtet mit ihr und wickelt sie um den Finger.«
»Was mich manchmal nicht besonders glücklich macht. Dann finde ich, er nimmt Muttel ernster als seine eigene Frau.«
»Unsinn, Lottchen. Du weißt doch, wie sehr er dich liebt.« Gina schüttelt lächelnd den Kopf. »Sei froh, dass er Oma Käthe im Zaum hält.«
Sie trinken und nach einer kleinen Weile fragt Gina: »Vielleicht fühlt Oma Käthe sich manchmal nicht wohl bei euch, weil sie weiß, dass sie den Familienfrieden stört?!«
»Mag schon sein«, zuckt Lotte mit den Achseln.
Aber es interessiert dich nicht!, fügt Gina in Gedanken hinzu. Weil da etwas zwischen euch beiden ist, was zu einer Hassliebe geführt hat, die sich gewaschen hat.
Lotte seufzt. »Auch bei Frank hat sich immer noch nichts geändert. Nachdem er sich mit seinem Steiger gestritten hat, wird er nur noch für die miesesten Arbeiten eingesetzt, obwohl er eine Eingabe beim Betriebsrat gemacht hat. Aber diese Herren interessiert das nicht. Die Schikane macht ihn fix und fertig. Außerdem hat er zu viele Doppelschichten. Manchmal sehe ich ihn eine ganze Woche lang kaum. Ich hab dir ja mal erzählt, wie schwer es ihm fällt, tagsüber zu schlafen. Das geht jetzt fast zwei Jahre so. Entsprechend griesgrämig ist er. Und zu allem Überfluss nimmt Muttel ihm noch seine geliebte gute Stube, seine Bücher weg, weil sie da auf dem Sofa schläft.«
»Da hat’s Tom mit seinem eigenen Zimmer besser als der Rest der Familie.«
»Thomas ist in der Pubertät, was eine Geschichte für sich ist, und er hat Probleme in der Schule. Vielleicht schicken wir ihn in den Herbstferien in ein Kinderkurheim an die See. So spindeldürr wie er ist kann er da mal ein bisschen Speck ansetzen. Die sind auf so was spezialisiert. Außerdem haben wir dann für ein paar Wochen Muttel vom Hals.« Lotte lächelt bitter: »Willkommen bei den Willes!«
»Es werden bessere Zeiten kommen.«
»Ich bin so froh, dass es Ottilie gut hat bei dir.« Verführt von einer kostbaren Innigkeit nimmt sie ihre Schwägerin in den Arm. Diesmal wird sie nicht weinen. Diesmal nicht!
Über Ginas Schulter hinweg sieht sie durch die Schaufensterscheibe, dass draußen ein Motorroller vorgefahren ist. Auf dem Rücksitz hockt Ottilie, die Arme um den Oberkörper eines jungen Mannes geschlungen, die Wange an dessen Rücken gedrückt.
Sie hopst federleicht vom Sitz, die schlanken Beine blitzen, der Minirock verdeckt kaum ihren Po. Ihre kleinen Brüste wippen ungestützt unter der ärmellosen Bluse, deren rote Punkte einen anmutigen Kontrast zu den blonden Locken des Mädchens bilden, das sich auf die Zehenspitzen reckt, die Arme ausstreckt und sich dreht wie eine Märchenprinzessin, die soeben von einem Prinzen erweckt wurde. Ihr durchscheinendes Gesicht leuchtet verzückt. Makellos weiße Zähne schimmern zwischen weichen Lippen, deren Rot durch Wangenrouge betont wird.
Sie sieht aus wie ein Engel!, denkt Lotte und für eine Sekunde ist sie stolz auf ihre Tochter. Dann trifft es sie wie ein Blitz, denn Ottilies Augenaufschlag gilt dem Lächeln des Jungen, dessen schwarze Haare vom Fahrtwind zerzaust sind, der einen Kamm aus der Gesäßtasche zieht und, während die Handfläche der anderen Hand wie beschützend über Kamm und Haare schwebt, seine Frisur ordnet. Dann dreht er sich zum Schaufenster, als fühle er sich beobachtet.
Der Junge ist sehr attraktiv, ein dunkelhaariger Peter Kraus. Braune Muskeln spielen unter den Ärmeln des weißen T-Shirts, das Haar ist im Nacken und über den Ohren viel zu lang, sehr verwegen, die Augen schimmern geheimnisvoll, der Junge ist achtzehn oder neunzehn, wenn nicht älter.
Mit einem Aufschrei drückt Lotte ihre Schwägerin weg, reißt die Tür auf und stolpert auf die Straße. Sie baut sich vor ihrer Tochter auf, reißt den Arm hoch, ihr Zeigefinger weist auf die Tür und sie stammelt: »Rein da, rein - ins - Haus!«
»Mama ...« Ottilie erstarrt.
»REIN INS HAUS!«
Der Junge weicht zurück. Der Konflikt verdüstert sein Gesicht.
Ottilie sucht Schutz bei ihm, drängt sich von ihrer Mutter rückwärts an den Motorroller, der Junge fängt sie auf, sein Arm legt sich um Ottilie, eine Hand auf ihrem Bauch, knapp unter den Brüsten.
»Lass meine Tochter los!«, herrscht Lotte den Jungen an.
»Er heißt Salvatore«, zischt Ottilie.
»Das ist mir ganz wurscht! Ich will, dass du ins Haus gehst. Dann werden wir uns unterhalten.«
»Nein, Mama!« Zwei bestimmte Worte. Zwei Worte, die Lotte nicht erwartet hat.
Die Türglocke bimmelt in Lottes Rücken und Gina tritt auf den Gehweg.
»Lotte«, sagt Gina. »Bitte – mach’ keinen Skandal. Salvatore ist ein netter Kerl. Ich kann dir alles erklären.«
»Ach, was du nicht sagst!« Lotte fährt herum.
Du verrennst dich, denkt Gina.
Du bist ein Miststück, denkt Lotte.
Du machst einen Fehler, denkt Gina.
Du hast mich verraten, denkt Lotte.
»Ja, Gina! Jetzt verstehe ich alles! Du bist mir schon ein feines Früchtchen. Deshalb das ganze Gerede darüber, dass Ottilie schon fast eine Frau ist ...«
»Hör doch auf Mama! Gina kann doch nichts dafür«, unterbricht Ottilie und Lotte wendet sich wieder ihrer Tochter zu. Ihr ist nicht entgangen, dass Ottilie sich die Tante gespart hat.
»Ich will jetzt nicht diskutieren.« Sie schleudert ihren Zeigefinger gegen Salvatore, »Du, du Halbstarker, du verschwindest jetzt«, dann gegen Ottilie »und du, mein Fräulein, meinst wohl du bist so eine richtige Motorbiene, was? Da hast du dich geschnitten. Du kommst mit mir mit. Und zwar dalli, dalli! Ich dachte, du wärest hier bei deiner feinen Tante gut aufgehoben. Wenn ich da geahnt hätte.«
»Was, Mama? Was meinst du mit geahnt?« Ottilies Augen sind kühl und feucht, ihre Lippen zucken, ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Eine Mischung aus Trotz, Zorn und Trauer.
»Du bist erst fünfzehn ...«
»Alt genug.«
»Alt genug wofür?«
»Das geht dich gar nichts an, Mama.«
»WOFÜR?«
»Für alles, was ich will, Mama!«
Lotte erschaudert. Ihr wird klar, dass sie, die sie so viel Wert auf Disziplin legt, auf dem Kurfürstendamm in Berlin ihrer Tochter eine entwürdigende Szene macht. Da drüben bleiben die Leute schon stehen und flüstern miteinander.
Erschwerend ist: Ihr bleiben nur Worte. Und die will Ottilie nicht hören.
»Und wie du schon aussiehst in diesen Klamotten.«
»Na, Mama? Wie denn, Mama? Wie eine Nutte oder was? Das meinst du doch, hab’ ich Recht? Immer willst du alles kontrollieren! Immer, immer!«
Lotte zittert wie Espenlaub.
»Schau dich mal an. Du bist ja wie eine Furie. Du stellst dich schrecklich an. Dabei ist alles ganz anders, als du denkst«, schreit Ottilie.
So etwas hat sie noch nie aus dem Mund ihrer Tochter gehört. Warum ist sie wütend? Warum gebärdet sie sich wie eine Verrückte gegen ihre Mutter? Was ist mit ihrer Kleinen passiert, von dem sie nichts mitgekriegt hat?
Sie greift nach Ottilies Arm, will ihre Tochter von dem jungen Mann mit dem italienischen Namen wegzerren, sie zurückbesitzen, sie zurückholen, alles zurückgeschehen machen, aber das Mädchen weicht ihr aus, huscht vor ihrer Mutter weg und bringt den Motorroller zwischen sie beide. Geschmeidig wirft sie ihr Bein über den Rücksitz, schlägt Salvatore mit der flachen Hand auf den Rücken, so wie man einen müden Gaul antreibt, der schmeißt die Maschine an und der Roller macht einen Satz nach vorne. Lotte springt hinterher, ihre Finger tasten ins Nichts, es ist zu spät.
Dieser, dieser ... Salvatore entschwindet mit ihrer Tochter hinter der nächsten Biegung.
Stiehlt sie. Weg von Mama. Weg von der Familie.
Entführt sie.
Und sie ist angezogen und geschminkt! Himmel noch mal GESCHMINKT wie eine ...
... wie eine, auf die eine gute Mutter nicht aufgepasst hat!
Lotte macht ihren Stoßseufzer, lang gezogen, als wenn sie erstickt.
Regina versucht, ihr händeringend zu erklären, dass sie sich irrt, dass sie einen Fehler begeht, dass sie überreagiert hat.
»Ich habe keine Lust mehr auf Lügen!« faucht Lotte und geht davon. Nach ein paar Schritten bleibt sie noch einmal stehen, dreht sich um und ihr Zeigefinger schnellt vor. »Und richte meinem feinen Töchterchen aus, dass ich sie morgen in Bergborn sehen möchte. Sie wird wieder bei uns wohnen!«
Regina möchte etwas sagen, möchte erklären, aber das hat keinen Zweck mehr, denn Lotte Wille hat eine Entscheidung getroffen.