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Um kurz vor zwei macht es ratschratsch! an der Wohnungstür.

Das wird wohl Thomas sein, der von der Schule heimkehrt, denkt Lotte. Er ist wie üblich zu spät. Was treibt der Banause nur immer nach Schulschluss? Wurde er wieder verprügelt?

Ist seine Brille wieder kaputt? Ach, er ist auf männliche Weise genauso zart wie Ottilie. Schmal, verletzlich, sensibel. Einer, dem man gerne nach Schulende auflauert, was alle Tage passiert. Lotte weiß, dass Thomas es mal zu etwas bringen wird. Ottilie wird einen guten Mann finden, eine gute Mutter werden – schließlich hat sie ja ein gutes Vorbild! - und Tom wird seinen Weg gehen, studieren, etwas aus sich machen. Er ist so intelligent, so weit für sein Alter.

Lottes Stoßseufzer, diese Mischung aus Schrei und Atemnot, hallt durch die Küche. »Da denkt einer an mich. Mach mal auf«, sagt sie zu Ottilie, als Frank eintritt.

Er hat die Tür mit seinem Schlüssel geöffnet. Seine Haare kleben nass am Kopf, seine Augen glänzen. Lotte sieht sogleich, dass er getrunken hat. Nicht zu viel um sich zu kompromittieren, jedoch so hinreichend, dass sie sich Sorgen macht.

»Was machst du denn schon hier?« Im selben Moment wird ihr klar, dass diese Frage unsensibel ist, dass sie damit den falschen Knopf drückt. So, als würde sie sich nicht freuen, als würde er stören. Da muss was passiert sein. Er ist zwei Stunden zu früh da. Da stimmt doch was nicht.

»Ottilie! Meine Kleine ...«, übergeht er Lottes Begrüßung und reicht ihr gewohnheitsmäßig seine Arbeitstasche.

»Hallo Papa«, sagt Ottilie. Sie lächelt, verschränkt die Arme hinter dem Rücken. Ihre Füße stehen im spitzen Winkel zueinander. Frank nimmt sie in den Arm. Sie lässt es geschehen, die Arme bleiben am Körper hängen. Er schmatzt einen Kuss auf ihre Wange, sie dreht den Kopf weg.

Erneut ratscht es. Ein Taubenschlag ist das heute, denkt Lotte. Und Ottilie benimmt sich so, als wäre Frank ein Fremder. Oder ekelt sie sich vor seinem Bieratem? Das wird’s sein.

Ottilie flitzt los und lässt ihren Bruder ein. Sie will ihn überschwänglich begrüßen, »Na du alter Knollenkopp«, er schiebt sich nervös an ihr vorbei und sagt: »Gut, das du wieder da bist. Ich hab‘ dir ganz schön was zu erzählen. Ist das Papas Stimme? Er ist schon zu Hause? Warum das?« Er knallt die Tonne[6] in den Flur (das hasst Mama, aber sie muss ja nicht alles mitkriegen) und streckt den Kopf in die Küche. »Linsensuppe? Knorke! He, schon gesehen, Papa? Die haben die Fahnen wieder aufgehängt.«

Und morgen steht’s in der Zeitung, erinnert sich Frank und drückende Schauder laufen durch seinen Körper. Er hat die Nase voll von diesem Tag, von allem. Die fünf, sechs Bier haben nichts geholfen. Das dumme Gelaber mit dem Wirt und Egon, der einen Krankenschein hat, hat ihn keinen Deut besser gelaunt gemacht. Außerdem war Egon schon um elf Uhr besoffen gewesen.

Schotterbeins Angebot lastet auf Franks Gemüt, das Gespräch mit dem Mann. Noch nie war die Zukunft so sehr zum Greifen nahe. Betriebsleitung!, hallt es in ihm wider. Du gehörst nicht unter Tage! Erst Steiger, dann Betriebsleitung! Außerdem kann man ja das eine oder andere erfinden!

»Ich muss nachdenken, Lotte«, murmelt er. »Schließ mal die gute Stube auf und bring‘ mir ein Bier. Ich brauche eine Stunde für mich. Später reden wir miteinander.«

»Na, entschuldige mal«, fährt Lotte auf. »Es gibt Linsensuppe. Die magst du doch so gerne. Und wenn du schon mal da bist, können wir alle gemeinsam essen.«

»Bitte ...« Seine Augen flehen und Lotte zieht das Kreuz ein. Wie müde er wirkt. Das erkennt sie an seinem Bartwuchs. Wenn er überanstrengt ist, wenn er Sorgen hat, wachsen seine Barthaare doppelt so schnell und seine untere Gesichtshälfte ist schattig und dunkel, wodurch er noch hagerer, barsch und ungeschlacht aussieht.

»Wir können auch später noch sprechen, Lottchen.«

Wenn Ottilie und ich aus dem Weg sind!, denkt Tom. Wie’s aussieht, hat Papa Ärger auf der Arbeit. Ottilie hat Ärger mit sich. Ich habe Ärger mit Schönfeld. Und Mama hat Ärger damit, dass Papa am Wochenende Mist gemacht hat, nach Bier stinkt und sonst noch, was im Busch ist. Da kommt was zusammen.

Dann soll sie wenigstens ihre Linsensuppe loswerden!, hat er Mitleid mit Mama. Und wie das hier duftet, mmhh! Alles das kann seinen Appetit auf Linsensuppe mit Rauchendchen drin nicht mindern. Erst essen, dann mit Ottilie reden. Vielleicht erzählt er ihr von der Sache mit Herrn Schönfeld und davon, wie der mit der schwarzhaarigen Primanerin umgesprungen ist.

Sie essen zu dritt.

Papa ist in der guten Stube und trinkt Bier. Er holt sich noch eins, murmelt etwas das sich anhört wie: Dummheit und Stolz wachsen auf gleichem Holz!, womit keiner was anfangen kann, grinst seine Familie schief an, und als Mama nach dem Essen zu ihm will, schnarcht er auf der Couch. Sie lässt ihn schlafen.

Ottilie hilft beim Abwasch, so gut das mit den Armverbänden geht.

Tom macht seine Hausaufgaben.

»Dann haben wir ja Zeit für was anderes«, sagt Mama und blinzelt dabei schelmisch. Auf den Tisch stellt sie nebeneinander zwei Höhensonnen, oval, zum Aufklappen, jeweils sechs parallel verlaufende Röhren, davor je ein Küchenstuhl. Sie schiebt den Sessel etwas näher heran.

Na also, denkt Tom. Es lebe der Bräunungswettbewerb!

Er nimmt neben seiner Schwester Platz. Beide recken ihre Gesichter in die Höhensonnen, die vor ihnen auf dem Tisch stehen. Sie setzen sich die Schutzbrillen auf. Darauf legt Mama viel Wert. Zwar hat sie den Ehrgeiz, dass Tom und Ottilie schön braun aussehen, aber nur, wenn es der Gesundheit zugutekommt. Verbrannte Augen gehören nicht dazu. Sie schaltet die Sonnen ein, diese flackern auf und verströmen ihren röstigen Geruch.

Tom schließt hinter den roten Plastikgläsern die Augen. Nun wird’s spannend. Mamas Stimme. Die Höhensonnen summen und knistern, die Zeituhr knackert. Mit sanfter Stimme liest Mama aus einem Buch vor. Es ist eine spannende Geschichte über einen Mann, der auf einer einsamen Insel strandet und dort ganz alleine leben muss. Das sind die Minuten, die Tom liebt, die er anheimelnd findet und niemals in seinem Leben vergessen wird.

Das ist der eigentliche Effekt von Mamas Bräunungswettbewerb: Ihre vorlesende Stimme, der Ausschluss der Realität hinter roten Brillengläsern, der Duft der Sonnenröhren und eine Wandlung, die Tom überkommt, wie eine Frucht, die in der Sonne unmerklich reif wird, ein Gefühl, geliebkost, gelobt und gestreichelt zu werden.