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An der Kasse des städtischen Schwimmbads drängeln sich Menschen aller Altersgruppen, schleppen Decken, Campingtaschen, Sportbeutel, Radios, Federballspiele, aufblasbare Niveabälle und einige haben sogar eine echte Lederpocke dabei. Die Warteschlange windet sich wie ein buntfarbiges Kriechtier zur Kasse hin, wo ein schwitzender Mann lustlos den Eintritt kassiert.

Der Chlorgeruch ist überwältigend, gemischt mit Bratwurstdämpfen, dem Schimmer süßer Schaumfrösche, Kinderpipi, Bier und Tabak. Wer sucht, nimmt vielleicht noch etwas vom Grün der Liegewiese wahr, ansonsten ist hier nicht mehr viel zu sehen von frischer Natur, vielmehr bilden die Liegedecken ein buntes Mosaik bürgerlicher Gemütlichkeit. Decke an Decke liegen die Besucher, Jung und Alt, viele drehen an ihren Transistorradios, sodass die Wiese von einem Konglomerat diskrepanter Töne und Melodien erfüllt ist.

Wanstige Männer treten einen Ball in den Himmel, schön steil und hoch, damit man ihm hinterher starren kann, wie einem Kometen, der der Gravitation widersteht, ihre Späne pöhlen gegen die gesteppte Lederkugel, klatsch!, und wieder schießt einer, klatsch!, und es ist ein Wunder, dass sich niemand an dem steinharten Fußball die Zehen bricht.

Da drüben ist die Schlickerbude, vor der sich schnabbelnde Kinderleiber, zappelnd und frierend drängeln und schieben, mit Pfennigen bewaffnete Bedürfnisse, die sich sorgfältig und zeitaufwendig ihr süßes Programm zusammenstellen, währenddessen der ältere Herr, drei Meter weiter im Gedränge, schier verzweifelt, weil eines der Kurzen sich nicht zwischen Mausespeck und Salinos entscheiden kann. Die geduldige Verkäuferin richtet eben für zehn Pfennige eine Tüte Freude.

Pärchen knutschen und fummeln hinter den Toiletten und Umkleiden. Das Badebecken wird von einer Strippe aus blauweißen Plastikkugeln in den Nichtschwimmer- und Schwimmerbereich geteilt. Im trüben Wasser hopsen, springen, planschen Unmengen Badelustiger, Kinder kreieren Arschbomben, die sich sehen lassen können und die weniger Beweglichen das Wasser in die Augen treiben; junge Männer haben ihre Bienen auf die Schultern gehoben, die wie Ritter hoch zu Ross gegeneinander kämpfen, rangeln, schubsen, das Wasser aufwirbeln wie brünstige Nilpferde, und von den Schultern ihrer Reittiere rutschen, mit weit gebreiteten Armen hintenüber platschen; selber Schuld, wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringt!

Betagte Schwimmer versuchen optimistisch, Bahnen zu ziehen, wobei sie Meter für Meter anhalten müssen, Schutz suchend am Beckenrand, immer ein Auge auf den Bademeister gerichtet, der weiß gekleidet wie ein Schneemann in kurzen Hosen um das Becken stapft, sehr autoritär, als gelte es, eine Herde Wildvieh im Zaun zu halten. Zwischen seinen Lippen steckt eine Trillerpfeife, die er fortwährend benutzt. Das Schrillen wird gestützt von einer bewegungsfreudigen Gestik, dann und wann nimmt er den Triller zwischen die Finger und brüllt wie ein Offizier, ermahnt Unfolgsame oder weist übertrieben lebendige Wasserratten in Richtung Ausgang, ganz Herr und Meister seiner Badeanlage.

Mädchen in knappen Bikinis rekeln sich am Beckenrand. Männer mit Muskeln und Sonnenbrand posieren, cremen sich oder die Mädchen ein oder schubsen Kleinere ins Wasser, dem zufolge sie noch männlicher wirken, starke Typen eben, die sogar dem raschen Schelten des Bademeisters Paroli bieten, indem sie sich kurzerhand hinfort machen, mit aufgeblasener Brust, versteht sich, ohne diese Niete eines Blickes zu würdigen, die wohlgeformten Bienen im Schlepptau.

Dann sind da noch die Familien. Mutter im Triumph-Badeanzug und wohlgeformt versteiften Brustkörbchen aus Fischbein, mit einer Bademütze, auf der bunte Plastikblümchen leuchten; einige führen ganz modische Kappen spazieren, von Kairo im Silbergelatine-Look mit weißen Blenden, die unter dem Kinn klemmen. Väter flanieren mit gestreiften Sport-Bademützen, unter denen ihre Köpfe wie braunverbrannte Kugeln aussehen. Kinder mit blauen Kältelippen haben die Ärmchen um sich selbst geschlungen, treten auf der Stelle und brabbeln vor sich hin, unterdessen ihnen die Rotze aus der Nase läuft; aus dem Stand hopsen sie hin und her, huschen weg wie elektrisierte Silberfischchen und rutschen zuverlässig nach wenigen Augenblicken auf den nassen Fliesen aus, was Geschrei zur Folge hat. Na was soll’s, rein ins Wasser mit dem blutigen Bein, es kühlt ja so schön und Chlor tötet die Bakterien, sagt man.

Lotte, Frank und Tom finden einen Platz im Halbschatten, wo Frank zwei Decken ausbreitet. Eine für sich und Lotte, eine für Tom (und für Ottilie, deren Abwesenheit nun allen schmerzhaft bewusst ist!). Lotte schiebt die Campingtasche an den Baum, Kartoffelsalat und für jeden ein Schnitzel, die Oma Käthe noch flink gebraten hat. Wasser macht hungrig und sie werden bis abends hierbleiben.

Alle haben ihre Badekleidung unter der Alltagswäsche, deshalb können sie sich das Geld für die Umkleidefächer sparen. Lotte verstaut die Klamotten zwischen zwei Handtüchern, versteckt die Wertsachen in aufwändig gefalteten Handtüchern. Tom reckt sich in der Sonne und zupft seine Badehose zurecht. Als er an sich heruntersieht, nimmt er einmal mehr wahr, wie hager er ist. Wie ein weißer Storch sieht er aus! Ein hässlicher weißer Storch, dem überall Haare wachsen, was seine Schulkameraden spöttisch ankritteln, weil er ihnen da schon so weit voraus ist, wie ein Fünfzehnjähriger! Demgemäß macht sich sein Selbstwertgefühl für einen Augenblick davon. Eigentlich möchte er sich viel lieber auf die Decke werfen, auf den Bauch rollen und die Augen schließen, damit ihn niemand sieht. Oder auf den Rücken liegend in die knallige Sonne blinzeln, die ihm die Pickel aus dem Gesicht ätzen wird, wenn er nur genug Geduld mitbringt. Das ist Blödsinn, weiß er, also atmet er tief ein und sagt: »Wer kommt mit ins Wasser?«

Minuten später tollen sie im Nass, so weit dies bei der Enge geht. Frank und Lotte haben auch schnell die Nase davon voll, sich unablässig vor Kindern, die entgegen den Befehlen des Bademeisters mit angezogenen Beinen vom Beckenrand springen, in Sicherheit zu bringen.

»Mama holt eben das Portemonnaie, dann gehen wir uns was trinken«, sagt Vater.

Typisch Erwachsene!, weiß Tom aus Erfahrung und sieht den beiden hinterher. Ein paar Minuten im Wasser, ein halbes Stündchen in der Sonne braten, dann dahin, wo die Tische stehen. Nachher sind sie lustig, entspannt und wohlgelaunt. Dann wird viel gelacht und gealbert, manchmal Federball gespielt und lecker gegessen. Erst mal ein oder zwei Bier kippen. Das machen sie immer, weil es anscheinend zum Wohlfühlen dazugehört. Und im Sonnenschein, in der Hitze knallt’s noch besser! Sollen sie doch. Tom hat ein paar Mal am Bier genippt, aber es schmeckt ihm nicht, ist bitter und säuerlich gleichermaßen. Ich werde so etwas niemals trinken!, versichert er sich. Dann schon lieber Cola oder Apfelsaft. Mama meint, das Aderngeäst, rotsaftige Flüsschen auf der fleischigen Landkarte von Herrn Knopps Zinken kommt vom Saufen. Bäh, wie ekelig!

Vater duscht sich und Mama eilt über die Liegewiese davon.

Tom macht zwei Züge, hält sich am Rand fest und schnaubt das Wasser aus den Nasenlöchern. Er hält sich mit den Zehenspitzen an der Haltestange fest, legt sich mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche und schließt genüsslich die Augen vor dem tropfengebrochenen Glitzern der Sonne. Er liebt Wasser, schwimmt und taucht gerne, eine Beschäftigung, die seiner schlanken Physiognomie entgegenkommt.

Er öffnet die Augen, winkelt seine Leibesmitte an, streckt die Hände aus nach der Stange und sieht ...

... wie ein Südländer auf ein Mädchen einredet, dieses am Oberarm festhält, obwohl es zweifelsohne damit nicht einverstanden ist. Da Tom gerade eben den Kopf über den Beckenrand streckt, sieht er aus nächster Nähe, dass der Südländer dem Mädchen auf die Zehenspitzen tritt. Das Mädchen macht einen Sprung zurück und jammert. Zwar dreht sich der eine oder andere Badegast nach den Zankenden um, aber niemand schreitet ein. Sollen die doch ihren Zoff untereinander austragen! Das Mädchen sieht aus wie sechzehn oder siebzehn, der Mann könnte ihr Freund sein, nicht wahr?

Das Opfer – vor Schreck lässt Tom die Haltestange los und taucht einen Moment lang unter – das Opfer ist Karla, jene Schöne aus der Parallelklasse, vierzehn Jahre alt, sehr reif für ihr Alter, jene Schöne, die er nie erreicht hat, weil sie mit einem Adonis aus der Sekunda zusammen ist, einem der schon sechzehn ist. Allerdings hält hier nicht der Sekundaner Karla am Arm fest, sondern ein Südländer, der mindestens fünfundzwanzig ist.

Tom traut seinen Augen nicht. Karla weint.

Noch immer schreitet niemand ein, denn Streit, Gebrülle, sogar Schlägereien sind in der städtischen Badeanstalt nichts Seltenes. Gewohnheitsmäßig geht Tom Auseinandersetzungen aus dem Wege. Er weiß, an welchen Ansammlungen er sich vorbeistiehlt, um, welche Gruppierungen er einen Bogen macht, weil diese nur darauf aus sind, Jüngere zu döppen oder anderweitig zu striezen. Man entwickelt mit der Zeit ein Gespür dafür. Ganz schlimm ist es, wenn irgendwelche Schaumacher auf dem Dreier posieren und Typen mit ihrer großen Klappe das Geschehen mit bekloppten Sprüchen kommentieren. Da gibt es Männer, die man Rocker nennt, wilde Typen mit Bärten und schwarzen Sonnenbrillen. Wenn deren Motorräder vor der Badeanstalt brummen und geparkt werden, packen sogar Erwachsene ihre Sachen ein und hauen ab.

Und was Südländer angeht, hält man sich besser raus, wenn die Ärger machen. Es geht das Gerücht, die seien schnell mit dem Klappmesser dabei, obwohl Tom sich fragt, wo dieser Kerl das versteckt haben soll: In seiner engen Badehose vielleicht?

Was nun geschieht, kann Tom sich schon wenig später nicht mehr erklären. War es der Traum vom lodernden Feuer? Der Wunsch ein Held zu sein? Unsinniger Wagemut? Himmelschreiender Wahnsinn?

Die Kraft seiner Arme reicht nicht aus, sich am Beckenrand hochzuziehen und blamieren, indem er wie ein gebrechlicher Frosch auf der Beckenkante zappelt, möchte er sich nicht, also ist Tom mit drei, vier Zügen bei der Treppe, die er geschwind hochklettert. Er schüttelt sich das Wasser aus den Haaren und ohne darüber nachzudenken, schiebt er sich zwischen den Dunkelhaarigen und Karla.

Mit Karla im Rücken, ihren Körper ganz nah bei seinem – spürt er nicht sogar ihre Bikinikörbchen an seinen Schulterblättern? – sieht er dem Südländer geradewegs in die Augen. Augenblicklich bestürmt Tom eine Angst, wie sie eisiger nicht sein kann. Himmel noch mal, in was hat er sich da reingeritten? Wie kommt er da wieder raus? Das riecht entschieden nach Zoff!

»Lass’ sie in Ruhe«, hört er sich sagen. Seine Lippen sind wie Schwämme, seine Worte wie blubberige Pupse in der Badewanne und ganz weit weg.

Der Mann sagt etwas auf Türkisch und setzt auf Deutsch hinzu: »Hau ab oder isch masch dich alle.« Er spricht sehr gut Deutsch, ja, das tut er.

Um Tom versinkt die Welt. Jede Bewegung ist ausgeschaltet, Stimmen verklingen, Stille liegt wie zäher Sirup über dem Schwimmbecken, sogar Karla existiert nicht mehr, sondern nur Tom und der Türke.

Tom zuckt nicht mal mit den Wimpern, sondern wiederholt: »Las’ sie in Ruhe!«

Wer den ersten Schlag tut, gewinnt! Warte nie zu lange, erinnert er sich an Vaters Anweisungen. Und Vater hat er einen geballert, der sich gewaschen hatte. Gegen Vater ist dieser Türke eine Witzfigur. Erst ist der Wille da, dann folgt die Ausführung. Tom nimmt noch wahr, wie sich seine Hand zur Faust ballt, seine Kühnheit blitzschnell den Befehl zum Schlag gibt, da reißt ihn jemand bei den Schultern so vehement zwischen dem Türken und Karla weg, dass Tom strauchelt und nur Millimeter neben einer älteren Dame ins Wasser klatscht, was diese mit Zetern quittiert und was dem Bademeister einen gellenden Triller entlockt. Tom ignoriert die Warnung, prustet geschlucktes Wasser aus, ist mit einem Zug am Beckenrand, platscht die Handflächen auf den Stein und zieht sich mit einer einzigen fließenden Bewegung aus dem Wasser hoch.

Verblüfft erfasst er, wer ihn weggeschubst hat und nun seinen Platz eingenommen hat. Es ist Karlas Freund aus der Sekunda, der Schönling, vor dessen Füßen zwei fallengelassene Eistüten auf den Steinen glitzern.

Karlas Freund öffnet den Mund, will etwas sagen und alles geht blitzschnell.

Der Türke macht eine jähe Bewegung und Karlas Freund schaut verblüfft drein, als wundere er sich, wie schnell er sich eine Ohrfeige eingefangen hat.  Als Nächstes setzt es einen harten Schlag in seine Magengrube. Karla weicht zurück, Tränen schimmern in ihren schönen Augen, ihre weichen Lippen beben und Tom möchte wetten, dass sie gleich losschreien wird. Stattdessen beugt sie sich über ihren Freund, der in die Knie gesunken ist, eine Hand auf seiner Schulter, ihren Blick dem Türken zugewendet, unter den Tränen eiskalter Hass.

Tom traut seinen Augen nicht, als er sieht, was nun geschehen wird. Die Sache ist eigentlich gelaufen, Karlas Freund besiegt, aber der Kerl macht noch weiter: Er holt zu einem entsetzlichen Tritt gegen Karlas Freund aus, der wehrlos am Boden kauert und seinen Schmerz herausstöhnt, nach Luft schnappt. Einen winzigen Moment sehen sie sich an - Karla und Tom. Selbstverständlich weiß sie, wer er ist, denn ihr galt dieser vermaledeite Liebesbrief. Karla hat ihre Wahl getroffen. Und der Gegenstand ihrer Wahl schwebt in Gefahr. Tom stellt sich vor, der Schläger sei einer von denen, die eine Lederpocke meterhoch in den Himmel dreschen können, ohne sich den Fuß zu verletzen.

So ausgedehnt kann der Bruchteil einer Sekunde sein, ein Zeitraum, in dem der herbeieilende Bademeister einen Schritt macht und die ältliche Dame im Schwimmbecken zum Luftholen ansetzt. Hinlänglich Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

Wie ein Löwe springt Tom den Türken an. Seine Arme und Fäuste wirbelnd wie Schlegel. Seine Handballen treffen auf ölige Haut, auf Behaarung – bah, wie ekelig das ist! - der Türke ist aus dem Konzept gebracht, strauchelt, fasst sich jedoch augenblicklich und nun weiß Tom, dass Karlas Freund zwar vorerst außer Gefahr ist, das Blatt sich aber nun gegen ihn gewendet hat. Jetzt wird er Keile kriegen, es sei denn, der blöde Bademeister kommt endlich und greift ein.

Stattdessen taucht wie aus dem Nichts ein anderer Südländer auf und versetzt Toms Gegner einen klatschenden Hieb auf den Hinterkopf, sodass man meint, die ganze Badeanstalt halte den Atem an. Der Geschlagene reibt sich den Schädel und lässt von Tom ab. Der Retter spuckt türkische Worte aus, was sich so zornig und fremdartig anhört, dass es Tom kalt überläuft, schneidend und autoritär und Tom ist nicht wenig erstaunt, als sein Gegner den Kopf neigt und in dieser Büßerstellung verharrt. Der Klatschemann ist ein Bär, so breit wie hoch mit einem Bartwuchs, der das ganze Gesicht dunkel schattiert. An seinem rechten Oberarm schillert eine rosafarbige Vernarbung, die keine Sonnenbräune angenommen hat, so groß wie die Hand eines erwachsenen Mannes. Das muss eine grauenvolle Verletzung gewesen sein, denkt Tom, der sich langsam wieder einkriegt und über seinen Wagemut staunt. Das hätte verdammt noch mal schiefgehen können!

Der Türke mit der Narbe geht vor Karlas Freund in die Knie. Sanft legt er ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid«, sagt er. »Ich sehr beschämt. Was kann isch tun für disch?«

»Verpiss dich! Und sag’ deinem Gefährten, er soll die Pfoten von meinem Mädchen lassen«, stöhnt Karlas Freund und richtet sich auf die Ellenbogen. Der Türke nickt traurig, sein Blick gleitet hoch zu Karla, er nickt noch einmal und erhebt sich. »Entschuldigen Sie bitte.«

Wo sind Vater und Mama?, denkt Tom, dem von Sekunde zu Sekunde klarer wird, was da grad abgelaufen ist. Immer wenn es spannend wird, sind die beiden nicht da. Trinken Bier und lassen’s sich gut gehen. Na ja – Mama braucht jetzt auch Trost, wo ihr das mit dem Geld passiert ist.

Der Mann mit der Narbe sagt zu Tom: »Du bischt ein mutig junge Mann. Hasan ischt ein dummer Kerl, verstehst du?« Er blinzelt und schmunzelt und Tom blinzelt zurück. Dieser Bär ist nicht so – der ist ein netter Mann.

Dann ist der Bademeister da. »Was’n hier los?«

»Ringelpitz mit Anfassen ... dumme Frage«, sagt ein Schaulustiger, der sich eine Schachtel HB aus dem Bund seiner Badehose zieht.

»Ärger, Herr Bademeister«, sagt Tom.

»Ist das dein Kumpel?« fragt der Bademeister und zeigt auf Karlas Freund, der sich unterdessen aufgerichtet und leidlich Haltung angenommen hat. Karlas große Augen mustern Tom mit einer solchen Intensität, dass er ganz nervös wird.

»J – ja ... nein ... eigentlich ...«, stottert Tom. Irgendwo von hinten, dann auch von überall her fangen Gaffer an, sich in die Sache einzumischen. Worte fliegen durch die Luft, schmutzige kleine Bälle wie: Kümmelmann! Klappmesser in die Rippen! Rauswerfen aus Deutschland! Deutsche Mädchen belästigen! Rübe ab!, werden geworfen.

»Ja, ja, nu man ganz ruhig. Nu macht man keine Fisimatenten«, versucht der Bademeister Ordnung in die Sache zu bringen. So stehen sie beisammen und sind bemüht, die Angelegenheit zu erklären. Die Ballkönigin redet, der unglücklich Besiegte gibt einiges dazu, der Bösewicht steht belämmert dabei, Tom bestätigt und unzählige Gaffer hören zu. Der Bademeister kriegt die Sache alsbald in den Griff, Hasan wird Hausverbot erteilt – was man allgemein bejubelt! -, der Dunkle mit der Narbe wird verwarnt – was nun einige Gaffer mit Entrüstung quittieren! -, Karlas Freund ergattert ein paar tröstende Worte und bald trollen sich alle. Das war ein Intermezzo, wie man es hier - wenn die Hütte voll ist - täglich erleben kann.

»Gut gemacht, Wille«, sagt Karlas Freund. Seine Lippen sind schmal, seine Augen eng, seine Wangenmuskeln angespannt.

»Ja, wirklich. Ohne dich ...«, sagt Karla. Sie lässt den Rest des Satzes in der Luft schweben, was die mögliche Konsequenz noch grauenhafter macht.

»Der Mistkerl hätte mich kurz und klein getreten. Ich hab nicht damit gerechnet, dass der so blitzschnell zuschlägt«, vervollständigt Karlas Freund das Thema. »Ich war nur mal kurz Eis holen und schon wird meine Kleine angequatscht. Das wird langsam lästig. Wohin man geht, tauchen diese Kanaken auf. Und die meisten von denen sind richtiggehend rabiat.«

Nicht alle!, denkt Tom an den kleinen Hünen, der alles mit einem einzigen Nackenschlag bereinigt hatte.

Karlas Freund schüttelt sich wie ein nasser Hund. »Na ja – ich hätte es ihm schon noch gezeigt - diesem Kümmelmann.«

Wie hättest du denn das machen wollen?, fragt sich Tom, aber schweigt.

Karla mustert ihren Freund konsterniert. Sie öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber ihr Freund ist schneller. »Oder kennst du etwa den Kerl?«

Karla wird knallrot. »Wie kommst du denn darauf?«

Ihr Freund zuckt die Schultern. »Nur so eine Idee. Manchmal treibst du dich doch rum, oder?«

»Was willst du denn damit sagen?«

»Is doch egal.«

Woher kennt Karlas Freund eigentlich meinen Namen?, fragt sich Tom.

Schon die ganze Zeit nutzt er die Gelegenheit, den zwei, drei Jahre Älteren, schon ein Großer also, unter die Lupe zu nehmen. Er hat ihn in der Schule gesehen, flüchtig, an Karlas Seite, jedoch den Namen des Jungen kennt er nicht. Die sind die blonden Haare, voll und im Nacken gelockt, über der Stirn eine verwegene Welle. Schlank, aber gut proportioniert, ein sportlicher Typ, aber kein Schläger, wie man erlebt hat. Das ist exakt jener Kerl, den es in jeder Schulklasse nur einmal gibt und den alle Mädchen ganz toll finden.

Tja, mein Lieber. Letztendlich habe ich dir den Hintern gerettet, feixt Tom. Der dünne Tom Wille aus der Quarta. Tom entgeht nicht, dass auch der Tertianer ihn aufmerksam begutachtet, wohl wissend, was er ihm zu verdanken hat. Zwischen Karla und ihrem Freund hat sich eine seltsame Distanz entwickelt, sie weiß nicht, wohin mit ihren Händen, sieht mal den einen, dann den anderen Jungen an. Sie machen einer Gruppe schwatzenden Erwachsenen Platz, denen eine betäubende Schweißwolke hinterher schwebt.

»Tom, bist du alleine hier?«, fragt Karla.

Toms Herz macht einen Hopser, als er in ihre blitzenden Augen sieht. »Mit meinen Eltern.«

»Pah«, macht Karlas Freund und dreht den Kopf ostentativ zur Seite.

»Na, Filius, haben wir was verpasst?« Vater kommt herbeigeschlendert, Mama neben ihm, beide wirken extrem gut gelaunt. »Am Eingang haben ein paar Türken einen Aufstand gemacht, weil Hasan rausgeschmissen wurde? Es soll eine Klopperei gegeben haben?«

Hatte Tom sich vor ein paar Minuten noch gewünscht, die beiden zu sehen, wünscht er sie jetzt nach Buxtehude in die Quarkmühle oder sonst wohin.

»Oh ja, Herr Wille, ihr Sohn ist ein richtiger Held. Sie hätten sehen sollen ...«, sagt Karla und ihr Freund macht ein Zitronengesicht.

»Was hat Tom damit zu tun?«, fragt Mama besorgt.

»Nun lass aber mal, Karla ...«, unterbricht Tom. Ihm steigt Hitze in den Kopf und am liebsten würde er ins Wasser springen.

»Ach, ihr kennt euch?«, fragt Mama.

»Ich bin in der Parallelklasse«, sagt Karla.

Und ich Idiot habe dir einen Liebesbrief geschrieben und wurde damit zum Gespött der Schule, denkt Tom ungehalten. Wahrscheinlich hat dein Schönling den Brief auch gelesen und sich scheckiggelacht! Deshalb kennt er auch meinen Namen, na klar – nur so kann es sein!

Karla beschreibt, was sich zugetragen hat. Und wie sie das beschreibt!  Aus ihrem Mund klingt das alles noch viel spannender und – riesiger. Der böse Türke war riesig, der gute Türke war breit und riesig, und ihr Freund und ganz besonders Tom sind die riesigen Helden des Tages.

Vater nickt und sein Blick wandert von Karlas Freund zu Tom, vergleichend und stolz, als wolle er sagen: Diesen großen Jungen, der älter ist als du, diesen Burschen hast du beschützt? Dir scheint die Kleine mit den roten Haaren und den Sommersprossen ja gut zu gefallen!

Er sagt: »Dann war’s bestimmt Cemir, der dir beigesprungen ist, Tom. Er ist mit Hasan raus aus dem Bad und sah ziemlich zornig aus.«

»Sie kennen die Türken?«, fragt Karlas Freund und seine Augen blitzen kühl, als begehe Frank Wille mit dieser Tatsache ein Verbrechen.

»Ja, ich arbeite unter Tage. Hasan kenne ich und Cemir, der kleine Muskelkasten, ist ein guter Kumpel von mir, war es jedenfalls, als wir noch gemeinsam in einem Trupp waren. Er ist ein feiner Kerl. Der Ärmste hatte viel Ärger mit seinem Vorgesetzten, seinem Steiger.«

»Schotterbein«, flüstert Mama vielsagend.

»Ja. Dieser Schweinehund hat dafür gesorgt, dass Cemir seinen Arm nie wieder bewegen kann wie ein gesunder Mann.«

Karlas Freund runzelt die Stirn. »Er hatte eine ziemlich große Narbe am Arm.«

»Sein Vorgesetzter ist ein Arschloch. Ich war dabei und habe erlebt, dass dieser Steiger vorsätzlich und fahrlässig handelte. Er wollte, dass Cemir verletzt würde. Offiziell schwer zu beweisen, aber wir Kumpels wissen Bescheid!«, sagt Vater und zuckt die Achseln. »Na, ja. So was passiert halt unter Tage und wie immer trifft es die Besten.« Er lächelt, als er das verkniffene Gesicht von Karlas Freund sieht. »He, Junge. Es ist nichts Schlimmes dabei, wenn man Türken kennt.«

»Sind Sie sicher?« Der Kopf von Karlas Freund ruckt zu Karla herum, die verlegen auf ihre Füße schaut.

»Und aus dem Eis wurde auch nichts?«, zeigt Vater auf die Milchpfützen zu ihren Füßen, die in der Sonne braten wie grauscheckige Spiegeleier.

Der Schönling zieht eine Schnute. »Wegen diesem ... diesem ...«

»Kein Problem«, unterbricht Vater. »Ich lade euch drei zu einem neuen Eis ein.«

Mama öffnet die Geldbörse.

»Oh ja«, Karla klatscht in die Hände wie ein kleines Mädchen, was Tom bei ihr – und nur bei ihr! – ganz süß findet.

»Immerhin hat Tom jetzt neue Freunde«, sagt Vater und Tom möchte sich bei dieser Peinlichkeit in die nächste Umkleidekabine verkriechen. »Da kann das Eis gar nicht groß genug sein.«

Mama kramt noch ein bisschen tiefer und legt noch eine Mark drauf.

Eigentlich möchte Tom sich viel lieber davonmachen, als gemeinsam mit Karla und deren Freund Eis zu essen.

»Und wie heißen deine neue Freunde?«, wendet Mama sich an Tom, das Geld in der Hand.

Neeeeeein!, möchte Tom am liebsten schreien und sich die Ohren zuhalten. Was soll denn dieses Gequatsche von wegen neuen Freunden? Das ist ja oberpeinlich, ist das! Als würde man sonst niemanden kennen, als wäre man ein bescheuerter Außenseiter. Nie wieder wird er gemeinsam mit seinen Eltern in ein Schwimmbad gehen. Die machen einen ja zum Deppen.

Karla, der die Begegnung Spaß zu machen scheint, stellt sich noch mal formell vor und ihre Stimme klingt in Toms Ohren wie Engelsingen. Sie ist ja so süß und sogar Vater scheint von ihrem Charme beeindruckt zu sein.

Karlas Freund reicht Vater die Hand. »Ich kenne Tom, denn ich bin auf seiner Schule«, sagt er mit zitternder Stimme. »Und ich kenne auch Sie, Herr Wille. Ich heiße Hans – Hans Schotterbein! Und damit das klar ist: Ich will garantiert kein Eis von Ihnen, nein von Ihnen nicht.« Unter seinen Wimpern schillern Tränen, er schiebt das Kinn vor, packt Karlas Hand und zieht diese hinter sich her. Nach einigen Schritten bleibt er noch einmal stehen, wendet sich um und seine Augen nageln Tom fest. Hans Schotterbein nickt, wischt sich mit einer trotzigen Handbewegung übers Gesicht, lächelt seidenweich und geht mit Karla im Schlepptau davon.