Heiße Steine
»Was machst du denn hier?» fragte sie. »Ich meine, Scheiße.« Lola trug ihre zerfledderte Lieblingsjeans, ein zu kleines T-Shirt und ziemlich abgelatschte Schuhe aus glattem Leder. Ihre Haare wirkten wie ein Nest und waren so unförmig, als hätte sie gerade auf ihnen gelegen.
»Ich dachte, das hier wäre das Badezimmer«, wiederholte ich.
»Bullshit.« Lola ging an mir vorbei zu Sabrinas Schmuckkästchen. Sie stocherte darin herum. »Hast du die beiden da draußen gesehen?« fragte sie angeekelt. »Am liebsten würde ich kotzen, wenn ich sie sehe. Auf die beiden drauf, richtig viel. Aber ich bin ganz schön cool in dieser Sache. Soweit Sabrina das überhaupt noch merkt, ist mir das total scheißegal.« Lola hob einen silbernen Ball an einem dünnen Lederband hoch. Sie ließ ihn wieder in das Kästchen fallen und suchte weiter.
»Heißt das jetzt, daß du mich wieder am liebsten von allen magst?« fragte ich.
Sie mußte gegen ihren Willen grinsen. »Scher dich zum Teufel«, sagte sie und zog eine lange, vielfarbige Hippie-Perlenkette aus Sabrinas Schmuckkästchen. »Die gehört mir«, sagte sie, »und die nehme ich mir zurück.« Lola wand sich die Kette um den Hals. »Hier geht’s lang«, sagte sie, drehte sich um und verließ Sabrinas Zimmer. Sie ging in das Zimmer nebenan — wo sie nächtigte, nahm ich an. Wie befohlen folgte ich ihr. Das Zimmer gab ein beeindruckendes Zeugnis von wirklich billiger Innenausstattung. Die Möbel erinnerten mich an das Wartezimmer eines Kinderzahnarztes, wie es in den siebziger Jahren ausgesehen haben mochte. Das Kopfbrett des Bettes zierte ein handgemalter Regenbogen. Die Farbe des Teppichs war ein frisches Limettengrün. Eine Kommode, deren Griffe an den Schubladen aus Seilen waren, stand in einer Ecke. Ein kleines Nachttischchen befand sich neben dem Bett. Die Lampe darauf hatte die Form einer riesigen Glühbirne. Ich bekam das Gefühl, daß die Deloreans Gäste nicht besonders mochten.
Auf dem Bett stand eine volle Reisetasche. Lola packte also. Das hielt ich für keine so gute Idee, vor allem nicht jetzt, wo Alex offiziell außer Gefecht gesetzt worden war. Lola nahm sich die Perlenkette wieder vom Hals.
Sie sagte: »Als ob sie etwas bräuchte, um sich an mich zu erinnern.« Sie stopfte die Kette in ihre Tasche.
»Hat sie dich darum gebeten?« fragte ich.
»Sie hat mir ein Kompliment gemacht deswegen, ja.«
Ich nickte und sagte: »Als etwas, womit sie sich an dich erinnern könnte.« Ich setzte mich auf die Bettkante. »Hat sie das gesagt?« Mit dem Ring erinnerte sie sich an Buster. Ich versuchte, mich zu erinnern, welche anderen Schmuckstücke ich noch in diesem Kästchen gesehen hatte.
»Na und, was ist daran so besonders?« fragte Lola und stützte eine Hand in ihre mickrige Hüfte.
Ich fragte: »Hast du Geld?«
»Keins, das ich für dich übrig hätte.«
»Laß uns irgendwo einen Happen essen gehen. Ich lad dich ein.« Genau die vier Worte des allgemeinen Sprachgebrauchs, die ich am allerwenigsten mag. Lola dachte darüber nach und stimmte dann zu. Sie streckte die Hand nach ihrer Tasche aus. Ich sagte: »Die können wir später abholen.« Sie zuckte mit den Achseln.
Im Wohnzimmer knutschten Alex und Sabrina auf dem Sofa herum. Sie machten einen riesigen Aufwand, sich wieder gerade hinzusetzen und die Haare zu richten, als sie hörten, daß wir ins Zimmer kamen. Lola zog ihren Mantel an. Ich trug meinen noch. Ich vermeldete, daß wir ausgingen. Alex winkte, und Sabrina machte ein Geräusch, das ich noch nie von ihr gehört hatte: Sie kicherte. Und sie bedeckte ihre Lippen mit den Fingerspitzen. In der Eingangshalle warf Mick mir Blicke zu, die eher Messer waren. Ich wedelte ihm mit den Fingern einer Hand vor der Nase herum und sagte, er solle mal »Stop« sagen — es wäre der Mittelfinger gewesen, der stehenblieb.
»Wo fahren wir hin?« fragte Lola.
Ich winkte eine Taxe heran. »Zu einem kleinen italienischen Laden, den ich ganz gut kenne.« Wir stiegen ein und fuhren über die Manhattan Bridge nach Brooklyn.
Außer mit Muschelsauce und Enthaarungswachs kennt sich Santina Epstein auch noch mit Diamanten aus. Sie ist nicht nur auf der West Forty-seventh Street groß geworden, sondern ihr Vater war auch noch Kürschner. Ihr Großvater war Kürschner. Und Kürschner verstehen etwas von Diamanten, eine Tatsache, die Santina mir mehr als einmal erzählt hatte. Sie war begeistert, Besuch zu bekommen, da Shlomo sich auf einem orthopädischchirurgischen Kongreß in Atlantic City befand, dessen Hauptzweck seine steuerliche Absetzbarkeit war. Sie schuf also ein luxuriöses Mahl aus Linguine mit Pesto, Knoblauchbrot mit frischem Parmesan (nicht aus der Plastiktüte) und einen Salat aus Mozzarella, Tomaten und Basilikum, angerichtet mit einer wunderbaren Senf-Vinaigrette. Dazu gab es eine Flasche roten kalifornischen Fusel. Um das Ambiente vollkommen perfekt zu gestalten, verlor sich italienische Filmmusik zwischen den gelben Wänden, ihren Hunderten von gerahmten Bildern und den alten, schwer gepolsterten Möbeln mit den Samtbezügen. Als wir satt waren, blieben wir auch nach dem Essen träge auf unseren Hockern um die Arbeitsfläche mitten in Santinas Küche sitzen. Abgesehen davon, daß ich verzweifelt die Zigarette vermißte, die es sonst immer nach italienischem Essen gab, fühlte ich mich faul und glücklich wie eine Katze in der Sonne. Ich nahm mir mit der rechten Hand noch ein weiteres Stück Knoblauchbrot. Die linke versteckte ich hinter meinem Rücken.
»An deinen Hüften ist ja auch gar nichts auszusetzen«, sagte Santina. Sie lehnte sich über den Tresen und klopfte mir auf den Bauch.
Der Diamantring brannte langsam ein Loch in meinen Finger. Ich hatte ihn gerade erst angesteckt, um sie nach dem Abendessen zu überraschen. Ich sagte: »Zerstör mir nicht mein High, Santina.«
»Jetzt ist sie auch noch high«, sagte Santina und gab Lola einen Stoß in die Rippen, die sich allerdings mehr für die letzten Stücke Pasta auf ihrem Teller interessierte.
Ich riß den Klunker nach vorne, wobei der Diamant wie ein Scheinwerfer an meinem Arm wirkte, der die Luft zwischen uns zerschnitt. Ich hielt ihn hoch, damit alle ihn bewundern konnten. »Es ist jetzt offiziell«, sagte ich und hielt Lola den Ring unter die Nase.
Santina kreischte: »Mazel tov!«
Lola warf ihre Arme um mich und drückte mich fest. »Du alte Ziege«, sagte sie voller Zuneigung.
Sie hatten mir geglaubt. Ich sagte: »An dieser Stelle sollt ihr doch merken, daß ich lüge!«
Santina hörte das nicht. Sie hüpfte auf ihrem Hocker hin und her, und ihre blonde Hochfrisur schwankte im Rhythmus mit. Sie hatte die Hände vor Freude zusammengefaltet und sprudelte hervor: »Ich stehe unter Schock. Kann man das glauben? Ich glaube es nicht. Ich glaube, ich werde hier mitten in der Küche vor Freude platzen.«
Lola saß still da und war von dem Ring wie in Bann geschlagen. Winzige Prismen und bunte Flecken wurden von der Reflektion verstreut und blitzten über unsere Wangen. Santina sprudelte weiter, was langsam peinlich wurde. Also sagte ich schließlich: »Ich habe ihn geklaut.«
Das durchdrang Santinas ewige Freude. »Was?«
Ich sagte: »Du glaubst mir aber auch nie, wenn ich mal die Wahrheit sage.«
»Du brichst mir das Herz«, beschuldigte mich Santina.
»Scheiße«, sagte Lola. »Du alte Ziege.«
»Schau ihn dir mal an«, sagte ich zu Santina. »Und sag mir den ungefähren Wert.« Sie hob ihre blond gefärbte Augenbraue in meine Richtung. »Ich will ihn nicht verkaufen. Es ist ein Indiz.« Wenn irgendjemand es verdiente, diesen Ring zu haben, dann war es Buster. Und außerdem würde es sicherlich eine hübsche Belohnung geben.
Lola sagte: »Und warum willst du dann einen Schätzwert wissen?«
»Jetzt sieh dir einfach den verdammten Ring an.« Ich streckte meine Hand zu Santina aus.
Santina nahm sich meinen Ringfinger. Sie hielt ihn unter die Lampe und beugte sich vor. Ich beugte mich dazu. Santina begutachtete ihn ganz genau. Sie drehte meinen Finger in alle Richtungen, um ihn von allen Seiten zu sehen. Sie spritzte Wasser darauf. Sie bat mich, den Ring noch dichter ans Licht zu halten. Sie blickte tief und lange in seine Mitte.
»Halbe Million.« Meine Worte waren halb Frage und halb Feststellung.
Santina sagte: »Wie ich feststelle, hast du den ganzen Abend keine Zigarette geraucht. Ich kann auch nicht das geringste bißchen Zigarettenrauch riechen. Gottseidank nimmst du endlich Vernunft an.«
»Dafür stinke ich aus allen Poren nach Knoblauch.« Das taten wir alle.
»Und was gibt es dagegen einzuwenden?« fragte sie und fuhr in ihrer Begutachtung des Diamanten fort. »Ich glaube, ich habe mich gerade in die Idee, daß du und Max euch verlobt, verliebt. Ich finde sie wunderbar. Das ist mein neuer Daseinsgrund. Wenn du glaubst, daß ich Spaß mache, irrst du dich — ich meine es ernst.«
Lola sagte: »Ihr Daseinsgrund ist es auch.« Sie räumte die Teller ab, ohne gebeten worden zu sein.
»Das ist doch absurd«, widersprach ich.
Santi sagte: »Lola ist eine sehr scharfsichtige junge Dame, Wanda. Teenager leben das Leben noch wirklich ursprünglich, offen und abgerissen. Wie ein wundes Nagelhäutchen.«
Lola ließ Wasser in den Spülstein laufen. Sie sagte: »Ehe ist beschissen. Es ist so, als würdest du der Welt kundtun, daß du hiermit nun offiziell zum Loser geworden bist. Keine Abenteuer mehr, keine Überraschungen. Kein Leben mehr. Es ist vorbei, das Ende der beschissenen Fahnenstange. Sabrina sagt das auch.«
»Noch etwas, was wir gemeinsam haben«, sagte ich. Santina drehte meinen Finger, um eine Seitenansicht vom Diamanten zu bekommen. »Aua. Paß doch auf, Mensch.«
»Könnten wir vielleicht mal über etwas anderes sprechen?« Das war Santina, die eindeutig etwas im Schilde führte.
»Als ob du nicht darüber sprechen wolltest«, entgegnete ihr Lola.
»Über was?« fragte Santina. »Über die Tatsache, daß Wanda in gebärfähigem Alter ist und daß es ein großer Fehler wäre, wenn sie nicht bald Kinder bekäme?« Santina hatte nie Kinder bekommen. »Und das hat nichts mit der Tatsache zu tun, daß ich nie Kinder bekommen habe.«
»Gute Sache, daß wir darüber auch nicht reden.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Hier haben wir einen fast lupenreinen runden weißen Diamanten von mindestens dreißig Karat.«
»Und dessen Wert ist...?«
»Hunderttausend?« meinte sie. »Zweihundert?«
»Mehr nicht?« fragte Lola. Sie schien enttäuscht zu sein. Ich war es auch.
»Mehr nicht«, bestätigte Santi und ließ meine Hand fallen.
Lola sagte: »Die blöde Tucke hat mir immer erzählt, das Ding wäre eine Million wert.«
»Du hast es also schon mal gesehen?« fragte ich und hielt ihr den Ring hin.
»Na klar. In Sabrinas Schmuckkästchen«, sagte sie. »Der Ring ist ihr von irgendeinem Typen geschenkt worden. Er hat mit ihr Schluß gemacht, also durfte sie den Ring behalten. Sie hat immer den Scheiß von irgendwelchen anderen Leuten behalten.«
»Was für einen Scheiß?«
»Briefe. Hauptsächlich aber Schmuck. Nichts besonders Teures, außer dem Ring natürlich. Wenn irgend jemand ihr ein Schmuckstück schenkte, bewahrte sie es in diesem Kasten auf ihrer Kommode auf. Sie hat mir ein paar Mal den Ring gezeigt.«
»Ist das der Grund, warum du ihr die Kette gegeben hast?« fragte ich.
»Sie hat mich darum gebeten, sie ihr zu geben, okay?« fuhr Lola auf. Ich war mir gar nicht bewußt, daß ich irgend etwas Falsches gesagt hatte.
»Was gab es da noch? Irgendwas besonderes?«
»Es gab ein gehäkeltes Armband von ihrem Freund im College — das ist der Typ, der sie entjungfert hat. Die
haben sie sich gegenseitig auf irgendeinem ländlichen Kunsthandwerksbasar geschenkt. Dann hatte er aber einen merkwürdigen Skiunfall, und sie hat den Job als Wetteransagerin in Vermont bekommen, ehe sie überhaupt Examen hatte. Sie hat ihn verlassen, als er noch im Streckverband im Krankenhaus lag.« Lola schaute in den Kühlschrank. Ihr dünner kleiner Hintern stakste hervor, als sie sich bückte, um nach Schokolade zu suchen.
Sie sagte: »Und da ist noch eine große klunkerige Kette, die sie von irgendeinem Typen bekommen hat, als sie mit ihm ein Indianerreservat in Connecticut besucht hat. Und ein Silberball an einem langen dünnen Lederbändchen. Den hat sie von einem Kerl geschenkt bekommen, mit dem sie in der Nachrichtenredaktion in Vermont zusammengearbeitet hat.«
Santina sagte: »Wenn du und Max euch doch einmal verloben solltet — und ich kann nur hoffen, daß ihr das tun werdet — , dann will ich, daß die Trauung hier bei mir stattfindet, in meiner Wohnung. Wir können den Empfang ausrichten lassen, wo du willst, aber laß mich bitte die Trauung machen. Es wird mir das Herz brechen — auf eine gute Art. Ich drehe dir den Hals um, wenn du es irgendwo anders machst.«
»Ich werde aber nicht heiraten«, protestierte ich.
»Versprich es mir«, schmeichelte Santi. Ich erinnerte mich an das eben verspeiste und für mich wohlgemerkt kostenlose Abendessen.
»Wir werden sehen.«
»Und Shlomo führt dich an den Altar«, setzte Santina dem schnell noch eins drauf.
»Ich habe auch richtige Eltern, Santina.« Sie haben sich frühzeitig zur Ruhe gesetzt und leben in Florida. Wir unterhalten uns alle paar Monate ganz nett. »Ist das eigentlich der Typ von der Vermonter Nachrichtenredaktion, der in einen Abgrund gestürzt ist?« fragte ich Lola und erinnerte mich an die Geschichte, die zuerst die öffentliche Aufmerksamkeit auf Sabrina gelenkt hatte.
»Sie haben sich getrennt, als sie den Job bei Party Girls angeboten bekommen hat. Es lief sowieso alles langsam schief, als er noch Monate nach dem Unfall im Krankenhaus lag. Sie glaubt, er sei einfach eifersüchtig gewesen, daß sie so berühmt geworden ist, nachdem sie ihm das Leben gerettet hat.«
Lola steckte die Hand in den Eisschrank und holte eine Schwarzwälder Kirschtorte heraus. »Cousin John’s«, sagte Santina und bezog sich damit auf deren Hersteller, den besten Bäcker von Park Slope. Wir hauten rein. Ich hatte dabei keine Schuldgefühle, und dieses eine Mal fand Santina es auch nicht nötig, mir welche einzutrichtern. Ich blieb noch ein weiteres Lied lang bei Santina, »Santa Lucia«.
Dann küßte ich die beiden auf die Wange und machte mich auf zur Tür. Lola folgte mir und fragte: »Wo gehst du hin?« Sie wollte, daß ich sie mitnahm. Das konnte ich nicht.
»Ich muß noch arbeiten. Aber könntest du mir einen Gefallen tun?« fragte ich und beugte mich näher an ihr Ohr. »Santina hat immer ganz doll Angst in den Nächten, in denen Shlomo nicht da ist. Kannst du dableiben, bis sie zu Bett geht? Vielleicht sogar übernachten? Für mich.«
Lola überlegte. Sie versuchte offensichtlich, herauszukriegen, ob ich sie irgendwie hereingelegt hatte. Schließlich sagte sie: »Okay, meinetwegen.« Santina und Lola haben ein gutes Verhältnis miteinander.
Ich dankte Santina, ehe ich hinunter in meine Wohnung ging. Diesmal fand ich keinen Buster Singer vor. Otis sprang mir in die Arme, als ich die Schwelle überschritt. Eine ihrer Krallen zog sich über meine Hand. Es blutete nicht. Ich trug sie auf meine Couch und setzte mich. Sie fing an, meinen Bauch mit ihren Pfoten zu melken. Es kitzelte und fühlte sich halbwegs erotisch an.
Ich kannte die Vorwahl von Vermont noch aus den Zeiten, in denen ich ein College-Kid in New Hampshire war. Das Mindestalter, um Alkohol kaufen zu dürfen, war in Vermont niedriger als in New Hampshire, also bin ich bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr mit dem Fahrrad über den Connecticut River geradelt, um meinen Tequila im anderen Bundesstaat zu kaufen. Ich versuchte, mich an die Telefonnummer des Getränkemarktes zu erinnern oder gar an die Nummer meines Zimmers im Studentenwohnheim im College, schaffte es aber nicht. Ich rief die Information an und ließ mir die Nummer des einzigen Fernsehsenders in Vermont geben — der WNER in Thetford. Von meiner Lektüre des People Magazine wußte ich, daß dies der Sender war, in dem Sabrina gearbeitet hatte. Der Ort war in der Nähe von Dartmouth. Ich kannte die Gegend gut. Die Nummer wurde angesagt, und ich wählte. Kurzer Uhrencheck: zwanzig nach zehn Uhr abends.
Das Telefon klingelte elfmal, ehe jemand abhob. Die Stimme sagte »Hallo« in einem verschlafenen Upper-Valley-Tonfall.
Ich sagte: »Verbinden Sie mich mit wem auch immer, der den Laden betreibt.« Ich machte mir eine geistige Notiz, meine Telefonkosten auch auf die Rechnung zu setzen.
»Ich verbinde«, sagte sie. Ich wartete.
»Ja?« bellte die Stimme eines verbitterten Nachrichtenjournalisten.
»Hier spricht Wanda Mallory von den NBC Nightly News in New York. Tom Brokaw hat mich gebeten, Sie anzurufen. Nur um sicher zu sein, würde ich gerne wissen, ob ich mit dem richtigen Menschen verbunden worden bin.«
»Warren spricht hi-a.« Er meinte >hier< und kam — mit diesem Akzent — eindeutig aus Vermont. Seine Stimme war gerade weich genug geworden, daß ich weitermachen konnte.
»Nun, Mr. Warren, Sie sind genau der Mann, mit dem ich sprechen wollte.«
»Warren heiße ich mit Vornamen, junge Frau.«
»Selbstverständlich.«
»Worum geht’s?«
»Wir möchten hier bei NBC eine Position mit Ihnen besetzen. Soweit ich weiß, dreht es sich um die Stelle des Produktionsleiters.«
»Kein Interesse«, sagte er und legte auf.
Ich wählte noch einmal. Diesmal hob Warren gleich selbst ab. Ich sagte: »Okay, ich komme nicht von den NBC News. Ich bin Detective bei der New Yorker Polizei.«
»Ich würde den Job sowieso nicht wollen, selbst wenn Sie von der NBC wären. Nichts würde mich dazu bewegen können, in dieses verrottete stinkende Loch zu ziehen, daß ihr eine Stadt nennt. Ein Tag dort ist so, als hätte man ihn in jenem Teil der Eingeweide verbracht, der rohes Fleisch verdaut.«
»Vielen Dank, daß ich an Ihrer Ansicht teilhaben durfte«, sagte ich und fühlte mich erneut an meinen Vorsatz erinnert, weniger Schweinefleisch zu essen. »Ich brauche Informationen über Sabrina Delorean.«
Erlegte auf. Ich wählte erneut. Er antwortete mir: »Ich rede nicht über Sabrina Delorean. Also hören Sie auf, hier anzurufen.« Er legte noch einmal auf. Ich wählte nicht noch einmal. Er klang so, als wisse er etwas. Vielleicht war er der Typ, der Sabrina die Silberkugel geschenkt hatte. Ich schaute auf die Uhr: gewaltig spät. Ich checkte meinen Puls: heftig. Ich überlegte eine Weile lang meinen nächsten Schritt und genehmigte mir noch einen after-dinner Tequila digestif.
Ich lehnte meinen Kopf auf die Rücklehne der Couch. Otis sprang auf meinen Schoß und kroch auf meinem Brustkorb hoch. Sie stupste meinen Hals mit ihrem herzförmigen Gesicht. Ich küßte ihre kleinen schwarzen Lippen, und sie leckte meine. Wir rieben unsere Nasen aneinander und unsere Kinne. Ihre Haare kitzelten mein Gesicht. Ich schob sie von mir herunter und ging in mein Bett. Ich versuchte, so zu tun, als würde ich meine Gute-Nacht-Zigarette nichtvermissen. Leider fehlte es mir an der nötigen Phantasie.
Mein Wecker klingelte um sieben. Ich blinzelte und rieb mir den Nebel unter meinen Augenlidern fort. Meine Beine fühlten sich wie gelähmt an. Ich schaute nach unten. Otis lag darauf und schlief. Ich stieß sie herunter und stand auf.
Ich kannte eine Firma, bei der ich für quasi lau ein Schrottauto mieten konnte. Ich zog mich für einen kristallklaren Herbsttag in Neuengland an, indem ich eine dunkelblaue Strickjacke von J. Crew wählte und schwarze 501s. Um mich gut in das allgemeine Erscheinungsbild einzufügen, war mein Schuhwerk Timberlands mit Schäften bis zum Knöchel. Dann machte ich mich auf, die Flatbush hinunter zur Ecke Atlantic Avenue. Der Stellplatz war offen. Das Ganze war ein von der Polizei bestellter Auto-Auktionator. Wenn die Bullen ein Auto von einem Drogenhändler oder Vergewaltiger oder Mörder beschlagnahmten, dann wurde es hier abgestellt oder bei einem der anderen Auktionatoren in der Stadt. Der Erlös aus der Versteigerung eines solchen Autos ging an die Familien der Opfer. Die Versteigerer machten sich noch nicht einmal die Mühe, die Autos zu waschen. Die Käufer brachten Bargeld und Automechaniker mit. Ich habe schon Geschichten von Leuten gehört, die mit einem Camaro für fünfhundert Eier davongefahren sind, um später Kokain im Wert von Tausenden von Dollar irgendwo im Auspufftopf zu finden. Aber ich glaube nicht an solche Geschichten. Ralph, der Typ, der den Laden für die Bullen betreibt, durchkämmt jedes einzelne Auto selbst, das er in die Hände bekommt, da er immer wieder aufs neue hofft, etwas zu finden. Das geht nun schon zehn lange Jahre so.
Ich fand Ralph, als er gerade das Handschuhfach eines weißen Lincoln Cabriolets durchkämmte. Er freute sich, mich zu sehen. Er findet, ich sei eine gerissene Frau. Wir haben uns vor ein paar Jahren im Savarin kennengelernt, meiner Stammkneipe, wenn es mir um Bacon and Eggs geht. Wir saßen beide am Tresen und redeten über den Kaffee, den es dort gab. Dann beichtete er mir, daß er gerade seiner Frau weglaufen wollte. Er konnte aber den letzten Schritt nicht tun. Ich sagte ihm, er sei ein Feigling. Er aß seinen überbackenen Käse auf und sauste ab, zurück nach Hause. Später sagte er mir, er hätte einfach eine Bestätigung gebraucht.
»Wanda«, sagte er. »Ich schwimme in Geld. He, gib mir doch mal das Werkzeug rüber.« Ich fand die Zange und schlug sie ihm in die Hand. »Unter der Motorhaube habe ich hundert Ohren gefunden. Endlich zahlt es sich aus.«
Ich sagte: »Ich gehe also davon aus, daß dies ein guter Moment wäre, dich um ein Darlehen anzugehen.«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte ganz tief aus dem Bauch. Er verlieh nie Geld. »Wie viele Stunden sind es noch, bis du aus deinen Träumen aufwachst?« fragte er mich.
Herrjeh, muß ich aber schlecht aussehen, dachte ich. »Ralph, ich brauche ein Auto, ungefähr zehn Stunden lang.«
Er lächelte eine ganze Klaviertastatur voller Zähne. »Wieviel Meilen?«
»Ungefähr sechshundert.« Ich zahlte ihm meistens fünfundzwanzig Cents die Meile, schwarz.
»Nimm den Cordoba da in der Ecke. Der Tacho ist kaputt.« Er zeigte auf einen rostigen grünen Chrysler.
»Ich hätte aber lieber den Porsche da drüben.« Ganz hinten auf dem Gelände stand und herrschte ein glänzender schwarzer Porsche. Mit diesem Baby wäre ich in weniger als drei Stunden in Vermont und zurück.
»Das glaube ich gerne, daß du den am liebsten hättest«, sagte Ralph mit einem Lächeln. Er stieg aus dem Lincoln und ging mit mir in sein Büro. Er fand die Schlüssel vom Chrysler an einem Schlüsselbrett und sagte: »Die Bullen schließen unseren Laden hier um Punkt fünf. Wehe, du bist bis dahin nicht zurück, dann kriege ich gewaltigen Ärger. Und wenn meine Frau davon erfährt, könnte das richtiggehend häßlich werden.«
Ich hatte Ralphs Frau noch nie kennengelernt. Den Geschichten nach zu urteilen, die er mir bei dem Kaffee im Savarin erzählt hatte, war ich mir auch nicht sicher, ob ich das eigentlich wollte. Nicht, daß sie grausam oder gemein oder irgend so etwas gewesen wäre. Ich wußte einfach nur zuviel über sie und über ihr Eheleben, als daß ich sie von Angesicht zu Angesicht hätte sehen wollen.
»Neuneinhalb Stunden«, versprach ich. Er knallte mir die Schlüssel in die Hand und schloß das Tor auf. Ich fuhr geradeaus auf die Manhattan Bridge. Der nächste Halt war dem Tanken Vorbehalten. Und dann: Thetford, Vermont.
Ich hatte diese Reise schon millionenfach gemacht, als ich zum College in Dartmouth, New Hampshire ging, und auch schon davor, als ich mit meinen Eltern zum College hochgefahren war. Mein Vater war ein Ehemaliger und hatte das, was allgemein als die Dartmouth-Seuche bekannt ist: Man verbringt vier Jahre damit zu versuchen, da herauszukommen, und den Rest seines Lebens versucht man, wieder hineinzukommen. Mein Vater schien halbwegs davon kuriert zu sein, als er sich bereit erklärte, sich mit meiner Mutter in Florida zur Ruhe zu setzen. Er kommt noch alle fünf Jahre zurück, zu Klassentreffen und um Ski zu laufen. Meine Mutter, eher ein Schneehäschen, verbringt dann ihre Tage damit, im Chalet Krimis zu lesen. Dabei trinkt sie heißen Kakao und trägt schwere Pelzstiefel. Ich war seit meiner Abschlußfeier vor sieben Jahren kein einziges Mal wieder in Dartmouth gewesen. Nicht, daß ich den Ort aus irgendeinem Grund meiden wollte; ich hatte nur nie einen Grund, dorthin zurückzukehren. Während ich auf der Interstate 95 durch Connecticut nach Norden schrubbte, rechnete ich die Dauer meiner Reise aus. Es dauert von New York aus vier Stunden, um zur Grenze Vermont/New Hampshire zu gelangen. Macht acht Stunden hin und zurück. Damit blieben mir anderthalb Stunden, um an Informationen ranzukommen, und die wurden weniger, wenn ich in einen Stau geriete oder eine Pause machen wollte. Das Auto roch in Ordnung. Ich bewunderte das luxuriöse und reichverzierte Leder seiner Sitze.
Obwohl ich mich immer am Steuer befinde, ist das nur selten auch wörtlich zu verstehen. Daher fuhr ich zunächst eher langsam. Ich hatte Visionen von mir und Max auf dem Lande, wie wir in roten Jerseypyjamas und tigerkrallenförmigen Pantoffeln zwischen den Kiefern umhersausten. Ich sang die Stücke aus dem Radio mit. Ich dachte über diesen Fall nach und stellte mir Sabrina als eine echte Hexe mit wirklichen Zauberfähigkeiten vor. Ich hatte mir schon so manches Mal gewünscht, ich könnte alle Männer, die mich nicht liebten, mit einem Fluch belegen. Für die hatte ich noch besondere Pläne. Aber würde ich sie unbedingt vor eine einfahrende U-Bahn stoßen? Wohl eher nicht.
Einige Stunden später verengte sich die Autobahn auf zwei Spuren, und die Hügel wurden langsam hügeliger.
Die meisten Bäume waren hier oben schon weitestgehend entblättert, nackt wurden sie vom Wind hin- und hergeworfen. Ich hatte eine andere blitzartige Vision: Max und ich, wie wir händchenhaltend über einen gefrorenen Teich eislaufen. Schnee liegt auf den Baumwipfeln, und in seinem kastanienbraunen Haar hängt weißer Frost. Wir kauen Kaugummi. Ich plumpste wieder auf die Erde — meine rasende Gier nach einer Zigarette hatte mich dorthin zurückgeholt. Ich fahre selten, habe aber dabei immer schon wahnsinnig gerne geraucht. Ich fuhr weiter, eigentlich zu schnell. Dafür war ich aber angeschnallt.
Kurz nach der Grenze zu Vermont, in Brattleboro, fuhr ich auf der Interstate 91 an dem vorbei, was meine Mutter immer die Fabrik für gedeckte Brücken nannte. Eigentlich war es nur eine Menge alter Farmhäuser, die eins ans andere gereiht dort standen. Meine Mutter liebte diese covered bridges. Sie hielt sie für ausgesprochen typisch für Neuengland. Dann kam ich an der Ausfahrt vorbei, die zur University of Vermont führt, wo Sabrina studiert hatte, ehe sie beschloß, lieber berühmt zu werden. Ich war einmal dort gewesen, um an einer Friedensdemo teilzunehmen, mit Lichterkette. Ich fuhr damals zurück nach Dartmouth und fand, daß ich wirklich etwas bewirkt hatte. Zuhause rutschte ich auf der Kotze aus, die irgendein Besoffener als Souvenir auf den Stufen meines Wohnheims hinterlassen hatte. Ich war so wütend, ich hätte ihn umbringen können. Seitdem bin ich zur Überzeugung gekommen, daß Friedensdemos nichts bringen.
Ich lag gut in der Zeit. Nach knapp mehr als vier Stunden auf der Straße kam ich an dem Bauernhaus vorbei, das gleich vor der Ausfahrt nach Norwich, Vermont steht. Das Haus kam mir irgendwie bekannt vor. Ich mußte es ja auch während meiner Zeit in Dartmouth tausendfach gesehen haben. Dennoch war da ein hartnäckiges Klingeln der Erinnerung in meinem Kopf. Ich schüttelte es ab und fuhr nach Norwich hinein, dessen Bevölkerung sich auf ungefähr zweihundert Lebewesen beläuft — inklusive der Kühe. Ich hielt bei Dan and Witts, dem dortigen Supermarkt. Ich ließ mir den Weg zum Fernsehsender erklären und schaffte es, mittags da anzukommen.
Ich marschierte hinein und wurde gebeten zu warten. Die alte Dame mit dem gefärbten grau-blauen Haar erzählte mir, was für ein schöner Tag es doch sei. Die Landschaft bezöge sich so sehr schön mit Frost, wenn auch etwas spät in diesem Jahr. Ich kramte meinen schönsten Upper-Valley-Akzent hervor und antwortete ah-ja. Die Gute war allerdings kein dummes Häschen. Sie starrte mich an, als hätte ich versucht, mich über sie lustig zu machen. Womit wohl mein Versuch, mich sprachlich anzupassen, schmählich gescheitert war.
Die blau-graue Dame wurde sichtlich munterer, als ein mittelalterlicher Mann in einem Flanellhemd vorbeimarschierte. Er trug Jeans, die leicht über der Hüfte spannten. Seine Haut war dick und etwas geknittert, hatte aber keine Falten. Er wirkte, als hätte er jede Menge Winter in Vermont gesehen und hätte nix dagegen einzuwenden gehabt, ah-nee. Des weiteren hatte er sicher noch jede Menge Äxte geschwungen, erkennbar an seinen überproportionierten Schultermuskeln. Sein Flanellhemd hatte an den Ellbogen Löcher, und das weiße langärmelige Unterhemd darunter war zu einem schmuddeligen Grau ausgewaschen. Ich sagte: »Hey, Warren.«
Er war es tatsächlich, der Typ vom Telefon. Er sagte: »Ah-ja?«
»Sie haben ja gar keine Ahnung, wie sehr Sie auf der Höhe der Mode sind.«
Er fragte: »Wer sind Sie nochmal?«
»Wanda Mallory, Privatdetektivin aus New York. Ich habe gestern abend angerufen und nach einer ehemaligen Angestellten dieser Firma gefragt. Sie haben einfach aufgelegt, was mich zutiefst verletzt hat. Ich bin hierhergekommen, um Ihre Bitte um Verzeihung anzunehmen.« Ich machte eine Pause. »Im übrigen habe ich eine Schußwaffe mit.«
»Das habe ich auch«, sagte er und holte sich ein Gewehr aus dem Ständer hinter dem Tresen der Empfangsdame. Er klatschte den Lauf seiner Rotwildjagdbüchse in die andere Hand. Das Gewehr wog mehr als Mama und hatte ein größeres Kaliber als sie — ungefähr um das Hundertfache. Also versuchte ich es mit anderer Munition. »Ich habe einen Silberball, der an einem langen Stück Lederband festgemacht ist und der mir ein Loch in die Tasche brennt«, sagte ich.
Er hielt mitten in einem Schlag inne. Er sagte: »Mrs. Ellery, ist diese Frau unhöflich zu Ihnen gewesen? Hat sie Sie in irgendeiner Form unfreundlich behandelt?« Er sagte das in einem Ton, als würde er mich dann dafür erschießen.
Die alte Dame sagte: »Nein, Warren, du alter Bauerntrampel.«
Er ließ den Gewehrkolben in seine offene Handfläche klatschen. Er sagte: »Wer auch immer Mrs. Ellery unfreundlich behandelt, ist gebeten, zu verschwinden. Die Tür ist dort drüben.« Er zeigte sie mir mit seinem Gewehr. Nach der Richtung zu urteilen, in die er zeigte, mußte sie sich direkt hinter meinem Kopf befinden.
Ich sagte: »Ist in Ordnung. Sie brauchen sich auch nicht zu entschuldigen. Ich weiß, daß es Ihnen leid tut.«
»Genug!« brüllte er. »Du bist eine lügende New Yorker Großstadtschlampe!« Er kam zu mir herüber, packte mich am Ellbogen und führte mich hinaus.
Auf halbem Wege zu meinem Cordoba riß ich den Arm von ihm frei und sagte: »Langsam, langsam, Herr Bergbewohner. Ich brauche keine Unterstützung, und heute ist auch nicht mein erster Tag auf diesen Beinen.«
Wir kamen bei meinem Auto an. Er sagte: »Gib mir den Silber-Anhänger.«
»Verpiß dich«, sagte ich. »Ich laß mir doch von dir nicht sagen, was ich machen soll.« Ich klang genau wie Lola, wenn sie sich frustriert fühlte.
»Er gehört einem Freund von mir.«
»Ich bekomme Informationen, du bekommst den Anhänger.«
Er öffnete mir die Autotür und ging herum zur anderen Seite, wo er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Er sagte: »Aus dem Parkplatz raus und links auf die New Boston Road.« Ich fragte nicht lange, wohin wir fuhren. Ich hoffte, es würde dort etwas zu essen geben.
Ich fragte: »Rauchst du?« Er schüttelte den Kopf. »Trinker?« fragte ich. Er sagte nein. »Und ein großer Redner bist du auch nicht gerade.« Diesmal stimmte er mir zu. »Ich vermute, du weißt nicht besonders viel über exotische Arachniden, die in den Regenwäldern Brasiliens beheimatet sind.« Er machte sich diesmal noch nicht einmal die Mühe, den Kopf zu schütteln oder zuzustimmen.
Die New Boston Road war eine unbefestigte Straße, die von schwarzen Bäumen mit herabhängenden Asten überdeckt war. Wir fuhren langsam die Straße entlang, über Unebenheiten und durch Schlaglöcher, eine halbe Ewigkeit und eine ganze Meile lang. »Links, dann scharf rechts.« Ich tat wie befohlen. Nach fünf Minuten sagte er: »Halt da oben auf dem Hügel an.«
Ich hielt an. Er stieg aus. Ich folgte ihm. Dann sah ich, daß oben auf dem Hügel eigentlich eine Klippe war. Der Abgrund fiel zehn Meter steil hinab. Die grüne Kette der Berge schnitt durch den Horizont wie eine Schlange. Die Sonne leuchtete hell durch den an sich bedeckten Himmel. Das flache Land des Tales war in Vierecke aufgeteilt, kariert und gestreift mit Mais oder Getreide gemustert, gelegentlich auch von schwarzen Kühen gepunktet. Ein roter Schuppen stand oben auf dem nächstgelegenen Berg; ein langer Pfad schlängelte sich von dort zur Straße. Es sah aus, als wäre ein Eiskaffee ausgeschüttet worden. Vor mir im Abgrund sah ich nichts als Büsche, Felsen und gelb blühendes Unkraut.
Der große Redner sagte: »Hier hat Sabrina Delorean meinen besten Freund umgebracht.«
Meine Nasenflügel weiteten sich vor Erwartung. »Meinst du, es sei Mord gewesen?« fragte ich.
»Ich sagte >umgebracht<, aber es war wohl eher ein Mord.« Ich wartete, daß er die ganze Geschichte erzählen würde. Er ließ sich Zeit, blickte in den Abgrund, trat den einen oder anderen Stein hinab. Er spuckte über den Rand. Warf einen Kieselstein hinab. Ich schaute auf meine Uhr. Ich hatte noch fünfundvierzig
Minuten, um ihn auszuquetschen und die zwanzig Minuten in die Stadt zurückzufahren.
»Worauf wartest du eigentlich?« fragte ich. »Daß die Kühe von da unten raufgeklettert kommen, damit wir sie nach Hause treiben?«
Endlich fing er in seinem entnervend langsamen Upper-Valley-Dialekt an. »Ich kannte Thomas, ehe ich überhaupt gelernt hatte, wie man Ski läuft. Und das Skifahren bringt man uns bei, ehe wir laufen lernen, hi-a oben. Thomas und Sabrina haben zusammen an einer Story für die Abendschau gearbeitet. Sie waren mit dem Übertragungswagen unterwegs. Nach über drei Stunden rief sie uns vom Funktelefon aus an. Sie sagte, ein Wolf hätte Thomas über die Klippe in den Abgrund gejagt, als er eine Aufnahme von der Landschaft hier machte. Sie war sich nicht sicher, ob er noch lebte. Wir sind natürlich so schnell wir konnten hergerast. Die Erde war fest — es war ungefähr diese Jahreszeit — , also kamen wir zügig voran. Als wir ankamen, fanden wir sie beide am Boden des Abgrundes vor. Ich fand es merkwürdig, daß seine Kamera nicht auch mit hinuntergefallen war. Sabrina hatte sich von dem Ü-Wagen aus an einem Elektrizitätskabel abgeseilt und versuchte, Thomas wiederzubeleben. Der Helikopter brachte ihn ins Mary Hitchcock Hospital — wo man herausfand, daß die Wirbelsäule gebrochen war. Ich war mir nicht darüber im klaren, was das bedeutete. Das verstand keiner von uns. Seine Mutter war fast hysterisch. Sie hatte gerade im Jahr vorher ihren Mann begraben. Sie wollte ihren Sohn über alle Maßen beschützen, und aus diesem Grunde hatte Thomas immer sein Verhältnis mit Sabrina geheimgehalten. Sein Vater hatte in einem Nachrichtensender in New Hampshire gearbeitet. In der Familie gibt es regelrecht journalistisches Blut. Thomas war ein paar Monate im Krankenhaus, bis endlich das Gefühl in seinen Beinen zurückkehrte. Er hat sich mit der Krankengymnastik unheimlich angestrengt. Und die Dinge sahen wirklich gut aus, bis letztes Jahr, als er einen Rückfall erlitt. Er ist hingefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Seitdem hat er den Rollstuhl nicht mehr verlassen. Es schien ihm trotzdem ungefähr sechs Wochen lang ganz ordentlich zu gehen. Dann hat er hinter dem Farmhaus seine Hunde erschossen und sich selbst mit einer Leine am Zaun vom Hundeplatz erhängt. Das Haar von seiner hübschen Mama ist durch den Schock ganz weiß geworden.«
»Und Sabrina hat noch nicht mal eine Karte geschrieben«, sagte ich.
Warren der Nachrichtenmann kickte einen Stein über die Kante. Es dauerte lange, ehe wir ihn unten aufkommen hörten. Er sagte: »Sie hat ihn von der Klippe gestoßen.«
»Das müßtest du beweisen«, sagte ich.
»Der Rückfall hat Thomas einfach kaputt gemacht. Der Wille, wieder gehen zu können, war der Grund, warum er überhaupt morgens aufwachte. Er dachte, er könnte Sabrina vielleicht zurückerobern, wenn er wieder auf den Beinen war. Ich wußte, daß sie in New York irgendein großes Tier geworden war, aber Thomas’ Mutter hat ihn isoliert, und hi-a oben ist es verdammt einfach, isoliert zu werden.« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Kurz bevor er starb, erzählte er mir, was mit Sabrina passiert war. Sie war ja auch ziemlich behütet von ihrer Mutter, Patricia, die dauernd mit im Sender war und Sabrina immer beobachtete, als hätte sie Angst, daß irgendjemand Sabrina etwas an tun könnte. Die Wahrheit war, daß sich sowieso niemand an sie herangetraut hat. Sie hat die arme Mrs. Ellery in Angst und Schrecken versetzt. Niemand außer Thomas, äh-ja.«
Er trat etwas Erde hinunter. »Sabrina und Thomas sind hi-a hochgefahren, um eine Panoramaaufnahme vom Appalachian Trail zu machen.« Warren wies mit seinem Arm zum Horizont. »Schöne Aussicht, nicht wahr?«
»Ist mir schon aufgefallen.«
»Sie standen am Rande der Klippe, so wie wir jetzt auch. Er legte die Kamera ab und nahm sie in die Arme. Anstelle eines Ringes gab Thomas ihr den silbernen Anhänger, den sein Vater aus dem Zweiten Weltkrieg mitgebracht hatte. Er bat sie, seine Frau zu werden. Sie wurde ganz still und ruhig, hat er mir erzählt, und stieß ihn dann mit beiden Händen gegen den Brustkorb, so fest sie nur konnte. Sabrina war nie ein zierliches Mädchen. Wenn sie zustieß, hatte das wahre Schubkraft. Er sagte, er würde sie immer noch lieben, obwohl sie ihn verlassen hätte und obwohl sie ihn in den Abgrund gestoßen hatte. Das ist eine Liebe, die ich nie verstehen werde. Ich dachte immer, dieser Silberanhänger sei da unten im Geröll verlorengegangen. Anscheinend doch nicht.«
»Sabrina hat ihn«, sagte ich.
»Du hast doch gesagt, du hast ihn.«
»Ich vermute, ich fühle mich jetzt wie ein Arsch, daß ich gelogen habe.«
»Ich wollte ihn an Thomas’ Mutter schicken.«
»Ich schicke ihn dir«, versprach ich.
»Lügna-in.«
Ich schaute auf die Uhr. »Ich fahre dich beim Sender vorbei.«
Er stieg ins Auto. Er sprach kein einziges Wort mehr mit mir. Schließlich fuhren wir in den Parkplatz von WNER ein — New England Rules gab das Anagramm für die Senderkennung her. Er stieg aus. Ich kurbelte mein Fenster runter und sagte: »Es tut mir leid.« Und es tat mir auch leid, daß ich den Anhänger nicht gestohlen hatte, als die Chance dazu bestand.
Warren sagte nicht mal mehr auf Wiedersehen, ehe er im Gebäude des Senders verschwand. Ich fuhr noch tanken, kaufte mir etwas zu essen bei Dan and Witts und machte mich auf den Rückweg nach New York. Uhrencheck: zwanzig Minuten nach zwölf.
Ich bekam ein Strafmandat über dreihundert Dollar in Connecticut. Ich fuhr achtzig Meilen die Stunde statt der vorgeschriebenen fünfundfünzig. Das würde ich Sinclair Singer auf die Rechnung setzen. Trotzdem schaffte ich es, um fünf Minuten nach fünf auf das Gelände des polizeilich bestellten Auktionators zu rollen. Ralph hatte einige graue Haare mehr bekommen. Es stand ihm gut, er sah sehr distinguiert aus.
Auf der Atlantic Avenue stieg ich in die U-Bahn. Party Girls ging in drei Stunden live auf Sendung. Ich nahm die Subway D in die Forty-second Street und machte mich von dort schleunigst auf in mein Büro. Ich fragte mich, wieso Patty zugelassen hatte, daß Sabrina mich anheuerte, vor allem, wenn Warren das Landei die Wahrheit sagte. Ich sah auch keinen Grund, warum er lügen sollte. Das gleiche galt für Buster. Lola hatte sich wohl auch nicht zu sehr anstrengen müssen, Sabrina davon zu überzeugen, daß sie mich anrufen sollte. Wollte sie etwa, daß diese Fragen in bezug auf ihre Vergangenheit endlich auftauchten?
Ich nahm den Aufzug hoch zu Do It Right. Ich schloß die Bürotür auf. Das letzte, woran ich mich später erinnern konnte, war der Schatten eines Totschlägers, der sich wie eine Sonnenbrille über mein Hirn legte.