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»Du bist sicher, dass nichts schiefgehen kann?«, fragt Frank.
»Nie und nimmer!«, wiegelt Otto ab. »Die BS 202 ist sattelfest und wird in ein paar Jahren euer Geld verdoppeln helfen. Ich selber habe unser Geld in der Police angelegt.«
... und Gina und dir geht es blendend, fügt Frank in Gedanken hinzu. Ein schneller Blick auf Lottchen bestätigt ihn. Sie werden zwanzigtausend Mark, fast ihr gesamtes Erspartes, in diese Bausparsicherung anlegen, eine gemischte Police mit variabler Risikostreuung, wie Otto erklärt hat. Otto ist ein anständiger Kerl und er wird seiner Schwester keinen Schaden zufügen wollen – also stellt der Abschluss dieser Geldanlage kein unzumutbares Risiko dar.
Otto war um elf Uhr in Bergborn eingetroffen, Gina hat noch im Laden zu tun und wird gegen vierzehn Uhr nachkommen. Piefke hat leider etwas anderes vor. Tom ist unterwegs mit Freunden, Ottilie ...
Frank sieht von seiner Unterschrift hoch. »Was ist mit meiner Tochter?«
Otto zuckt mit den Achseln und seine Brille beschlägt. Sein Kopf ruckt vor und zurück. »Hör mal, alter Knabe – ich halte mich da raus.« Er sieht über den Brillenrand zu Lotte hin, »Was da passiert ist, tut mir unendlich leid. Wir beide wollten nur das Beste für eure Tochter.«
»Ihr wisst, dass Gina eine sehr eigenwillige Frau ist. Davon kann ich euch ein Lied singen. Ob das etwas mit ihrem Vater und den Demütigungen, die sie damals durch Polizei, Gericht und Presse erfahren musste, zu tun hat ...« Otto zuckt die Achseln. »Ich weiß es nicht und Gina macht dicht, wenn es um dieses Thema geht. Sie ist eine moderne Frau, will am Leben teilhaben – auf ihre Art und Weise. Aber unzuverlässig ist sie nicht. War sie nie! Sie ist eine Seele von Mensch und würde alles für Ottilie tun. Ihr hättet mal sehen sollen, wie rührend sie sich um die Kleine gekümmert hat. Die beiden sind richtig gute Freundinnen geworden. Aber irgendwie ... sind Gina und Ottilie sich ähnlich. Ihr wisst, eure Tochter ist ein eigenwilliges Ding. Man kann nicht Tag und Nacht ein Auge auf eine frühreife Fünfzehnjährige haben.«
»Ja, ja – das wissen wir«, knurrt Frank.
»Da sagst du was Richtiges«, seufzt Lotte. »Frühreif sind sie beide, Ottilie und Thomas. Der Junge bekommt jetzt schon Bartwuchs, stell dir das mal vorm und ist fast einen Kopf größer als Gleichaltrige. Außerdem liegt der Fehler eindeutig bei mir. Ich habe überreagiert. Habe Gina Unrecht getan und meiner Tochter auch. Das war ziemlich bescheuert von mir.«
»Es wird alles wieder gut«, lächelt Otto. »Ihr werdet euch aussprechen und wieder prächtig verstehen.«
»Hoffentlich«, flüstert Lotte.
»Nu blas mal keine Trübsal, Schwesterlein. Wer, bitteschön, wandelt auf diesem Planeten und ist fehlerlos?«
»Helmut Schön«, grinst Frank.
»Gute Antwort, Schwager. Heute ist Fußball und Deutschland wird Weltmeister!« Otto packt den Vertrag in seine Aktentasche und zieht das Jackett aus. Dienst ist Dienst, Freizeit ist Freizeit. Er streckt sich und krempelt die Ärmel hoch. »Haste mal ein Bier?«
Lotte holt zwei aus dem Kühlschrank. Frank nickt dankend, zieht Lotte an sich und versetzt ihr einen Klaps auf den Po. »Ist sie nicht ein Engel?«
»Wem sagst du das, Schwager. Damals, als es hart auf hart ging, hat sich mein Schwesterlein für uns geopfert und für Piefke und mich gesorgt wie eine Mutter. Unsere echte Muttel hatte ja anderweitig zu tun ...«
Otto sieht, dass sich Lottes Gesicht verdunkelt, und beißt sich auf die Lippen.
Frank entkront die Flaschen und sie stoßen an.
»Wir sollten uns immer an den 30. Juli 1966 erinnern«, sagt Otto philosophisch. »Das ist der Tag, an dem Deutschland Weltmeister wird und Otto Jäckel dafür sorgt, dass seine große Schwester und ihr wunderbarer Kerl ein dickes Portemonnaie bekommen.«
»Hoffen wir’s«, sagt Frank und knufft seinen Schwager am Oberarm. »Päule Ratzkowski, der Wirt der Ampel, hat für heute einen besonders großen Bildschirm besorgt. Da wird es voll werden. Oskar und noch ein paar Kumpels wollen das Spiel in der Ampel gucken und nicht wenige werden ihre Frauen mitbringen.«
»Wir gehen rüber, wenn Ottilie, Gina und Muttel da sind, einverstanden?«, fragt Lotte.
»Wenn’s dann noch Plätze gibt«, meint Frank.
»Er hat recht«, sagt Otto. »In Päules Kneipe wird heute die Hölle los sein.«
Also ziehen Otto und Frank die Flaschen leer, rülpsen feierlich, reiben sich mit den Handrücken die Münder trocken und man bricht auf, kurz nach Mittag, ohne etwas gegessen zu haben. Was soll’s? Buletten und eine kräftige Ochsenschwanzsuppe wird Frida, die Wirtin, da haben und was will man mehr?
In der Ampel herrscht Hochbetrieb.
Die ERSTE berichtet vorab. Spielerporträts werden gezeigt. Man sieht kaum die Hand vor Augen und irgendwer schreit, dass mal jemand die Tür öffnen soll, es sei scheißwarm und verräuchert!, begleitet von einem Hustenanfall, der sich hören lassen kann. Stimmen schwirren und überall wird gelacht. Es herrscht eine zuversichtliche Stimmung. Frida und Päule zapfen um die Wette und manch einer guckt schon jetzt schief aus der Wäsche.
Oskar kommt mit Trara herein und lässt einen Witz vom Stapel, Hänfling Wenna folgt der menschlichen Kugel auf dem Fuße (die Sache mit dem Gedinge hat er Frank, den er sowieso kaum noch zu Gesicht bekommt, verziehen), beide empfangen ihr Bier, bevor sie am Tresen Position beziehen können. »Un‘ zwei Kurze, Päule!«, sagt Oskar und dreht sich zu Frank und Otto um.
»Altes Haus, schön dich zu sehen!« sagt Frank.
»Weisse Frank, heute wer’n unsere Jungs Weltmeister!«
»Stimmt schon, Oskar, stimmt schon.«
Lotte blockiert einen Tisch, von dem aus man einen prima Blick auf das TV-Gerät hat. Über dem Schankraum liegt gegenwärtig eine nervöse Spannung.
»Auf die Ehre!«, prostet Oskar.
Was ist Ehre?, fragt sich Frank. Goethe sagte, es sei das, was einen Menschen aufrecht halte! Aufrecht stehen werden viele von uns in ein paar Stunden nicht mehr, fügt Frank amüsiert hinzu, denn heute möchte er nichts ernst nehmen, nicht einmal Goethe.
Hier geht es um ein Spiel, das vor 97.000 Zuschauern im Wembley Stadion in London stattfinden wird. Und Spielen ist Vergnügen, das zur Lebenslust führt. Der Sprecher gibt die Mannschaftsaufstellung bekannt. »Schnellinger, Beckenbauer, Overath, Haller, Seeler, Held, Emmerich ...«
»Da hat der Schön man ne ganz richtige Mannschaft zusammengestoppelt!«, ruft Oskar dazwischen.
Einige Gäste geben ihm recht, andere machen ‚pssst!’. Niemand will etwas verpassen.
Höch, höch, Krchk! Immer wieder Gekröchze.
»Guck mal«, sagt Oskar. Er hat in sein himmelblaues Taschentuch gehustet und geschnupft und hält Frank und Otto das Resultat unter die Nase. »Wieder ’n Brikett in der Hand!«
Frank sagt: »Heb’s auf. Brauch noch eins für den Winter.«
Otto lacht und wendet sich angeekelt ab.
»Mach mal’n Ton lauter, Päule!«, ruft einer.
Frida dreht am Knopf. »Kannste auch freundlicher sagen, Pannas!«
»Was soll’s Fridamaus? Hauptsache, du machs ne neue Lage!«
Die Kapitäne Uwe Seeler und Bobby Moore tauschen die Wimpel, im Hintergrund beobachten der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst und der russische Linienrichter Tofik Bachramow das Ritual. Und dann pfeift der Schiri das Spiel an. Das Giganten-Finale zwischen Deutschland und England auf dem »heiligen« Rasen von Wembley hat begonnen.
Nun ist alles still in der Ampel. Frank hat sich zu Lotte an den Tisch begeben, sitzt auf der Stuhlkante, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, unter Spannung wie vor einer wichtigen Prüfung. Otto nippt an seinem Bier. Atemlos verfolgen Männer und Frauen, wie Geschichte geschrieben wird.
Ball hin, Ball her, abtasten, vorsichtig sein. Alles ganz ruhig angehen lassen. Nur nicht zu früh einen einfangen.
In der 12. Minute schnappt Helmut Haller sich den Ball. Zwei, drei springen auf, brüllen, feuern an. »Lass knacken, Helmut!« Haller drischt los, der englische Torhüter Gordon Banks streckt sich und der Ball zappelt im Netz. Deutschland führt mit 0:1!
Jetzt ist was los in der Ampel. Brüllen, überschäumende Freude, Handflächen klatschen auf Tresen und Tische. Man fällt sich in die Arme. Es wird erneut ein Wunder von Bern geben, kannze ein’ drauf lassen! Deutschland wird Weltmeister. Und wer dat bezweifelt, hat kein’ Blick von Fußball nich’!
Alle sind aufgeregt, Zigaretten werden Kette angezündet, ausgedrückt, angezündet.
»He, gib mal ne Zwölfer Overstolz!«
»Nee, nee, jetz is Zeit für ne Handelsgold, ach was! für was Echtes! Gib mal ne Rössli rüber!«
»Micha, halt die Scheißtür auf! Man erstickt ja hier drin! Krchk! Höch!«
»Steck doch einfach nen Bierdeckel unter die Tür!«
Glas splittert, ein Aschenbecher geht auf den Steinfliesen zu Bruch, niemand achtet darauf, was währenddessen in London geschieht.
Dass dort der Ausgleich fällt.
Denn Geoff Hurst hat den Ball reingetan. Zack! Einfach so ...
Totenstille.
Wann ist denn das geschehen? Man war doch grad so schön am feiern ... Und das alles nur ein paar Minuten später?
Gleichstand!
Na und? Nix gewonnen, aber auch nix verloren. Ist alles noch drin! Kumpels, wie halten den Kopp hoch und hau’n noch einen wech! Immer schön positiv denken! Was hat der olle Herberger gesagt? Das Spiel dauert neunzig Minuten und der Ball ist rund!
»Zwei Bier und zwei Kurze, Frida!«
»Und nich im Krug oder hab ich Lederbuxen an? Gib mich n Stövchen!«
»Nu mach hinne!«
»Mama, hol mich vonne Zeche! Guck dir mal an, wie der Willi Schulz sich einen abbricht. Oh, nein! Dat is ja nicht zum hinschalinsen! Der läuft ja wie Oppa seine Kröpper, wenn se inne Mauser sind.«
»Mach man keine Kamine, Hugo! Dem Willi is immer noch besser als Emma.«
»Emmerich? Mach ma die Klüsen auf, wenn stramme Bubis mit’m Ball zappeln! Hast wohl schon vergessen, wie er Liverpool letztes Jahr im Europapokal weggeputzt hat. Ohne Emma wä’ Borussia ganz schön alt ausgesehen.«
»Seh’n se sowieso. Als ich letzten Monat auf Schalke war ...«
»... gegen Tasmania Berlin?«
»Kennt irgendwer Schalke?«
Allgemeines Lachen. Krchk! Krchk! Höch!
»Is so ... da hat der Herrmann zwei reingetan und die Jungs ham 4:0 gewonnen.«
»Tasmania, das ich nich lache. Sind doch sowie die Letzten in der Tabelle. Da kann Schalke mal so tun, als könnten se Fußball spielen.«
».. und Borussia Berlin is auf Zwei! Sag’ ich’s doch!««
»Haltet doch mal die Klappe, Kumpels! Wen interessiert der Scheiß? Liga war gestern, heute is WeEm!«
»Da, da!«
»Nu schiiiieß doch, du Arschkrampe!«
»Ja, jetzt!«
Man springt auf, zeigt mit dem gestreckten Arm auf das Fernsehgerät, aber der Ball geht ins Aus. Eckball für Deutschland. Viele Chancen, ein dramatisches Spiel, alles in schwarzweiß und draußen ist der Himmel grau, der Schiedsrichter pfeift Halbzeit und noch immer hat niemand die Tür aufgemacht.