Das allwissende Auge

Mrs. Fellutis Augen waren schwarz wie ein Loch und so tief wie meine Taschen. Wahrscheinlich sogar ein gutes Stück tiefer. Sie machte nun einen Schritt zurück — ungefähr fünf Zentimeter.

»Ich bin hier, um Ihnen guten Willen zu demonstrieren, Madam«, sagte Buster. »Aber vielleicht war das eine schlechte Idee, und ich sollte lieber wieder gehen.« Mrs. Felluti blickte auf Buster hinab. Über ihre Schulter hinweg war eine zwei Meter große Marmorstatue der Jungfrau Maria zu sehen. Von ihren gemeißelten Gesichtszügen wurde Licht aus einer rätselhaften Quelle reflektiert. Es sah aus, als könne sie im Dunkeln leuchten.

»Ihrem Vater ist das alles vollkommen egal, und das wissen Sie auch«, entgegnete Mrs. Felluti. Sie wandte sich zu mir. »Und was haben Sie hier zu suchen? Derselbe Scheiß? Wenn Sie die Worte Aufrichtigkeit, Mitleid oder Tragödie benutzen, belege ich Sie mit einem Fluch.«

Die Stegreif-Ansprache, die ich mir eben noch mühevoll zurechtgelegt hatte, beinhaltete alle diese Begriffe.

Ich beschloß also, es sein zu lassen und blickte verlegen weg. Die Kapelle füllte sich langsam mit Menschen. Sehr viele Gesichter sahen nach Verwandtschaft aus. Mrs. Felluti hatte bei der Pressekonferenz erwähnt, daß Tony zehn Geschwister hatte. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß der Typ im dunkelblauen Anzug, der vor dem Sarg stand, sein Bruder war. Seine Hand ruhte auf der Schulter eines kleinen Jungen, ungefähr fünfjährig, der sehr gut Tonys Neffe sein konnte. Ich habe keine Neffen. Dazu braucht man selber Geschwister.

Buster stieß mich ans Bein. Ich beugte mich vor. Er flüsterte: »Das ist jetzt alles etwas peinlich, nicht wahr.« Mrs. Felluti blockierte uns auf dem einzigen Gang, den es in dem Raum gab. Hinter ihr stauten sich die Trauergäste. Ich versuchte, Busters Rollstuhl zum Ausgang zu lenken, aber das stellte sich als unmöglich heraus. Mrs. Felluti starrte uns an und schüttelte den Kopf. Es schien, als bedauere sie uns auf dieselbe Art, wie man Fliegen bemitleidet, die an einem Klebestreifen hängen. Buster stupste mich noch einmal am Bein. Ich beugte mich noch einmal vor, und dieses Mal flüsterte er: »Diese Frau wird gleich aus ihrem Kleid platzen.« Er zeigte es mir diskret.

Und da war er, genau auf Busters Augenhöhe, ein winziger Riß in der Kreation aus schwarzen Spitzen, die Mrs. Felluti trug. Es war klar, daß er in Kürze breiter werden würde, um schließlich aufzuplatzen.

Ich sagte zu Mrs. Felluti: »Schauen Sie mal Ihr Kleid an, gute Frau.«

Sie blickte an sich hinab. Ihre olivenfarbene Gesichtsfarbe wechselte zu einem warmen Aubergineton. Dann eilte Mrs. Felluti mit unglaublicher Geschwindigkeit den Gang hinunter. Ich schob Busters Rollstuhl hinter ihr her und machte so den Weg zum Sarg für die wartenden Trauergäste frei. Tonys Mutter sauste auf die Tür am hinteren Ende des Raumes zu, an der Jungfrau Maria und dem gruseligen Typen vorbei, der neben ihr stand. Mrs. Felluti verschwand durch den Hinterausgang.

Ich warf noch einmal einen kurzen Blick auf Tony, während ich Buster hinter Mrs. Felluti herrollte. Da lag er in weißen Satinkissen und Rosenblättern. Er sah nicht mehr so aus wie in der Sendung. Sein Make-up war teigig und dick. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich einen ganz dünnen Riß entlang seinem Wangenknochen, der von einem Blasen werfenden, gummiartigen Klebstoff gehalten wurde. Der Riß verschwand unter der Perücke, die aus jener fernen Vergangenheit stammte, in der Koteletten noch Mode waren. Vielleicht verbargen die Koteletten auch nur einen weiteren Bruch in der Knochenstruktur.

Tonys Augen waren geschlossen, seine Lippen aber leicht geöffnet, als ob er einen Kuß erwarte. Ich streckte die Hand aus und kniff seine Lippen wieder zu. Tony hatte die Temperatur von halb aufgetautem Fleisch. An meinen Fingerspitzen blieb etwas rosa Puder kleben. Ich spürte, wie ein Grausen meine Wirbelsäule emporkletterte. Der Leichenbestatter trat zu mir vor und fragte, ob es ein Problem gäbe, bei dem er mir behilflich sein könnte.

Ich schob den Rollstuhl auf die hintere Tür zu. Der Leichenbestatter versuchte nicht, mich aufzuhalten. Buster sagte: »Dieser arme, arme Junge. Und seine arme Mutter.«

»Sie mag dich nicht besonders.«

Buster sagte: »Die meisten Menschen mögen mich schließlich doch, nachdem sie den ersten Schock überwunden haben.«

»Den ersten Schock, den ihnen dein eher sarkastischer Humor einjagt?« fragte ich.

»Ich meinte eigentlich mein unglaublich gutes Aussehen«, erwiderte er drollig. Dafür, daß er einer der Mordverdächtigen war, war Buster Singer wirklich ein toller Typ. Meine Kundin, Sabrina, würde es wahrscheinlich nicht besonders mögen, daß ich soviel wertvolle Zeit mit ihrem möglichen Vergewaltiger verbrachte. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Meistens halte ich, wie gesagt, eher zu der Frau. Ich beschloß diesmal, mich an Buster zu halten, um mit ihm auf dem laufenden zu bleiben. Sozusagen.

Mrs. Felluti stand ganz still und wie benebelt in einem abgeteilten Raum gleich hinter dem Trauersaal. Es war ein großer offener Raum, ähnlich dem Ausstellungsraum eines Autohändlers. Särge waren in ordentlichen Reihen aufgestellt, und auf ihren Seiten waren die Preisschilder mit genauen Angaben zur Ausstattung aufgeklebt. Die billigeren — ohne Sonderausrüstung — waren schlichte naturbelassene Holzkisten.

Die teureren Modelle hatten Preisschilder, deren Beträge bis zu zehntausend Dollar gingen. Sie verfügten über jasminduftende Seidenkissen, vergoldete Sargträgerstäbe, Elfenbeinintarsien und echten asiatischen Lack als Außenhülle. Für einen Sarg war das Innenfutter aus echten Daunen hergestellt worden. Ich fragte mich, wie viele Gänse hatten sterben müssen, um das Innenleben eines Sarges für einen toten Menschen abzugeben. Ich tätschelte die samtweichen Kissen. Meine Hand verschwand in den weichen Ausbuchtungen. Ich mußte schon zugeben, für einen Sarg sah die ganze Chose gewaltig einladend aus.

Entlang der gegenüberliegenden Wand war eine Ausstellung, bei der man die verschiedenen Stadien des Sargbaus bewundern konnte. Die Plakette an ihrem Anfang lautete: »Vom Wald zur Erde — wir stellen echte Kiefernsärge her.« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie irgendjemand, der sich eine Kiste kaufen wollte, wissen wollte, wo die Babysärge herkamen. Dann war es allerdings auch wiederum so, daß ich mich ja noch nie um den Kauf eines Sarges bemüht hatte. Vielleicht war ich einfach zu sehr abgelenkt, um so etwas in Angriff zu nehmen. Ich glaube, ich möchte lieber eingeäschert werden. Und dann lasse ich die Asche über den Times Square streuen. In Anbetracht der Seltenheit, mit der dort gefegt wird, würde ich wohl einige Zeit dort verbleiben.

Mrs. Felluti saß etwas wacklig und unsicher auf einem fleckigen weißen Sarg. Sie tupfte artig ihre Tränen mit einem schwarzen Taschentuch weg. Ihre Beine hingen wie die eines kleinen Mädchens über den Rand des Sarges. Der Riß in ihrem Kleid wurde langsam größer. Ein weiteres röchelndes Schluchzen würde ihn jedenfalls zum endgültigen Durchbruch bringen. Ich spürte eine Welle des Mitgefühls für sie und fragte mich, ob ich die Schwierigkeit dieser Situation wohl würde bewältigen können, um ihr einige Fragen über Tonys mögliche Verbindung zur Mafia zu stellen.

»Wir hätten nicht hierher kommen sollen,« sagte ich, drehte Buster um und tat so, als wolle ich den Ausstellungsraum wieder verlassen.

»Warten Sie«, schluchzte Mrs. Felluti. »Lassen Sie mich bitte nicht allein.«

Ich drehte mich vorsichtig zu ihr um. Sie streckte ihre Arme nach mir aus und wollte umarmt werden. Ich konnte es nicht, das konnte ich nun wirklich nicht, aber ich ging immerhin auf sie zu und hielt ihr meine Hand entgegen. »Mrs. Felluti, mein Name ist Wanda Mallory.« Sie schüttelte meine Hand und riß mich dann gewaltsam in eine mächtige Umarmung hinein. Sie schwankte langsam hin und her. Ihre Brüste waren warm und weich. Ihr Atem ging langsam und tief. Ich konnte fühlen, wie sich ihre Lungen gegen meinen Brustkorb aufblähten und wieder leerten. Ihre Wange war naß. Ich ließ es zu, daß ich sie zurückumarmte. Es muß schrecklich sein, ein Kind zu verlieren, dachte ich. Ich fragte mich, ob meine Eltern in Florida jemals Angst gehabt hatten, mich zu verlieren. Ich hielt sie noch fester. Ich hörte, wie Mrs. Fellutis Naht jetzt endgültig aufgab, aber vielleicht war das auch etwas anderes gewesen.

»Und ich werde nicht umarmt?« fragte Buster aus seinem >Schoß des Luxus< heraus.

Dadurch wurde der Bann gebrochen. Ich trat zurück und sah Mrs. Felluti als das, was sie wirklich war — eine fremde Frau mit einem Problem. Und ich meine damit nicht den Riß in ihrem Kleid. Anscheinend hatte sie jegliches Bewußtsein für diese klaffende Kleiderwunde verloren.

Ich sagte: »Ich arbeite für gewisse Parteien, die daran interessiert sind, bestimmte relevante Informationen eher merkwürdigen Inhalts zu erhalten.«

»Sie meinen Sabrina Delorean?« fragte sie. Ich fragte mich, wie sie das nur hatte erraten können. »Ein Junge stirbt zu ihren Füßen, und sie tut nichts. Schickt noch nicht mal eine Karte, wo doch der Schuß ihr gegolten hat. Das weiß sie auch.« Sie zeigte mit ihrem Taschentuch auf Busters Bein. »Und das hat sie Ihnen auch angetan.«

»Woher wissen Sie denn das?« fragte er.

»Und mit der arbeiten Sie auch noch zusammen?« fragte sie mich. »Besorgen Sie sich lieber ein paar neue Freunde.«

»Wir sind nicht befreundet«, korrigierte ich sie. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen über Ihren Sohn stellen.«

Mrs. Felluti entdeckte plötzlich wieder den Riß in ihrem Kleid. Nachdem sie jedoch festgestellt hatte, daß sie daran nichts mehr ausrichten konnte, lehnte sie sich auf dem Sarg zurück. »Meine Schwiegertochter — sie ist Kräuterheilkundlerin — hat mir etwas gegeben, um meine Nerven zu beruhigen.«

»Sie sind nicht zufällig Raucherin?« fragte ich hoffnungsfroh.

»Tiparillos«, sagte sie. »Tony hat es gehaßt, wenn ich geraucht habe«, erinnerte sie sich dann und fing schon wieder an zu schluchzen.

Das hier half mir nicht weiter. Meine Füße wurden langsam müde, also setzte ich mich oben auf die schwarzlackierte Sonderausführung mit den vergoldeten Sargträgerstäben, wobei ich die Gelegenheit wahrnahm, die schönen Satinkissen zu streicheln. »Ihr Sohn wußte von dem Mord, ehe er passierte, Mrs. Felluti.« Ich versuchte, das verdächtig klingen zu lassen, was es ja auch war.

»Er hat mir gesagt, er würde mir das nicht glauben«, keuchte sie hervor.

»Er würde Ihnen was nicht glauben?« fragte ich.

»Daß etwas Schlimmes passieren würde«, sagte sie. »Ich habe es im allwissenden Auge gesehen.«

»Von der Zeitung habe ich ja noch nie gehört«, sagte Buster.

»Es ist keine Zeitung. Es ist ein gläserner Augapfel, sechzig Zentimeter im Durchmesser, der mir die Dinge zeigt. Und glauben Sie bloß nicht, Sie wären der erste Zyniker, der mir begegnet.«

»Ich glaube daran«, sagte ich. Das meinte ich ernst. Ich habe schon einige parapsychische Erfahrungen gemacht, auf die ich damals besser hätte achten sollen. Zum Beispiel als ich träumte, ein wildgewordener Rasenmäherwürde meine Ohren abschneiden. Am nächsten Nachmittag wurde mir die schrecklichste Frisur meines Lebens verpaßt.

»Ich glaube, das ist Quatsch«, meinte Buster. »Ehrlich. Als nächstes werden Sie mir noch erzählen, Sie wären eine Hexe und könnten mein Bein wieder nachwachsen lassen.« Buster beobachtete sie genau — vielleicht hoffte er, daß sie jetzt sagen würde, jawohl, sie könne genau das tun, wenn sie nur wollte.

»Es ist mir scheißegal, ob Sie daran glauben oder nicht«, sagte sie statt dessen. »Aber von all den Leuten, die etwas von Schmerz verstehen, hätte ich gedacht, daß Sie einen etwas weiteren Horizont hätten, trotz des Einflusses Ihres Vaters.« Mrs. Felluti hielt einen Moment inne, um sich gerade auf den Sarg zu setzen. Man konnte mittlerweile die Haut ihres Bauches sehen. Sie war olivenfarben und glatt. Ihre Haare hatten sich aus der Klammer freigekämpft und hingen lang und glänzend über ihre Schultern herab. Als sie noch jünger war, muß sie zum Anbeißen gewesen sein. Nach elf Kindern hätte man immerhin noch ein Knabbern wagen können. »Und Sie werden auch schon bald genug dran glauben, junger Mann. Wenn Ihr Vater die ersten Symptome des Fluches zeigt, mit dem ich ihn belegt habe.«

»Wenn meinem Vater irgend etwas passiert«, drohte ihr Buster, »dann, dann — dann werde ich Sie mit meinem Rollstuhl überfahren.«

Mrs. Felluti brach tatsächlich in helles Gelächter aus. »Na, da schlottere ich ja geradezu vor Angst«, sagte sie.

»Laß das, Buster.« Das war ich. »Er ist nur so unhöflich, weil er innerlich sehr verletzt ist«, erklärte ich und hoffte, daß Mrs. Felluti uns nicht hinauswerfen würde.

Sie blickte mich fest an und seufzte dann tief auf. Ihr Brustkorb hob sich, aber die restliche Naht hielt immer noch. »Sie sind hergekommen, weil Sie Antworten haben wollen. Ich weiß, daß Sie den Menschen suchen, der meinen Sohn umgebracht hat, auch wenn Sie für diese Sabrinatucke arbeiten. Ich helfe Ihnen, allerdings unter einer Bedingung.«

»Als da wäre?« Ich konnte ja immer noch einen Rückzieher machen.

»Sobald der Mörder gefunden ist, sagen Sie mir seinen Namen.« Ich nickte. Daran konnte ich nichts Schlimmes finden.

Mrs. Felluti fing langsam an. »Ich will Ihnen erklären, wer ich bin — und auch, wer Tony ist«, sagte sie. »Meine Familie ist vor ungefähr hundert Jahren aus Albanien nach Amerika gekommen. Wir haben immer in Brooklyn gewohnt, praktisch hier in der unmittelbaren Nachbarschaft. Das war damals sehr weit weg von der Stadt — Zigeuner wurden in den vornehmeren Vierteln nicht so gern gesehen.«

»Zigeuner!« rief Buster aus, als hätte sie >Leprakranke< gesagt.

»Wir haben uns hier niedergelassen. Wir sind jetzt domestizierte Zigeuner.«

»Das heißt doch nur, daß Sie die Leute beklauen, deren Häuser Sie putzen!« stieß Buster zu.

Mrs. Fellutis Augen blitzten wütend. Sie flocht ihre Finger ordentlich ineinander. Ich hoffte, sie würde Buster mit einem Höflichkeitsfluch belegen. Statt dessen sagte sie: »Ich gehe davon aus, daß Sie den Rest Ihres Lebens mit einer ähnlichen Art von Vorurteil werden zurechtkommen müssen.« Touché, Mrs. Felluti. »Wenn ich domestiziert sage, dann meine ich, daß wir uns an einem Ort niedergelassen haben. Wir ziehen nicht mehr umher. Ich habe das nie getan, aber ich kenne die Familiengeschichten. Und ich weiß, wie die Beschwörungsformeln lauten. Ich bin ein bißchen durcheinander, was die Sprache angeht, aber die brauche ich ja sowieso nicht. Das ist wie mit Algebra.«

»Jawoll!« sagte ich. »Genau das habe ich neulich meinem Freund auch gesagt.«

»Die Hellseherei ist im Grunde eine Art Erbe von meinen Ahnen. Ich habe erst spät im Leben Stimmen gehört und Dinge gesehen, nachdem ich alle meine Kinder bekommen habe. Ich hätte nie gedacht, daß das passieren könnte. Gut, daß ich das allwissende Auge nie weggeworfen habe. Jetzt sehe ich jeden Tag Dinge, nach ein paar Schlucken Jack Daniels. Ich weiß nicht immer, was die Botschaften besagen, aber manchmal will ich das auch gar nicht so genau wissen. Meine Großmutter hat auch das allwissende Auge benutzt. Und deren Großmutter auch. Die Fähigkeit wird von Generation zu Generation weitergegeben, und zwar nur durch die Frauen. Ich verdiene mein Geld damit, daß ich das Auge für Kunden lese. Sind Sie auch daran interessiert?« Buster und ich schüttelten beide den Kopf. »Merken Sie sich die Sache trotzdem. Ich betreue ein paar ganz schön wichtige Leute in der Stadt. Tony hat mir nie geglaubt. Er dachte, ich wäre verrückt geworden. Aber wir haben auch nie wirklich darüber gesprochen. Wir haben nur getanzt.«

Ich verlagerte mein Gewicht auf dem Sarg, auf dem es langsam ungemütlich wurde.

»Er tanzte jeden Sonntag nachmittag mit mir, anstatt mit den anderen ins Kino zu gehen. Tony tanzte unheimlich gerne die alten Volkstänze. Mein Mann sagte immer, ich solle Tony in Frieden lassen — ihn nach draußen gehen lassen mit den anderen Kindern. Aber Tony wollte gar nicht gehen. Er wollte bei mir bleiben. Nun ist er tot, und ich habe niemanden mehr, mit dem ich tanzen kann.« Ihre Stimme wurde rauh. Ich stellte mir Sandra und Eric vor, die im Club Buff den Tony machten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Mrs. Felluti so umherhopste und dabei juchzte.

»Ich muß hier jetzt raus«, sagte sie und rutschte von dem weißlackierten Sarg herunter. »Sagen Sie den Leuten, sagen Sie, daß mein Kleid gerissen ist, daß ich nach Hause gegangen bin, um mich umzuziehen.« Mit diesen Worten schlich Mrs. Felluti aus dem Hintereingang. Buster und ich beobachteten, wie ihr kompakter, aber wendiger Körper durch die Tür huschte. Ich fühlte mich durcheinander und ein bißchen über den Tisch gezogen. Ich ergriff den Rollstuhl und schob ihn wieder in den Hauptraum hinaus.

Ich war gerade durch die Tür gekommen, als ich Sherri Tigre sah. Die Sendemieze von Party Girls kniete vor dem Sarg und betete mit flach zusammengepreßten Händen. Ihre Lippen zitterten sehr hübsch. Sie trug einen schwarzen Schleier, der genau bis unter ihre Stupsnase hing. Ihr enges Strickkleid hatte vorne einen gefährlichen Ausschnitt. Wenn es rosa gewesen wäre, hätte sie das Ding gut zum Badeanzug umfunktionieren können. Ich konnte ihre Schuhe von dort aus, wo ich stand, nicht sehen. Der Leichenbestatter hatte sich von seinem Posten neben der Jungfrau Maria dichter an den Sarg heranbewegt. Er stand jetzt neben Tony und hatte seine Augen fest auf Sherris Busen gerichtet.

Ich rammte Busters Rollstuhl in den Rückwärtsgang. Ich vermute, daß ich ihn dadurch etwas gerüttelt habe. Er beklagte sich jedenfalls sofort: »Hör mal, ich habe schließlich einen Kater.« Unbemerkt glitt ich mit ihm wieder hinter die Tür. Ich ließ sie einen Spalt offen und beobachtete Sherri. Sie machte eine große Show daraus, nicht existente Tränen von ihren Wangen zu wischen. Plötzlich ruckte sie äußerst photogen den Kopf empor, wie Bambis Mutter, wenn ein Zweig im Wald knackt. Instinktiv zuckte ich weiter zurück. Buster sagte: »Halt endlich an! Ich glaube, mir ist schlecht.«

»Halt den Mund«, flüsterte ich und beobachtete weiter. Ein junger, schwarzgekleideter Mann tippte Sherri auf die Schulter und bat sie, sich zu beeilen. Sie schien durcheinandergebracht zu sein, schenkte ihm aber dennoch ein hübsches Lächeln und stand auf. Ehe sie fortging, lehnte sie sich tief über den Sarg, wobei ihr der

Schleier wie durch magische Kraft gehalten dicht am Gesicht klebte. Sie spitzte die Lippen, während sie sich vornüber beugte. Ich konnte den eigentlichen Kuß nicht sehen — die Blumenarrangements versperrten mir die Sicht. Aber ausgehend von der Positionierung ihres Kopfes konnte ich sagen, daß sie sein Gesicht geküßt haben mußte. Ich vermutete, daß sie keinen Kuß auf seinen Mund plaziert hatte, aber während ich ihren Kopf beobachtete, brannte sich doch das Bild ihrer Lippen, die seinen toten Mund berührten, in mein Hirn ein. Ich bedachte die libidinösen Auswirkungen der Totenstarre. Es ist in allen fünfzig Staaten Amerikas illegal, Sex mit einer Leiche zu haben. In New York beschert einem der Beischlaf mit einem Toten zwanzig Jahre. Das habe ich bei einer Sendung des Discovery Channel gelernt.

Sherri kam langsam wieder nach oben. Sie fummelte an Tonys Kleidern herum, richtete sein Revers an der Jacke und rückte noch einmal an seinem Kragen. Ich konnte wieder ihr Gesicht sehen. Sie schnipste mit einem manikürten roten Fingernagel eine runde Träne von ihrer Wimperntusche. Ganz plötzlich blickte sie in meine Richtung, als hätte ich einen fahren lassen. Ich schloß schnell die Tür. Als mein Herz endlich wieder im normalen Rhythmus schlug, war sie schon weg.

Ich trat die Tür auf und rollte Buster mit hoher Geschwindigkeit wieder in den Raum hinein. Die Versuchung, ihr zu folgen, war sehr stark, aber ich mußte vorher Tony nach Lippenstiftspuren absuchen. Ich parkte an der Marienstatue. Ich vergewisserte mich, ob auch niemand zusah, und steckte dann so diskret wie möglich meine Hand in meine Handtasche, wo ich eine winzige Flasche Passion fand (ein Geschenk von Max). Ich öffnete sie und verteilte einige lila gefärbte Tropfen auf dem Gesicht der Jungfrau.

Ich rollte Buster noch einmal zum Sarg und drängelte mich vor die anderen. Der Mann, der Sherri eben auf die Schulter getippt hatte, kniete immer noch dort und betete. Ich simulierte Hysterie und fiel quer über Tonys brettsteifen Körper. Der Brustkorb gab nicht nach. Mit Ausnahme von Tony waren alle toten Leute, die ich in meinem erwachsenen Leben gesehen hatte, sozusagen frisch erledigt. Sie waren nicht aufpoliert und hochgepudert. Tony tat mir leid. Ich sagte ihm das. Es schien ihm nicht wichtig zu sein.

Ich machte weiter mit der Durchsuchung von Tonys Taschen. Kein Portemonnaie, keine Schlüssel. Da, wo er hinging, würde er wohl keinen Ausweis brauchen. Ich spürte schon wieder Nadeln auf meinem Rücken und merkte, daß die Leute mich anstarrten. Ich fühlte mich leicht benommen. Ich glaube nicht, daß das von Tonys Kopfklebstoff kam. Ich rückte etwas von der Leiche fort, um Luft zu holen.

In dem Moment sah ich die winzige Ecke Rosa, die aus Tonys Brusttasche hervorlugte. Ich mußte die Aufmerksamkeit der Leute ablenken. Also rief ich: »Oh mein Gott, seht mal da«, und deutete auf die Statue der Jungfrau Maria. Die Trauernden in der Warteschleife schauten hin. Ich schnappte mir das rosa Ding und ließ es in meine Manteltasche gleiten.

Auch der Leichenbestatter war hinübergegangen, um die Statue zu begutachten. »Muttergottes, sie weint!« verkündete er und hielt seinen Zeigefinger in die Höhe. An ihm glitzerte ein Tropfen Flüssigkeit, wenn auch etwas lila. »Ihre Tränen riechen himmlisch. Uns ist ein Wunder geschehen!« rief er aus und fiel auf die Knie. Das höfliche Flüstern im Raum explodierte plötzlich zu einem Aufruhr. »Es ist ein Wunder!« Die Menge lief auf die Statue zu. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mit Buster den nunmehr endlich freien Gang entlangzusausen.

Er sagte: »Das hat ja gewaltig Aufregung verursacht.«

»Ich weiß nicht, was daran nun so doll sein soll«, sagte ich. »Es gibt schließlich jede Menge weinende Jungfrauen in dieser Stadt.«

Taxis hingegen nicht, vor allem nicht an einem Sonntagmorgen in Bay Ridge. Leichenwagen, Cadillacs und Buicks waren alles, was ich im weiteren Umkreis um mich herum sah. Ich murmelte Flüche vor mich hin. Ich wollte mit meinem Indiz und meinen Gedanken endlich allein sein. Da bot Buster mir an, mich mitzunehmen.

Ich rollte ihn auf Simon zu, der auf uns wartete und dabei — eine Zigarette rauchte!

»Haben Sie noch eine für mich?«

»Tut mir leid, Verehrteste, aber die habe ich selber geschnorrt.« Ehe ich ihn fragen konnte, ob ich einmal daran ziehen dürfte, hatte er sie auf dem feuchten Bürgersteig von Brooklyn ausgetreten und kletterte auf den Fahrersitz. Er drückte auf dem Armaturenbrett ein paar Knöpfe, und das Auto öffnete sich wieder. Buster rollte die mechanische Planke empor. Ich stieg vorne ein. Der Chauffeur drückte ein paar andere Knöpfe, und das Auto schloß sich hermetisch. Ich gab Simon die Adresse von Do It Right, und ab ging’s.

Während wir durch die Gegend donnerten, warf ich einen verstohlenen Blick auf meinen Fund. Unschuldig in meine Manteltasche geschmiegt lag ein rosa Satintanga mit einer winzigen kleinen Schleife vorne drauf. Genau so einen hatte ich auch zu Hause.

Über Stock und über Stein, über die Brücke und durch den Tunnel lieferte Simon mich in weniger als fünfundzwanzig Minuten bei Do It Right ab. Ich sagte zu Buster, er solle sich von Sabrina fernhalten und daß man sich bald sähe. Ich war mir nicht sicher, was ich eigentlich sagen sollte oder was er von mir wollte. Ich hatte alles gehört, was er mir zu sagen hatte.

Als ich oben im Büro ankam, zog ich mich als allererstes um. Jeans und ein Wende-Sweatshirt von J. Crew, die ich in der untersten Schublade meines Schreibtisches aufbewahre, zusammen mit Tampons, einer Flasche Amaretto und einem Spritzflakon von Love’s Baby Soft. Ich bin, was meinen Duft angeht, seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht erwachsener geworden. Max hatte einmal versucht, mich aufzuwerten, indem er mir das Passion schenkte, aber ich denke immer, es kann ja nicht schaden, wie ein Teenager zu riechen. Wenn ich Chanel No. 5 trüge, würde ich wie meine eigene Großmutter riechen. Ich haute auf den Ansageschalter meines Anrufbeantworters. »Sie haben die Do It Right Detectives Agentur erreicht, die offizielle Nachforschungsagentur der Sommerolympiade. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und nehmen Sie eine Nummer.« Piep. Keine Nachrichten.

Ich dieselte mich ordentlich ein, während ich Sabrinas Nummer wählte. Ich mußte noch einiges überprüfen und zusehen, daß Alex mit mir zum Studio von Channel 6 fuhr, um einen gemütlichen Nachmittag damit zu verbringen, in fremde Büros einzudringen.

Das Telefon klingelte zweimal, ehe Patty aufhob. »Hallo, Delorean.«

»Hier ist Wanda.«

»Wanda, ich freue mich sehr, daß Sie anrufen. Ich habe eine Frage bezüglich Ihres Honorars.«

Diese Art von Fragen hasse ich. »Wir hatten uns auf fünfzehnhundert geeinigt.«

»Ja, aber heißt das, daß ich Alex gesondert bezahlen soll, oder ist das Geld für Sie beide gedacht, daß Sie es sich teilen?«

Ich konnte es ja mal versuchen. »Alex bekommt in der Regel auch fünfzehnhundert.«

»Dann fürchte ich, daß ich einen von Ihnen beiden entlassen muß«, sagte sie.

»Sie haben allerdings insofern Glück, als der November unser Doppel-Whopper-Monat ist, da gibt es zwei zum Preis von einem.«

»Das wiederum hatte Alex nicht erwähnt.«

»Geben Sie ihn mir doch mal, dann erinnere ich ihn daran.« Patty schaltete mich in die Warteschleife ein.

Nach ein paar Sekunden kam Alex dran. »Wanda. Wie ist es gelaufen?«

Ich beschloß, mich nicht auf eine detaillierte Schilderung einzulassen. Es konnte ja durchaus sein, daß Sabrina an einem zweiten Apparat zuhörte. Sie würde es nicht besonders schätzen, daß ich mich mit Buster so gut vertragen hatte. »Komm bitte in einer halben Stunde zum Channel 6.«

»Geht nicht.« Er wagte es, mir eine Absage zu erteilen? »Ich muß hierbleiben und Unsere Klientin bewachen. Geh mal ohne mich.«

»Ich brauche dich aber, um ein paar Schlösser aufzukriegen.« Alex ist der Einbruchspezialist unserer Firma. Er hat schon mehrfach versucht, mir das beizubringen, aber ich bin einfach ein zu mädchenhaftes Mädchen, um im Bereich technischer Details etwas zu leisten.

»Wo bist du gerade?« fragte er.

»Do It Right.«

»Das Werkzeug ist im Hängeregister unter D wie Dietriche untergebracht. Nimm es und arbeite damit. Ich komme hier nicht weg.« Er machte eine Pause. »Sabrina braucht mich jetzt.«

Das klang allerdings sehr merkwürdig. »Ist alles in Ordnung?« fragte ich. »Geht es Lola gut?«

»Es geht uns allen prima, Wanda. Sogar besser als das. Wir machen hier gerade Frühstück. Ich ruf dich später wieder an.« Er legte auf. Aber er weiß doch gar nicht, wo ich später sein werde, dachte ich, während ich den stummen Hörer in der Hand hielt. Patty stand ganz kurz davor, einen von uns beiden zu feuern — und so wie das eben geklungen hatte, würde dieser eine aller Voraussicht nach ich sein, egal ob ich zehn arabische Terroristen mit vergifteten Lippenstift-Pfeilen zur Strecke gebracht haben mochte oder nicht. Ich fragte mich, ob das wohl hieß, daß ich aus dem Rennen geworfen worden war. Vielleicht wußten sie, daß ich mich heute morgen mit Buster herumgetrieben hatte. Vielleicht war das alles Teil einer neuen Strategie, die Alex sich ausgedacht hatte und von der ich nichts wußte. Ich legte den Hörer auf und ging zum Ablageschrank, aus dem ich unsere Dietriche herausholte.

Allerdings führe immer noch ich diese Untersuchung durch, sagte ich mir trotzig. Ich fragte mich, was es wohl bei den Deloreans zum Frühstück gab. Ich ließ den

Bund Dietriche an einem Finger kreisen. Das Büro nebenan war an Sonntagen immer geschlossen. Ich habe schon des öfteren einen Teebeutel von dem netten Mädel nebenan ausgeliehen, die dort den Telefondienst macht. Sie raucht und ist außerdem ein Schokoladenjunkie. Ich fragte mich, ob sie wohl eines ihrer beiden Suchtmittel übers Wochenende in ihrer Schreibtischschublade hatte liegenlassen.

Eine Trockenübung konnte jedenfalls nichts schaden. Die Aufschrift auf der Tür der benachbarten Marketingfirma lautete GELD IM SCHLAF VERDIENEN. Es war eine sehr mobile Firma — die rauchende Empfangsdame hatte mir erzählt, daß sie alle paar Monate in ein neues Büro zogen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, warum. Ich ließ mich auf die Knie nieder. Ein inneres Beben vermittelte mir das Wissen, daß sich hinter der Tür große Schätze verbargen. Ich versuchte, mich zu erinnern, was Alex mir beigebracht hatte. Such den Schlüssel heraus, der zur Art des Schlosses paßt. Das Schloß sah aus wie alle anderen Schlösser auch. Scheiße, dachte ich. Ich kann noch nicht einmal erkennen, wie sich Schlösser voneinander unterscheiden. Also begann ich, die Dietriche in das Schloß zu stecken, einen nach dem anderen. Das Schloß muß von ziemlich mieser Qualität gewesen sein, denn es ließ sich öffnen, ohne daß ich überhaupt auch nur das geringste bißchen mit dem Metallgerät hatte herumfummeln müssen. Alex hatte mir gesagt, das müsse man, um eine genaue Freigabe des Zylinders zu bekommen — was auch immer das heißen mochte.

Die Tür ging also mit einem sanften Klicken auf. Selbst von meiner niedrigen Position aus konnte ich sofort eine Packung Zigaretten, die auf einem Glas voller Hershey’s Kisses lag, erkennen. Gleich ein doppelter Volltreffer. Ich bin ein Naturtalent, dachte ich, schon als Detektivin auf die Welt gekommen.

»Einbruch und unbefugtes Betreten bringen dreißig Jahre«, sagte jemand hinter mir, »aber ich habe immer große Freude daran, eine Frau auf den Knien zu sehen.«

»Schnauze, Schleimer«, sagte eine andere Stimme. »Steh auf, Schätzchen.« Die Stimme kannte ich.

Ich stand auf und drehte mich zu ihnen um. Die Detectives Dick O’Flanehey und Bucky Squirrely lehnten beide im Rahmen meiner Bürotür. Dick hatte wie immer einen Lakritzstab aus seinem Mund hängen, gleich unter dem Schnurrbart, der ihn aussehen ließ wie ein Kinobösewicht. Bucky pusselte mit einer Büroklammer in seinen Zähnen herum.

»Besitzt ihr Jungs eigentlich noch andere Klamotten? «Ich war ihnen schon so oft begegnet, aber ich hatte sie noch nie ohne ihre Polyesteranzüge gesehen. Die Zigaretten und Schokoladenbonbons kreischten förmlich meinen Namen. Ich fragte mich, ob die Bullen das auch hören konnten.

»Mach die Tür zu«, sagte Detective Dick. Er hatte es also gehört.

»Die Leute von dem Büro haben mich beauftragt, ihr Sicherheitssystem zu überprüfen«, log ich. »Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich habe hier zu arbeiten.« Ich machte einen Schritt auf Suzys Schreibtisch zu. Dick griff nach meinem Ellbogen und zerrte mich zurück in den Korridor. Bucky schloß die Tür mit dem GELD-VERDIENEN-Schild. Mein Herz weinte. Bucky zog das Bündel Dietriche aus dem Schloß.

»Ich gehe mal davon aus, daß du das hier gerne wiederhättest«, sagte er. »Tja, wirst du aber nicht wiederkriegen.« Fast erwartete ich, daß er zum Abschluß noch »ätschibätschi« sagen würde.

»Herrgottnochmal, gib ihr das zurück«, wies ihn Dick an, womit er uns beide zutiefst erstaunte. »Wir sind wegen etwas anderem hergekommen.« Was hatte ich denn noch zu bieten, außer Sherris Tanga und meinem außerordentlich hübschen Äußeren?

Ich führte die Jungs in mein Büro und setzte mich auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch. »Was macht euch nur glauben, daß ich euch irgend etwas geben könnte?«

»Du meinst, außer der Tatsache, daß wir dich dabei erwischt haben, wie du in das Büro deiner Nachbarn eingebrochen bist?« fragte Bucky.

»Das habe ich euch doch schon erklärt — die haben mich damit beauftragt, ihre Sicherheit zu überprüfen.«

»Spar dir das«, schlug Dick vor. »Ich fange jetzt mal von vorne an. Und keine Lügen mehr, verstanden?« Ich klimperte mit den Augenlidern, als verstünde ich nicht. »Du verstehst das ganz prima. Ich weiß, daß du dich mit der Schießerei auf dem Set von Party Girls beschäftigst — und wie du es immer schaffst, an solch interessante Fälle heranzukommen, wird nie aufhören, mich in tiefes Erstaunen zu versetzen. Wir bekommen aber darüber hinaus jede Menge Druck, einen Mordfall aufzuklären, der am Times Square am frühen Freitag abend stattgefunden hat. Wir haben gerade einen Stadtstreicher festgenommen, weil er auf den Bürgersteig gepißt hat, und er sagte uns, er würde uns den Mörder beschreiben, wenn wir ihn laufen lassen. Er sagt, er sei dabei gewesen und hätte die ganze Sache gesehen. Wir haben noch einen anderen Zeugen, der die Geschichte wieder anders erzählt. Wem sollen wir also glauben, einem pickeligen Teenager oder einem Obdachlosen, der immer nur Pech gehabt hat, seitdem er seine Flasche Rosenwasser auf dem Bürgersteig ausgegossen hat? In einem stimmen beide Zeugen überein: Der Mörder ist mit ungefähr fünf Kilo einer verbotenen Substanz, nämlich einem Bündel Khat, verduftet. Wir wollen den Mörder, und wir wollen dieses Khat.«

Das Khat — das war mir völlig entfallen. Und ich hatte diesem Obdachlosen auch noch fünf im Schweiße meines Angesichts verdiente Dollar gegeben, damit er den Mund hielt. Ich versuchte nachzudenken — wo hatte ich das Zeug eigentlich verstaut? Ich ließ meinen Laserblick durch das Büro streifen und hoffte dabei inständig, mein Gesicht würde mich nicht verraten. Wenn ich noch Raucherin wäre, dann würde ich genau jetzt die Hand nach einer Zigarette ausstrecken, dachte ich. Ich verfluchte mein ödes Nichtraucherinnenleben. Ich legte meine Hände übereinander, und was soll’s, ich kreuzte auch die Beine unter dem Schreibtisch. Mein Fuß stieß auf Widerstand. Die Erinnerung traf mich wie eine Ohrfeige. Ich hatte das Khat zur Fußablage umfunktioniert. Wenn die Bullen nach unten blickten, würden sie den Ballen sehen. Mein Hirn raste wild, um eine Methode zu ersinnen, wie ich das verbergen könnte. Ich könnte natürlich ehrlich sein und Dick und Bucky erzählen, was an dem Abend wirklich passiert war — was der Obdachlose nicht tun würde, weil er dann wegen der Pisserei sitzen müßte. Aber selbst wenn die Bullen mir das alles glaubten, hatte ich immer noch zehn Pfund eines verbotenen Betäubungsmittels in meinem Büro herumliegen.

»Meint ihr diesen großen, haarigen, hundertfünfzig Kilo schweren Transvestiten?« fragte ich und riß die Augen weit auf. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich noch einmal über diese Beschreibung freuen würde.

»Der Penner sagt, es wäre eine weiße weibliche Person gewesen — rotes Haar, ein bißchen dicklich.« Dicklich, dachte ich voller Wut. Ich atmete tief durch. Dick und Bucky beobachteten mich genau, immer auf der Hut, wie ich reagierte. Ich mußte unbedingt ihre Blicke oben halten.

Ich stand auf. »Und was wollt Ihr nun von mir?« fragte ich, während ich um meinen Schreibtisch herumging.

»Informationen«, sagte Dick. »Du kennst doch die Gegend hier. Der Berber sagte, diese Mörderin hätte sich eindeutig prima am Times Square ausgekannt. Er sagt, sie hätte versucht, ihn mit fünf popligen Dollar zu bestechen. Kannst du dir vorstellen, einen Mord mit einem Bestechungsgeld von fünf Dollar vertuschen zu wollen? Ich bin der geizigste Arsch bei der ganzen Polizei, und selbst ich hätte da zwanzig abgelatzt.«

»Zahlst du das sonst immer?« fragte ich.

»Halt den Mund, Mallory, oder wir sacken dich ein«, warnte Bucky.

»Der Penner sagt, der Tote sei ungefähr eins achtzig groß gewesen, mit braunen Haaren und dünnen Beinen«, sagte Dick. Er blickte sich lässig im Büro um. Mein Herz klopfte wild. »Wo steckt eigentlich die Bohnenstange in letzter Zeit?«

»Alex arbeitet ebenfalls am Party Girls-Fall.« Die konnten doch nicht im Ernst glauben, daß Alex das Opfer gewesen war! »Ich im übrigen auch. So sehr ich euren Besuch zu schätzen weiß, würde ich doch lieber schmutzige Socken kauen. Wenn ihr also nichts dagegen habt«, sagte ich und wies ihnen die Tür.

»Wir haben was dagegen, Mallory, und wenn du glaubst, daß wir dir nicht auf die Schliche kommen, dann bist du nicht so schlau, wie du aussiehst. Ich meine, dann bist du dümmer, als du aussiehst. Ich meine, du bist schlau, siehst aber dumm aus.« Das war Bucky. Er träumte davon, einmal in seinem Leben ein richtig tougher Bulle zu sein.

»Man hat mir tatsächlich schon des öfteren bestätigt, daß ich wie eine Intelligenzbestie aussehe.« In Wirklichkeit hatten sie »Busenweib« gesagt.

»Der andere Zeuge ist ein Knabe aus Uptown«, sagte Dick. »Sein Vater ist ein reicher Typ, der zufälligerweise ein guter Freund des Bürgermeisters ist. Und der Bürgermeister hat meine Eier in der Zange.« Ein grausiges Bild.

»Als ob mich das interessieren würde«, sagte ich.

Dick knabberte an seinem Lakritz. Er sagte: »Es wird dich schon noch interessieren, wenn demnächst dein Hintern schmort. Und für den werden wir wahrscheinlich gleich mehrere Zangen brauchen.«

Nachdem sie mir diese eher unerfreuliche Aussicht bereitet hatten, gingen sie von dannen. Ich knallte die Tür hinter ihnen zu und sehnte mich wie nie zuvor nach einer Zigarette. Ich stopfte das Khat in meine Tasche. Es paßte kaum hinein. Ich mußte dieses Zeug dringend loswerden. Und dann würde ich Mrs. Savage anrufen und ihr mitteilen, daß das Spiel aus war. Ich rauschte ebenfalls von dannen.

Die Sicherheitsmaßnahmen im Channel 6 waren erstaunlich lax. Der Wachposten reichte mir eine Liste, in die ich mich eintragen sollte. Nach einem kurzen Blick über das Blatt kritzelte ich Sherri Tigres Namen. Der Wachmann überprüfte in seinem Computer den Namen, stellte fest, daß Sherri Tigre in diesem Gebäude arbeitete und winkte mich durch.

Ich stieg im dritten Stock aus dem Aufzug, wo sich das Set von Party Girls und die Garderoben befanden. Kurz vorher checkte ich noch einmal im Aschenbecher, ob es da Kippen gäbe. Da ich keine fand, machte ich mich auf den Weg zu den Garderoben. Als ich um eine Ecke bog, knallte ich in den warmen, weichen Körper von Marnie O’Shea.

Wir fielen beide auf unseren jeweiligen Hintern. Sie hatte einen riesigen Haufen Papiere getragen, die jetzt in alle Richtungen flogen. Marnie trug mal wieder einen Overall, diesmal eine kobaltblaue Kreation, die auf der Vorderseite mit glitzernden Knöpfen verziert war. Ihre Hosenbeine steckten ordentlich in den weißen Cowboystiefeln. Der Hut war ihr vom Kopf gerutscht, aber das Band hielt ihn fest und schnitt in das weiche Fleisch ihres Halses. Ich stand auf, half ihr, die Papiere wieder einzusammeln, und entschuldigte mich vielmals für diesen Zusammenprall.

»Es ist alles meine Schuld«, wehrte sie ab. Ich beließ sie gerne in dem Glauben.

»Was führt Sie denn an einem Sonntag hierher?« fragte ich.

»Ich arbeite immer sonntags.«

»Ich habe Ihren Namen doch gar nicht auf der Liste gesehen?«

»Und warum haben Sie sich die angesehen?« fragte

sie.

»Einfach ein Routine-Sicherheitscheck.«

»Wie Sie das immer für den CIA gemacht haben«, sagte sie. Ich konnte nicht genau erkennen, ob sie einen Witz machen wollte oder das ernst meinte.

»Ich habe nie für den CIA gearbeitet, Marnie«, sagte ich. Ihre Augen weiteten sich hinter der großen rosa Brille. »Ich habe für Interpol und das FBI gearbeitet.«

Sie schien davon beeindruckt zu sein. »Komisch«, sagte sie. »Keine dieser beiden Organisationen hat Ihren Namen als Mitarbeiterin gespeichert.« Also hatte Marnie mich überprüft. Ich hoffte, sie hatte das Singer nicht erzählt.

»Natürlich haben die das nicht, Marnie. Wie geheim würde denn eine Geheimpolizei sein, wenn alle Leute wüßten, wer für sie arbeitet? Das geht doch nicht.«

Marnie sammelte ihre Papiere auf und drückte sie an die reichlich vorhandene Brust. »Ich habe nur getan, worum mich Mr. Singer gebeten hat. Es tut mir leid. Ich hätte mir gar nicht erst die Mühe machen sollen, das zu überprüfen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Es ist alles meine Schuld.«

»Haben Sie jemals überlegt, eine Therapie zur Stärkung Ihres Selbstwertgefühls zu machen, Marnie?« fragte ich sie.

»Ich weiß, ich bin einfach lächerlich. Seit sechs Monaten arbeite ich schon hier, und ich fühle mich immer noch so ungenügend.« Sie wirkte deprimiert. Es tat mir leid, daß ich überhaupt etwas gesagt hatte.

»Marnie, Sie sind eine erwachsene Frau. Wahrscheinlich haben Sie eine Familie.«

Sie blickte etwas vernebelt drein. »Ich habe einen Sohn«, sagte sie.

»Sie haben ein erfülltes Leben. Ein Ausflug oder zwei zu Bloomingdale’s, und es wird Ihnen wieder prima gehen«, sagte ich.

»Meinen Sie?« fragte sie und lächelte.

»Ganz sicher.« Ich lächelte zurück. Langsam wurde es mir ungemütlich. »Ich werde jetzt mal meinen Check hier weitermachen, okay?«

»Ich wollte auch gerade gehen«, sagte sie. »Schönen Tag noch.« Wir winkten uns gegenseitig auf Wiedersehen, und dann verschwand sie hinter den sich schließenden Türen des Aufzugs. Ich atmete erleichtert auf. Marnie erinnerte mich an Max’ Mutter. Diese besondere Spezies von Frau, voller Schuldgefühle und emotional fordernd, schaffte mich jedesmal völlig. Sie brauchten andere Menschen viel zu sehr. Das einzige, was ich jetzt brauchte, war Essen, irgend etwas Eßbares, und zwar viel. Ich ging meiner Nase nach.

Leider führte mich die aber nirgendwo hin. Ich stolperte durch das Labyrinth von Büros und anderen Räumen in die Richtung, wo ich die Garderoben der Stars zu finden glaubte. Die Etage war vollkommen leer — ich hätte gedacht, daß wenigstens ein paar Leute da sein würden.

Während ich auf der Suche nach Sherris Garderobe war, kam ich an einem Büro mit gläsernen Wänden vorbei. Es war größer als alle anderen, die ich in diesem Stockwerk gesehen hatte. Ich schaute hinein. Ein Zettel war an die Tür geklebt, auf dem zu lesen war: HIER NICHT SAUBERMACHEN. Ich probierte die Türklinke. Die Tür war offen, was mich geringfügig enttäuschte _ schließlich konnte ich jetzt schon wieder nicht meine Fertigkeiten als Dietrich-Künstlerin austesten.

Ein kurzer Schwenk meiner Augen über den Schreibtisch machte mir klar, daß dies der Bereich von Ringo Schwartz sein mußte, Produzent, Regisseur, Gottheit, Vollidiot. In der obersten Schublade hatte er einen Vorrat an Mars gebunkert. Ich nahm mir eins, während ich weitersuchte. Ich paßte sehr auf, keine Schokoladenfingerabdrücke zu hinterlassen, weswegen ich mit meiner linken Hand aß und mit der rechten die Papiere durchging. Auf seinem Schreibtisch war ein einziges Durcheinander — ein Mann, der gut in mein Büro passen würde — , und überall lagen Papiere verstreut. Das Schild HIER NICHT SAUBERMACFIEN weckte in mir die Vermutung, daß diese Verrücktheit Methode haben mußte. Ich spürte einen gewissen Respekt für Ringo, daß er noch durch dieses Chaos fand. Darüber hinaus war ich allerdings genervt. Es war schon schwer genug, Indizien aufzuspüren, ohne daß ein Tornado sie vorher durcheinandergewirbelt hatte. Ich stöberte in seinem Hängeregister herum. Ich schaute mir den Kalender auf seinem Schreibtisch an. Seine Handschrift war so krakelig, daß ich es noch nicht einmal bemerkt hätte, wenn irgendwo gestanden hätte: »Heute: Sabrina Delorean erschießen«. Ich vertilgte das Mars, leckte meine Finger sauber und ging auf dem industrie-grauen, synthetischen Teppich auf die Hände und Knie.

Ich untersuchte systematisch jeden dort herumfliegenden Wochenplan, jede Notiz und jeden Brief, versuchte, irgend etwas zu entdecken, ohne dabei Ringos perfekte Unordnung zu zerstören. Nach einer halben Stunde hatte ich nichts gefunden, außer einem Hinweis, daß Party Girls für das Ende der nächsten Woche eine neue Kandidatenauswahl geplant hatte. Meine große Chance, dachte ich. Dann erinnerte ich mich selber daran, daß ich erstens einen Freund hatte und zweitens (du lieber Schreck) bereits das Höchstalter überschritten hatte. Außerdem besaß ich kein einziges Kleid mit Pailletten.

Ich schaute noch einmal in das Hängeregister. Der einzige halbwegs dicke Hefter war mit Restaurantquittungen und Taxibelegen vollgestopft — auch hier traf er meinen steuer-sparsamen Geschmack. Eine sorgfältige Suche durch fast ein ganzes Jahr von Belegen war allerdings einfach zuviel verlangt. Meinetwegen, ich geb’s zu: Ich bin faul. Ich blätterte die anderen Hefter durch und fand nichts Besonderes. Daraufhin nahm ich meine Handtasche von Ringos Schreibtisch und wollte gerade gehen, als ich das Stück Papier bemerkte, das meine Tasche bedeckt hatte.

Es war eine Notiz an Ringo, die auf den vorangegangenen Donnerstag datiert war — auf den Tag vor dem Mord also. Sie war von Sinclair Singer. »Sabrinas Vertrag wird am Ende des Jahres selbstverständlich verlängert, und es gibt nichts, was du sagen oder tun könntest, das mich dazu bringen würde, sie zu entlassen. Gewöhn dich dran. Es bleibt ansonsten nur die Möglichkeit, dich in einem anderen Programm des Hyänen-Networks unterzubringen. Zwischenzeitlich möchte ich bitten, daß meine Zeit mit dieser Sache nicht weiter verschwendet wird. Das Thema ist durch.« Dieses Memo ging außerdem an Woody Latrek und Sherri Tigre. Wollten alle Mitarbeiter Sabrina aus der Show raushaben? Ich erinnerte mich, wie aufgelöst Patty gewesen war, als sie dachte, alle wüßten, daß Sabrina Ärger hatte. Sabrinas einziger Freund war anscheinend Sinclair. Und mit einem Freund wie ihm konnte es einem eigentlich egal sein, wie groß die Zahl der Feinde war. Ich spürte wahres Mitleid für Buster. Konnte Sinclair vielleicht Sabrina in der Show behalten wollen, um Rache an ihr zu üben für das, was sie seinem einzigen Sohn angetan hatte? Würde er sogar seine Show zerstören, um sie zu bestrafen? Es war allgemein bekannt, daß Party Girls in letzter Zeit sinkende Einschaltquoten zu beklagen hatte.

Ich dachte noch eine Weile darüber nach, ehe ich meine Khat-beladene Handtasche über die Schulter nahm und Ringos Büro verließ. Das benachbarte Büro war zwar kleiner, aber immer noch vernünftig dimensioniert. Es gab keinen Zettel an der Tür, und hier war auch nicht abgeschlossen. Dieser Raum war halbwegs aufgeräumt, aber es lagen viel zu viele persönliche Sachen umher, als daß er als ordentlich hätte beschrieben werden können. Das gerahmte Bild eines Landhauses fiel mir auf. Das Dach war goldgelb gemalt, mit rotem und grünem Rand. Eine Rastafarm, dachte ich und fragte mich, was dort wohl angebaut wurde. Spinnenpflanzen hingen von Haken in der Decke. Eine genauere Betrachtung ergab, daß sie aus Plastik waren. In keinem dieser Büros gab es eine natürliche Lichtquelle. Ich ging den Schreibtisch durch und fand einen Gehaltszahlungsbeleg mit Marnie O’Sheas Namen. Ihr Gehalt war sehr ordentlich. Ich unterdrückte meine Eifersucht.

Marnies Terminplan war in halbstündige Blöcke aufgeteilt. Sie war eine außerordentlich beschäftigte Frau. Kostüme checken, Make-up checken, Sabrinas Haare richten, gesponserte Gegenstände checken — die Liste ging weiter und weiter. Marnie war eindeutig die Zuchtmeisterin der Show. Eigentlich wirkte sie intelligenter und älter, als daß dieser Job sie ausfüllen könnte. Sie verdiente es, befördert zu werden. Ich merkte mir vor, mich mit meinem Kumpel Sinclair Singer darüber zu unterhalten.

Ich verließ Marnies Büro und fand Sherri Tigres und Woody Latreks Garderobe. Die Zimmer waren miteinanderverbunden, um so eine Suite aus drei Räumen zu bilden: ein begehbarer Schrank, ein Büro und ein Ankleideraum mit zwei Schminktischen und spanischen Wänden. Ich ging direkt auf den Schrank zu, um mir Sherris Kleider anzuschauen. Klar, sie mußte wie ein TV-Flittchen aussehen, wenn sie in diesen Parties auf Sendung ging. Aber sie mußte doch auch etwas weniger glit-zerige Sachen haben — wie zum Beispiel das Outfit, das sie zu Tonys Beerdigung getragen hatte. Ich fand aber nichts als Federboas, Paillettenkleider und Plastikpumps mit Glitzersteinen drauf. Auf Woodys Seite hingen zwanzig gleich geschnittene Anzüge in verschiedenen Farben und Stoffen. Was für ein Beau.

Im Büro lagen stapelweise DIN-A4-Hochglanzauf-nahmen von hoffnungsfrohen Teilnehmern. Weitere Stapel bedeckten jeden der Schreibtische und die Stühle. Hunderte waren in einem riesigen Aktenschrank untergebracht, nach dem Datum des jeweiligen Auftrittes sortiert. Ich fand sowohl Tonys als auch Sandras Bild. Sie trugen beide dieselbe Art von Klamotten, die sie auch in der Show angehabt hatten. Tony lächelte, als könne er sein Glück gar nicht fassen. Sandra machte eine sexy Schnute, die nichts ungeahnt ließ. Ich tat den Hefter wieder zurück und schaute mich um, ob ich noch mehr finden könnte, was Tony mit Sherri in Verbindung bringen würde.

Auf ihrem Schreibtisch fand ich jede Menge Bücher über Astrologie und eine Kiste voller Kristalle. Ein paar Rosenquarzkristalle waren dabei — das Liebeskristall. In Woodys Schubladen fand ich Augentropfen und zehn verschiedene Arten von Pfefferminzbonbons. Des weiteren fand ich eine Notiz an Sinclair Singer, die lautete:

»Wir erwarten noch Ihre Reaktion wegen After Midnight. Ringo, Sherri und ich würden uns sehr freuen, diesbezüglich Ihre Meinung zu hören. Wenn der Termin um 00:30 Uhr zu belastet ist, haben wir durchaus auch andere Vorschläge. Eventuell müßten andere problematische Shows ersetzt oder an andere Sendezeiten verschoben werden. Es gibt einige während der besten Sendezeit, deren Einschaltquoten im Abwärtstrend liegen und die schwierige Stars haben. Einzelheiten können wir besprechen, wenn die Zeit reif ist. Wir sind in bezug auf After Midnight sehr engagiert. Sherri und ich sind die perfekten Talkshow-Moderatoren, und mit Ringo im Team können wir nichts falsch machen.«

Kopien hiervon gingen an Ringo und Sherri. Die drei steckten also unter einer Decke. Meine Finger kribbelten förmlich vor Verlangen nach einer Zigarette. Ich nahm eine Rolle Life Savers mit Zimtgeschmack von Woodys Schreibtisch und verschwand.

Sabrinas Garderobentür war abgeschlossen. Ich ging auf die Knie und fummelte fast zwanzig Minuten an dem Ding herum, aber ich bekam das Schloß einfach nicht auf. Ich hörte auf, als meine Finger zu zittern begannen und ich einen nervösen Schweißausbruch erlitt. Ich setzte mich auf den Boden und holte mit tiefen, die

Seele reinigenden Atemzügen Luft. Als ich mich besser fühlte, schob ich los, um zu sehen, was es in Singers Büro zu sehen gab.

Ich fand die Aufzüge mit Leichtigkeit. Diesmal gab es keine Körper, die um irgendwelche Ecken gerast kamen. Und immer noch keine Zigarettenkippen im Aschenbecher der sechsten Etage. Singers Büro war abgeschlossen. Ich ging auf die Knie und betete die Götter des Karma an. Nachdem ich schon so lange so erfolglos an Sabrinas Schloß herumgemurkst hatte, glaubte ich kaum, daß ich mit diesem hier Glück haben würde. Aber nach zehn Minuten, während derer ich erneut einen frustrierten Schweißausbruch erlitt, bekam ich das Schloß auf, wobei ich mir allerdings einen Fingernagel abriß. Das hasse ich.

Ich stand auf, wackelig vom langen Knien, und marschierte direkt hinein. Eine schnelle Durchsuchung von Singers Schreibtisch ergab nichts. Die Schubladen enthielten nichts außer einer Kiste kubanischer Zigarren und Küchenstreichhölzer. Ich sah mich im Büro um. Da waren noch einige andere Türen, die aus dem Zimmer führten. Ich würde mir aussuchen, welche ich als erste aufmachen wollte, während ich eine von Singers Zigarren ausprobierte. So etwas hatte ich noch nie zuvor geraucht. Ich erinnere mich, daß mein Vater mich immer davor gewarnt hatte, Zigarren auf Lunge zu rauchen. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich es doch täte. Ich biß die Spitze ab und spuckte sie auf den Boden. Ich war so tough wie ein rostiger Nagel in einer dreckigen Pfütze. Ich zündete das Ding an und sog einen Mund voller Rauch ein. Ich ließ ihn über meine Zunge wieder hinausrollen, ohne zu inhalieren. Der Ge-schmack war süß und erinnerte an Holz. Ich könnte mich durchaus an so etwas gewöhnen, dachte ich. Schnell blickte ich nach oben, um zu sehen, ob sich an der Decke etwa Rauchdetektoren befänden.

Mit der Zigarre in der Hand versuchte ich die erste Tür auf der rechten Seite zu öffnen — ein Badezimmer. Die zweite Tür führte mich in einen Schrank. Die dritte war abgeschlossen. Genervt ging ich jetzt schon zum vierten Mal an diesem T ag auf die Knie und machte mich mit den Dietrichen ans Werk. Es war erstaunlich — das Schloß sprang nach weniger als zehn Minuten des Herumfummelns auf. Der Lichtschalter befand sich nicht dort, wo er sich hätte befinden sollen. Ich zog noch einmal heftig an der Zigarre, damit ihre Glut den Raum beleuchtete. Das funktionierte nicht. Ich brauchte ein Streichholz. Ich nahm das Khat aus meiner Handtasche und legte es auf den Boden, um besser wühlen zu können. Ich suchte gerade in meiner Brieftasche nach Notstreichhölzern, als ich das Klicken hörte.

Die Tür hatte sich hinter mir geschlossen. Ich versuchte, die Klinke zu drehen, aber die Tür war von außen verschlossen. Ich war nicht ganz sicher, ob sie von allein zugegangen war oder ob jemand das getan hatte. Ich fragte mich außerdem, ob ich nun aufgeflogen oder gefangengenommen worden war. Ich fummelte mit den Dietrichen am Schloß herum, aber ohne Erfolg. Plötzlich hörte ich das Summen und Zischen von Neonlampen, und kurz darauf flackerten sie auf. Der Raum wurde grell erleuchtet. Ich sah mich um. Und dann wußte ich genau, wo ich mich befand und daß ich auf keinen Fall dort sein wollte. Ich ließ die Zigarre fallen, hieb auf die Tür ein und kreischte wie ein richtiges Mädchen.