Ein Bein für einen Diamanten

Sandra hob die lange braune Flasche an ihren Mund. Sie trank sie zu einem Viertel leer und leckte sich anschließend die Lippen. »Eric wischtja richtig den Boden auf«, sagte sie und wies mit ihrem Bud Light auf ihn. »Ich mag das gerne, wenn die Jungens so ins Schwitzen kommen.«

»Vergiß Eric. Tony konnte die Zukunft vorhersehen«, sagte ich und versuchte, mehr aus ihr herauszubekommen. Max muß mich jetztwirklich verabscheuen, dachte ich. Aus beruflichen Gründen beschloß ich, die Sache laufen zu lassen.

Sandra sagte: »Tony gehört der Vergangenheit an.« Sie kicherte.

Ich ließ meine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. Im Gegensatz zu anderen Frauen, und damit meine ich auch diejenige, mit der ich gerade sprach, täuschte ich nie vor, dumm zu sein. Was hatte mich nur gebissen, zu rauchen, wo ich doch wußte, daß Max auf dem Weg hierher war. Ich litt offensichtlich unter einer unkontrollierbaren, körperlichen

Abhängigkeit von Nikotin. Ich merkte mir vor, es Max mit diesem Argument zu erklären, sollte er jemals wieder mit mir sprechen. Sandra trank ihr Bier aus und versuchte, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erhaschen.

Ich fragte: »Was hat Tony denn gesagt?«

»Er hat sehr viel über Sabrina Delorean gesprochen«, sagte sie und fügte bissig hinzu: »Im Prinzip die ganze Zeit.« Der Barkeeper bemerkte Sandra nicht, selbst als sie wild mit den Armen winkte und durch die Zähne pfiff. Nach zehn Uhr hieß die Bar deswegen Bar, weil es nur noch Getränke gegen Bargeld gab und nichts mehr umsonst war. Ich schaute auf die Uhr — noch fünf Minuten für kostenlose Drinks. Ich fragte mich, ob der Bartender wohl mit Absicht all diese Menschen ignorierte. Ich blickte den Tresen entlang. Ungefähr ein Dutzend Leute kreischte nach mehr Drinks. Sandra gab klugerweise nach. Sie bückte sich tief und zog ihre Strumpfhose hoch.

Ich gab ihr einen verbalen Schubs: »Er machte sich also Sorgen um Sabrina.«

»Verdammt«, sagte sie, weil ihre lackierten Fingernägel gerade ein Loch in ihre Strumpfhose gerissen hatten.

»Hat er sie geliebt? War er von der Besessenheit getrieben, näher an das Objekt seiner Begierde heranzukommen? Vielleicht war er durch seine verzehrende Leidenschaft von ferne fast schon verrückt geworden?«

Sandra lächelte plötzlich breit und winkte jemandem zu, der sich genau hinter meiner Schulter aufzuhalten schien. Ich wandte mich um, sah aber niemanden, den ich kannte. Ich drehte mich wieder zu ihr. Sie kicherte.

»Hast dich ja umgedreht«, lachte sie. Sie war so unglaublich uncool.

Ich spielte mit harten Bandagen. »Vielleicht verpetze ich dich, weil du dich mit Tony getroffen hast, obwohl das gegen die Regeln der Show ist«, drohte ich ihr, »dann kannst du überhaupt nicht nach Jamaika fahren.«

»Das würdest du nicht wagen«, zischte sie, und ihr eines Auge zuckte nervös.

Ich nickte, doch, das würde ich sehr wohl, und sagte: »Das hat man davon, wenn man sich mit fremden Leuten in einer Bar unterhält.« Der arme Eric würde dann mit dieser anderen Zicke im Leopardenkleid nach Jamaika fahren müssen. Die Idee fand ich sehr witzig. Vielleicht würde ich Sandra wirklich verpetzen. »Oder du könntest mir mehr über Tony erzählen«, hielt ich ihr als Möglichkeit vor die Nase.

Sandra schlug mir mit ihrer Bierflasche auf die Knöchel und sagte: »Du entwickelst dich ja zu einem echten Fiasko.« Sie richtete ihren BH. »Als ob du jemanden bei Party Girls kennen würdest«, sagte sie und hip-hopte von dannen. Sie ging zu Eric auf die Tanzfläche. Gleichzeitig tanzten sie den Tony und Lambada. Wie eine Schmalzdose angeschmiert stand ich da.

Also hatte Tony gewußt, daß Gefahr im Verzug und Ärger auf dem Weg war. Mein computergleiches Hirn lieferte mir zwei mögliche Gründe: Tony hatte irgendeine Art von Verbindung zur Geisterwelt (ehe er selber dort Mitglied wurde). Oder er spielte noch eine andere Rolle bei diesem Schußwechsel als nur den toten Mann. Wenn letzteres stimmte, dann hatte eigentlich Sabrina das Opfer sein sollen. Aber es war natürlich auch möglich, daß Tony Felluti ein kleiner Zuarbeiter der Mafia war, trotz seiner sensiblen Art. Als Idee war das schon denkbar. Ich suchte Alex in der Menge. Bei Gelegenheiten wie dieser schätze ich seine Größe ausgesprochen. Ich entdeckte ihn und kämpfte mich über den Tanzboden hinweg. Im Meer der schwitzenden Körper verlor ich ihn einige Male aus den Augen. Endlich schaffte ich es aber doch zu ihm und stellte fest, daß er mit einem Teenager in einer Hose mit Schlag und einem Bustier tanzte. Ich stieß ihn mit meinem Ellbogen in die Rippen. Er ignorierte mich. Ich hieb ihm noch einmal eine. Er tanzte weiter und zischte mir zu: »Du störst hier gerade!«

»Ich gehe«, sagte ich. Ich fragte mich, ob Mrs. Felluti mich mit dem bösen Blick strafen würde, wenn ich sie über ihren Sohn ausfragte.

Alex hörte auf zu tanzen. »Okay, was ist los? Du wirkst ja richtig aufgelöst.« Unter seinen vielen Talenten hatte er auch die Fähigkeit, das Offensichtliche beim Namen nennen zu können.

Ich sah dorthin, wo Lola und Patty an Sabrinas Seite standen. Sie hatte sich keinen Zentimeter weit von ihrem roten Samtthron fortbewegt. Eine Prollfrau versuchte, sich der Göttin des Prime Time zu nähern, aber Patty jagte sie mit einem subtilen und sehr gut plazierten Stoß in die Nieren aus dem Feld. Sabrina blickte auf ihre Uhr. Sie war seit genau vierzig Minuten im Club Buff.

»Kann es eigentlich sein, daß ich vorhin Max gesehen habe?« Alex blickte sich um und suchte.

»Er hat mich beim Rauchen erwischt.« Es war mir tatsächlich peinlich.

»Und jetzt gehst du, um dich wieder mit ihm zu versöhnen.«

»Achte du auf Patty und Sabrina.«

»Wenn du jetzt versuchst, dich an ihn ranzuschmeißen, nach einem solchen offenkundigen, vorsätzlichen Fehltritt, wird er sich gedemütigt, entmannt und wütend fühlen. Gib ihm etwas Zeit.« Alex sprach voller Überzeugung. Ich fragte mich, ob er wohl aus Erfahrung spräche. »Ich spreche aus Erfahrung, Wanda«, sagte er. »Erfahrung, die ich im übrigen mit dir gemacht habe. Die Wahrheit tut immer weh. Es tut mir leid.« Es schien ihm aber gar nicht so leid zu tun.

»Mit Freunden wie dir braucht man keine Therapiegruppe mehr«, sagte ich. In bezug auf Max könnte er recht haben. Ich streckte die Hand nach seinen Fingern aus und spürte eine Welle der Dankbarkeit, daß dieser Mann mein Freund war.

Er drückte meine Hand auch. »Ist das hier ein rührender Polaroidmoment?« fragte er.

»Entschuldige, ich muß mal eben Kotzgeräusche machen gehen. Und im übrigen gehe ich jetzt wirklich«, sagte ich. »Ich muß morgen früh in Bay Ridge sein.« Bay Ridge, die italienische Gegend von Brooklyn, war die Heimat der Familie Felluti und der Ort, an dem Tonys Beerdigung stattfinden würde. »Morgen wird Tony beerdigt. Ich will da hin und ein bißchen unter die Grabsteine blicken.«

»Du bist ja ganz schön zynisch«, sagte er und grinste, ohne Zähne. Er wischte sich braune Haarsträhnen aus den Augen. »Okay, ich bleibe hier und begleite Sabrina nach Hause. Ich glaube sowieso, daß die bald gehen wollen.« Das Mädchen in den Schlaghosen kam wieder zu

Alex herübergehüpft und machte ihm Zeichen, er solle mit ihr tanzen. Ich begutachtete ihren Po. Er war rund. Meiner war flach. Alex hatte bislang nie etwas dagegen gehabt.

Ich war noch nicht bereit, ihn ihr zu überlassen, und sagte: »Max muß mich ja jetzt verabscheuen.«

»Er verabscheut dich nicht«, beruhigte Alex mich. »Er fühlt sich wahrscheinlich verraten. Vielleicht wütend. Eine Prise Enttäuschung. Und du weißt ja selbst, daß Enttäuschung eine Emotion ist, die viel zu gering geachtet wird.«

»Das habe ich schon gehört.« Ich sah Lola, die mir zuwinkte, und winkte ihr zurück. »Das Taxameter läuft«, sagte ich.

»Mach dich auf. Tu mir nur einen Gefallen.«

»Vielleicht.«

»Rauch keine Zigarette mehr.«

Ich nickte und verschwand wie ein geölter Blitz.

Ich nahm ein Taxi nach Hause. Es war zehn Uhr dreißig an einem Samstagabend. Ich überlegte während der Fahrt, ob ich nicht zu Max fahren sollte, aber beschloß dann doch, Alex’ Rat zu befolgen. Ich war erstaunt, daß ich in der Lage war, einem derart heftigen Verlangen zu widerstehen — vielleicht war auch das ein Entzugssymptom.

Im Daily Mirror hatte gestanden, daß Tonys Beerdigung um neun Uhr morgens stattfinden würde, eine Stunde, die mir am Sonntagmorgen eher fremd ist. Ich wußte über Bay Ridge nichts, außer daß die Gegend jede Menge Kirchen, Beerdigungsinstitute und Friedhöfe hatte. Es gab außerdem eine Unmenge von italienischen Delikatessenläden und Pizzerien. Ich nahm mir vor, vorher den Stadtplan anzusehen und Pfefferminzbonbons mitzunehmen.

Der Taxifahrer, der tatsächlich Englisch sprach, fragte mich, ob ich was dagegen hätte, wenn er rauchte. Ich fragte zurück: »Sie geben also den Tabakfirmen Geld, damit die Ihnen Krebs frei Haus liefern? So funktioniert das?«

Er sagte: »Ja.«

Ich sagte: »Halten Sie den Mund und fahren Sie. Und geben Sie mir auch eine.« Ich rauchte meine zweite Zigarette an diesem Tag. Sie schmeckte bitter, so bitter!

Wir kamen vor meiner Wohnung auf der Flatbush Avenue in Park Slope an. Ich warf meine Kippe in den Abwasserkanal, als ich aus dem Taxi stieg. Ich spürte eine unglaubliche Müdigkeit, sicherlich verursacht dadurch, daß ich in der vorangegangenen Nacht so wenig geschlafen hatte. Seit ich mich den Dreißig nähere, merke ich, wie nötig ich eigentlich mindestens sechs Stunden Schlaf brauche. Ich ließ die Erschöpfung über mich schwemmen, während ich die Fahrt bezahlte (zwölf Ohren inklusive Trinkgeld — Sabrinas Buchhalter würde diese Quittung auf jeden Fall zu sehen bekommen).

Ich bemerkte den Rollstuhl erst, als ich meinen Donna-Karan-Mantel abgelegt hatte. Das Gefährt stand mit dem Rücken zur Tür, wie in Psycho. Der darin sitzende Mensch trug jedoch keine Großmutterperücke, obwohl er allerdings aussah, als sei er tot. Seine Arme hingen leblos über die Seite des Stuhls. Sein Kopf war vornüber gesackt und lastete schwer auf seinem Schlüsselbein. Ich schaute mich im Zimmer um, ob es irgendwelche Anzeichen von Zerstörung gäbe.

Ich starrte den Kopf an. Er schien weiter zu sinken, geradezu in den Tod hineinzusacken. Mein Herz klopfte wie wild. Ich steckte meine Hand in die Handtasche, um Mama herauszuholen, obwohl natürlich Pistolen in der Regel eher unnütze Geräte sind, wenn man sich mit Leichen befassen will. Ich schlich mich an ihn heran. Das Licht meiner einen einsamen Lampe warf schwarze Schatten auf die Wände. Aus einem halben Meter Entfernung streckte ich die Hand aus, um den Griff am Rollstuhl zu fassen zu bekommen. Meine Finger umschlossen ihn. Ich warf ihn mit Schwung herum.

Das Jaulen war schrecklich. Otis, die von ihrem Nickerchen auf dem Schoß des Toten aufgeschreckt worden war, flog wie ein schwarzer Fußball aus Fell durch die Luft und streckte verzweifelt ihre Klauen aus. Um Zentimeter segelte sie an meinem Gesicht vorbei. Ich nahm mir vor, ihr die Nägel zu schneiden. Sicher unter der Couch versteckt, fuhr Otis fort, zu zischen und zu spucken. Allerdings war ich froh über diese Geräusche, egal, was für Geräusche das waren. Ich beugte mich zu der Leiche hinab und berührte ihre Wange. Sie war noch warm. Ich berührte ihren Hals. Der war auch noch warm. Es gab übrigens auch noch einen Puls.

Ich sprang zurück. Als ich das Wesen in Gänze sah, wußte ich, mit wem ich es zu tun hatte. Buster Singer schlief wie ein Kleinkind, wie ein totes Kleinkind. Ich knallte dem einbeinigen Erben eine quer übers Gesicht.

Das Aufklatschen meiner Hand riß ihn ins Leben zurück. Seine Augenlider flatterten auf und nieder, und seine Hände flogen hoch, um sie vor dem bißchen Licht zu schützen. »Mach das Licht aus, Mann«, bellte er.

»Fuck you«, sagte ich schlicht.

Er zog die Hände von seinem Gesicht, blinzelte und versuchte, geradeaus zu blicken. Ich tat dasselbe. Er war ein extrem attraktiver Mann. Er hatte eine gute Figur und einen langen zierlichen Hals. Sein dunkles Haar kontrastierte mit seinen blauen Augen und seiner gesunden, gebräunten Haut. Der Knochenbau seines Gesichts war ausgesprochen englisch. Auch seine Zähne wirkten englisch, was allerdings dem Gesamteindruck eher abträglich war. Und das fehlende Bein törnte ebenfalls ab. »Ich habe seit Stunden nichts mehr zu essen bekommen. Ich bin total ausgehungert«, heulte er mir vor, mit sehr englischem Akzent. »Verteufelt, ich vergaß. In diesem Müllhaufen ist ja einfach nichts, was man als eßbar bezeichnen könnte. Wann bist du eigentlich das letzte Mal einkaufen gewesen? Ist das irgendein New Yorker Brauch, mit dem man die Kakerlaken fernhält? Ich könnte es nicht ertragen, irgendwo zu wohnen, ohne etwas zu essen im Hause zu haben. Es ist wirklich eine Unverschämtheit.«

»Ja, dann verpiß dich doch einfach«, schlug ich vor. Ich dachte an das hochtechnisierte Sicherheitssystem in Sabrinas Haus. Buster war wahrscheinlich einfach hier hereinspaziert (soweit man das so formulieren konnte). Ich nahm mir vor, Angebote für Licht- und Bewegungssensoren einzuholen.

»Herrlich«, sagte er und klatschte in die Hände. »Dann laß uns mal losziehen. Hier muß doch irgendein Pub in der Nähe sein. Wir können uns Cheeseburgers mit Pommes frites bestellen. Aber Essig auf meine Pommes frites. Ich werde nie verstehen, warum Ihr Amerikaner so versessen auf Ketchup seid.«

Ich persönlich mag braune Sauce (getrennt serviert) zu meinen Pommes. »Dein Doorman hat ja ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, sagte ich.

»Er hat mich gleich in meiner Suite angerufen, nachdem du gegangen warst«, sagte Buster und kreuzte die Arme über der Brust. »Dann habe ich selber auch noch ein paar Anrufe gemacht. Der gute alte Dad meinte, du würdest für Sabrina Delorean arbeiten. Ich habe deine Adresse hier im Telefonbuch von Brooklyn gefunden, weil du in Manhattan nicht geführt wirst.« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich habe schließlich mein Gehirn noch vollständig beisammen.«

Ich merkte, daß ich noch immer meine Pistole in der Hand hatte. »Und dann bist du hier einfach fröhlich hereingerollt.«

»Ich hatte gehofft, das würde dir nichts ausmachen«, sagte er und kratzte seinen Beinstumpf. Er endete direkt unter seiner Hüfte. Sein Hosenbein war da hochgerollt. Ich starrte es an, und es war mir egal, ob ihm das peinlich war.

Ich hielt meine Pistole auf seinen Brustkorb gerichtet und sagte: »Aber es macht mir sehr wohl etwas aus.«

»Dann interessiert dich meine Version der Geschichte nicht? Da bist du mir ja eine schöne Detektivin — hast den Hauptverdächtigen bei dir in der Wohnung sitzen und willst, daß er wieder geht.« Er machte eine Pause. »Ich bin von Manhattan hier herübergekommen, um dir zu erzählen, was an dem Tag in der U-Bahn wirklich passiert ist«, hängte er mir die Informationskarotte vor die Nase. »Aber ich mache mich dann wohl besser wieder auf. Ich müßte nur mal kurz dein Telefon benutzen. Ich habe vor ein paar Stunden meinen Chauffeur weggeschickt.« Er drückte auf einen Knopf seiner Armlehne, und der Rollstuhl rollte auf das Telefon auf meinem Wohnzimmertisch zu. Ich fragte mich, warum er bloß diesen Rollstuhl benutzte. Ich hatte schon jede Menge einbeiniger Leute in New York gesehen, die es verstehen, auf Krücken zu gehen. »Du siehst, wie einfach es ist, sich mit meinem kleinen Rollstuhl fortzubewegen. Ich befinde mich im Schöße des Luxus.« Er lachte verlegen. Ich lachte nicht mit. Es wäre ein Fehler, mir seine Version nicht anzuhören, beschloß ich. Selbst wenn er voller Bullshit wäre, könnte ich immer noch ein paar Informationen herausholen, die ich irgendeinem billigen Massenblatt würde verkaufen können.

»Ich habe etwas Suppe da.« Er quietschte förmlich zu einem Halt.

»Welche Sorte?«

»Hühnchen mit Nudeln.«

»Hühnchen mit Nudeln? Die esse ich tatsächlich wahnsinnig gerne.« Als ob mich das nun besonders freuen sollte.

Ich sagte: »Du hast meine Katze in Angst und Schrecken versetzt.«

»Deine Katze ist wunderbar, wirklich. Aber diese Wohnung ist fürchterlich. Wirklich, sie ist sozusagen ein Slum.« Nach Hinweisen dieser Sorte hatte ich allerdings keinen großen Bedarf. »Was soll ich dir für die Suppe zahlen?«

»Die gibt’s umsonst.«

»Wirklich?«

»Das ist eben die Gastfreundschaft von New York.«

»Und gibt es dazu auch ein offenes Ohr serviert?« fragte er.

»Es gibt dazu altbackenes Brot.«

»Aber ohne Ketchup«, bat er und lachte wieder auf die verlegene Art. Eine Mikrosekunde lang mochte ich ihn fast.

Ich ging in die Küche. Otis schoß unter der Couch hervor, da sie dachte, ich würde Katzenminze austeilen. Ich verabreichte ihr ihre Dosis, und sie beruhigte sich wieder. Dann kippte ich die Dose Campbell’s Soup in einen sauberen Topf.

Buster kam herübergerollt. Er sah mir zu, als ob er noch nie gesehen hätte, wie eine Suppe sich von einer Dose in den Topf zur Schüssel auf den Tisch bewegt. Wahrscheinlich hatte er immer nur den letzten Teil mit der Schüssel auf dem Tisch gesehen. »Das Bein zu verlieren war einfach schrecklich«, legte er los. »Ich weiß, ich habe es geschafft, mir dieses sorglose Benehmen anzugewöhnen, das du heute abend erlebst. Es ist in Wahrheit ein Verteidigungsmechanismus. Gleich danach — nach dem Vorfall — ging es mir noch viel schlechter. Ich versuchte damals, mich umzubringen — habe mir eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt.«

»Und warum hat das nicht geklappt?«

»Es war so dermaßen heiß da drin, ich konnte ja kaum noch atmen!«

Ich hielt mitten im Rühren inne. »Erzähl mir mal lieber nur von Sabrina«, sagte ich.

»In Ordnung. Ich bin gerade von einem Rekonvaleszenzurlaub in der Karibik zurückgekommen, den ich in den letzten zwölf Monaten da gemacht habe. Mein Vater will nicht, daß ich mit den Medien Kontakt aufnehme, aber ich muß der Welt sagen, was wirklich passiert ist. Ich dachte, ich fange bei dir an, Wanda Mallory. Du mußt doch daran interessiert sein, was wirklich passiert ist. Warum sonst wäre ein hübsches junges Mädchen wie du an einem Krüppel wie mir interessiert?« Er klimperte mit den Augenlidern.

»Versuch hier nicht, mich aufs Kreuz zu legen«, sagte ich.

Erlachte. »Das würde ich mir nie träumen lassen, aber ich könnte es tatsächlich, wenn ich wollte.« Er deutete auf seinen Schritt. Das interessierte mich ungefähr so sehr wie die Erntevorhersagen für Nebraska.

Die Suppe fing an zu kochen. Ich merkte, daß ich vergessen hatte, eine Dose Wasser dazuzugießen. Ich drehte den Wasserhahn an und fügte in etwa die nötige Menge hinzu. Dann ließ ich die Mischung ein zweites Mal aufkochen. »Ich warte«, sagte ich und war sehr begierig, seine Story zu hören.

Er fragte: »Du meinst über Sabrina?«

»Nein, die Erntevorhersagen für Nebraska.« Er sah verwirrt aus.

Ich goß die Hälfte der Suppe in einen sauberen Teller. Sie sah ein bißchen dünn aus, aber durchaus eßbar. Ich trug das dampfende Mahl zu meinem zusammengeschusterten Eßtisch. Auf dem Weg dorthin inspizierte ich Busters Schuh aus Eidechsenleder. Ich fragte mich, was er wohl mit dem dazugehörigen zweiten gemacht hatte. Buster rollte an den Tisch und haute rein.

»Herrlich!« rief er aus. Ich war plötzlich selber auch vollkommen ausgehungert, ignorierte aber das Rumoren in meinem Magen. »Was mit mir und Sabrina geschah, passierte ein paar Monate, bevor sie mein Leben endgültig zerstörte. Es fing an, als der gute alte Dad mich hierher brachte, von Whitecity, wo ich mit meiner Mutter gewohnt habe.«

»Whitecity — du meinst die Upper East Side?«

»Das wäre wohl ganz treffend, nicht wahr? Ha! Nein, ich meine Whitecity in London. Ganz in der Nähe der BBC. An sich wohnt man nicht da. Es ist total uninteressant. Aber ich mochte meine kleine Wohnung. Ich bin in Shepard’s Bush aufgewachsen. Dad ist ausgezogen, und Ma hat das Haus weiter behalten.«

»Also kamst du nach New York«, trieb ich ihn an und wurde von Sekunde zu Sekunde hungriger, während er sich die Suppe in den Mund schaufelte.

»Genau. Also. Ich habe diese Stadt gehaßt. An meinem ersten Tag hier haben mich schon schmutzige stinkende Leute auf der Schwelle meiner Tür um Geld angehauen. Ich konnte es kaum glauben. Man weiß ja gar nicht, was für Krankheiten sie mit sich bringen könnten. Herrjeh.« Ich erinnerte mich an den armen Obdachlosen, der im Müllcontainer schlief, als Alex und ich Benjamin Savage austricksten, den olympiareifen Khatjunkie. Einen reichen verzogenen Egoisten aus Whitecity etwas Mores zu lehren war nicht mein Job.

»Als ob es in London keine Obdachlosen gäbe«, murmelte ich leise zu mir selbst.

»Obdachlose? Gott, nein. Ich rede von Hausierern.« Ich war mir nicht sicher, ob er Nutten oder Rechtsanwälte meinte.

Er schlürfte lautlos seine Suppe. Seine guten Manieren waren ganz offensichtlich. Ich gab ihm ein Stück Küchenkrepp als Serviette. »Danke sehr. Alles hat sich verändert, als ich Sabrina traf. Verstehst du, ich war so deprimiert, daß ich jetzt an diesem merkwürdigen Ort allein war. Dad sagte, ich sollte ihn doch mal im Sender besuchen, das würde mich aufheitern. Also bin ich hingefahren, um mir mal Party Girls anzusehen. Natürlich ist die Show geschmacklos, und für Dad ist mir das auch richtiggehend peinlich, aber Sabrina ist schlicht und ergreifend brillant, nicht wahr?«

Ich wußte nicht, ob ich dem zustimmen sollte. Ehe ich jedoch eine Chance hatte, fuhr er fort: »Ich hatte sofort einen Narren an ihr gefressen und meinen ganzen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie in Dads Privathelikopter mitkommen möchte, zur Statue of Liberty. Erstaunlicherweise war sie noch nie dort gewesen. In der ersten Woche, in der ich hier war, bin ich jeden Tag dahingeflogen.« Es war erstaunlich, aber auch ich war noch nie dagewesen. Und ich wohne immerhin schon seit acht Jahren in New York. »Sie war so wunderschön, oben in den Wolken, in dem Wind, und so weiter. Wir verliebten uns. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, ich verliebte mich in sie. Sabrina sagte mir zwar immer, sie würde mich lieben, aber ich habe mich dauernd gefragt, ob sie tatsächlich mich meint oder doch eher mein Geld. Momentan habe ich keinen Cent. Aber wenn ich in ein paar Monaten dreißig werde, wird es mir ausgezeichnet gehen.«

Ich schaute mir Buster von oben bis unten an. Er war der reichste Typ, den ich jemals zum Abendessen eingeladen hatte. Ich konnte mir Sabrina und Buster einfach nicht zusammen vorstellen. Zum einen war sie wahrscheinlich fünfzehn Kilo schwerer und mindestens zehn Zentimeter größer als er. Obwohl das etwas schwierig einzuschätzen war, da Buster ja immer saß. Ich sagte: »Sabrina hat gar nicht erwähnt, daß ihr beide miteinander ausgegangen seid.«

»Das würde ja auch ihre Vergewaltigungsversion unglaubwürdig erscheinen lassen. Die im übrigen totaler Schwachsinn ist. Völliger Quatsch. Und ein bösartiger Quatsch obendrein.« Wenn es gelogen war, dann war es wirklich bösartig, aber ich war mir nicht so sicher, ob Sabrina nun wirklich log und Buster die Wahrheit sagte.

»Also hat sie dich auf die Gleise geschubst, nur um mal zu probieren, wie sich das anhören könnte?« fragte ich.

»Ich gebe zu, daß ihr Motiv einigen Raum für Interpretationen zuläßt«, sagte er. »Ich glaube, sie hat mich geschoben, weil ich ihr einen Antrag gemacht habe.«

»Was hast du denn beantragt?« fragte ich.

Buster seufzte. »Einen Heiratsantrag habe ich ihr gemacht, natürlich. Ich weiß, daß das alles sehr merkwürdig klingt. Und ich weiß, daß du wahrscheinlich einigermaßen darüber genervt bist, daß ich in deine Wohnung einbreche wie ein einfacher Gangster. Und es ist auch wirklich reizend von dir, daß du mich so rührend bekochst — ich würde es schrecklich ungerne sehen, wenn du meinetwegen Ärger bekommen würdest.« Er blickte derart traurig drein, daß ich fast dachte, er würde gleich anfangen zu weinen.

»Versuch nicht, mich aufs Kreuz zu legen«, sagte ich wieder, diesmal auf gut Glück.

»Du bist schon ganz schön schlau, nicht wahr?« sagte er und war sehr plötzlich wiederhergestellt. »Sabrina hatte also ein paar Tage vor dem Vorfall mit mir Schluß gemacht. Sie brach mir damit das Herz. Zerbrach es in tausend kleine Stücke. Ich bin ihr tatsächlich an dem Tag in die U-Bahn gefolgt, aber sie weigerte sich, mit mir zu sprechen. Ich bettelte sie an, sie möge zu mir zurückkehren. Ich dachte, als echte Amerikanerin würde sie sich von einem Verlobungsring überzeugen lassen. Ein Dreißigkaräter im übrigen.«

»Wenigstens hat sie dich nicht nur wegen deines Geldes gewollt.«

Er hörte auf zu essen. »Ich habe immer noch mein ganzes Herz«, sagte er und tippte sich auf den Brustkorb. Ich kam mir plötzlich unsensibel vor, aber darüber kam ich auch ganz gut weg. »Sie hat mich gestoßen, weil sie psychotisch ist. Deswegen läßt Patty sie auch nirgends allein hingehen. Sie hat Angst, daß sie etwas Gefährliches tun wird, daß sie jemand anderem so weh tun wird, wie sie mir weh getan hat.«

»Das kaufe ich dir nicht ab.«

»Es ist aber wahr. Sie hat ein ernsthaftes Problem. Deswegen wurde Patty Psychiaterin, als sie die ersten Anzeichen bemerkte. Jedenfalls ist es das, was ich aus Sabrinas eher lückenhafter Familiengeschichte herausgehört habe. Sie war diesbezüglich nie sehr gesprächig. Hör mal, ich habe das ganze letzte Jahr meines Lebens damit verbracht herauszufinden, was ich bloß getan habe, um das hier zu verdienen. Es gibt keine rationale Erklärung.«

»Mir hat sie gesagt, sie hätte nicht gewußt, daß da ein Zug kam.«

»Scheiße. Der Zug war nur noch Zentimeter vom Bahnhof entfernt. Man müßte schon taub sein, um nicht zu bemerken, daß er kommt.«

»Du hast versucht, sie zu vergewaltigen.«

»Ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Vielleicht habe ich ihre Hand berührt, um zu versuchen, ihr den Ring überzustreifen.«

»Wo ist der Ring jetzt eigentlich?«

»Ich gehe davon aus, daß er genau wie ich auf die Bahngleise gefallen ist«, sagte er. »Ich habe mich nie darum gekümmert. Es war mir ziemlich egal, nachdem ich im Krankenhaus aufwachte und ein Bein weniger hatte.« Ich fragte mich, was wohl passieren müßte, damit mir ein dreißigkarätiger Diamantring egal wäre.

Buster aß seine Suppe auf und schob den Teller weg. Ich stellte den schmutzigen Teller in den Spülstein zu dem anderen Abwasch. Mein erster Instinkt war eigentlich, eher Sabrina zu glauben. Fast immer ziehe ich es vor, zunächst der Frau Glauben zu schenken. Buster war ein verwöhntes, reiches Balg, das noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Ich konnte verstehen, daß er sich die Geschichte während seiner ein Jahr dauernden Zurückgezogenheit so zurechtgelegt hatte, um seine eigene Schuld zu verringern. Er mußte ja irgend jemandem die Schuld geben. Dennoch blieb die beunruhigende Frage: Warum hatte Sabrina mir nicht gesagt, daß sie vor diesem Ereignis etwas miteinander gehabt hatten? In dieser Hinsicht schien er nicht gelogen zu haben. Aber vielleicht glaubte er auch nur an seine eigenen Wahnvorstellungen.

Buster rollte auf das Wohnzimmer zu. »Ich beantworte dir gerne Fragen, wenn du welche hast.«

»Warum hast du den Zeitungen gesagt, du seist vom Bahnsteig runtergefallen?«

»Es ist erstaunlich, aber ich liebte sie immer noch. Ich gehe heute davon aus, daß mir die Situation noch nicht endgültig bewußt geworden war. Und außerdem fand der gute alte Dad, es wäre sicherlich sinnvoll, einen größeren Skandal zu vermeiden.«

Ich war entsetzt, daß Sinclair Busters Geschichte kannte. »Dein Vater behandelt sie wie die Prinzessin auf der Erbse«, sagte ich ihm.

»Das höre ich nicht sehr gern. Aber Geschäft ist Geschäft, und Dad hat das immer an erster Stelle gesehen. Warum, glaubst du, haben meine Eltern miteinander Schluß gemacht? Meine Mutter konnte es nicht mehr ertragen, daß er immer so viel arbeitete. Man kann diesen ganzen Tratsch, er hätte eine Affäre mit seiner Sekretärin gehabt, einfach vergessen. Die hatten kein Verhältnis, bevor meine Eltern auseinander waren.« Die Wahnvorstellungen zogen also immer weitere Kreise. »Der Grund, warum ich nach New York zurückgekommen bin — der einzige und wahre Grund — , ist, Sabrina noch ein einziges Mal zu sehen, ehe ich nach Whitecity zurückkehre.«

Um Rache zu üben, fragte ich mich. Ich erinnerte mich, daß die Pistole auf einer der Laufplanken über dem Studio gefunden worden war. Buster konnte zwar nicht mit einem Rollstuhl da hochklettern, und auch auf Krücken hätte er von dort nicht schnell genug wegkommen können. Er hätte allerdings die Taranteln in Sabrinas Garderobe schicken können. Ich versuchte, weitere Informationen aus ihm herauszulocken. Ich sagte: »Du bist zurückgekommen, um sie umzubringen.«

»Warum zum Teufel sollte ich denn so etwas tun?« fragte er vollkommen erstaunt. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich sie liebe. Oh ja, ich hatte die eine oder andere flüchtige Liebschaft in der Karibik im vergangenen Jahr. Aber ich habe nie das kleinste bißchen echte und ehrliche Leidenschaft empfunden.« Einen Moment lang wirkte er ganz umnebelt. »Wenn sie nur ja gesagt hätte.«

»Was dann?«

»Verzeihung?«

»>Wenn sie nur ja gesagt hätte< — was wäre dann passiert?«

»Ich weiß nicht. Wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute?«

Ich dachte an Max. »Ich muß mal eben telefonieren. Ich habe eine Pistole. Versuch nicht, mich auszubooten.«

»Ich könnte mir gut etwas von dem Tequila da genehmigen.«

Schnorrer. »Bitte«, sagte ich.

Ich hieb Max’ Nummer förmlich in die Tasten. Ich bereitete meine Rede vor, während das Telefon klingelte. Sie fing an mit den Worten: »Häschen, liebstes, ich liebe dich.« Von da aus geht es natürlich nur noch abwärts. Es klingelte und klingelte. Die Quatsche war abgeschaltet. Er ging mir aus dem Weg. Ich fragte mich, ob ich wohl egozentrisch sei. Schließlich konnte er auch einer Zweitfreundin aus dem Weg gehen wollen.

Ich mußte also bleiben und schnappte mir deshalb die Flasche aus Busters Hand, um mir einen langen Schluck zu gönnen. Buster nahm auch noch einen. Ich auch. Es dauerte nicht lange, da waren wir beide betrunken. Gegen zwei Uhr morgens lag er unter dem Tisch — bildlich gesprochen.

Ich ging seine Taschen durch, zunächst nur auf der Suche nach Zigaretten. Da ich keine fand, durchsuchte ich seine Brieftasche nach Kondomen. Ich fand zwei. Er hatte außerdem zwölfhundert Dollar in bar dabei. Es kostete mich einen unglaublichen inneren Kampf, sie in seinem Portemonnaie zu lassen. Nachdem ich noch einmal überprüft hatte, daß mein eindringlicher Besucher fest seinen Rausch ausschlief und das sicherlich die nächsten Stunden noch tun würde, ließ ich ihn in meinem Wohnzimmer in seinem >Schoß des Luxus< stehen. Ich ging ins Bett und stellte meinen Wecker auf acht Uhr. Ich schloß die Augen. Ich war hellwach. Was wäre, wenn Sabrina ihn in böser Absicht vor den Zug gestoßen hätte? Er wirkte zwar nicht wie der Typ, der irgendjemanden attackiert, aber mein Expertinneninstinkt konnte allerdings auch durch den Tequila durcheinandergebracht worden sein. Ich vermute, es war schiere Idiotie, einen des Mordes Verdächtigen in meinem Wohnzimmer schlafen zu lassen. Dann erinnerte ich mich, daß eines seiner Räder quietschte, und beruhigte mich wieder.

Ich nahm mir vor, Sabrinas Vergangenheit noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit vierundzwanzig hatten die Leute selten eine. (Ich wohl). Wenn das, was Buster sagte, stimmte — allerdings war ich von nichts, was er gesagt hatte, wirklich überzeugt — , dann machte ich mir um Lola mehr Sorgen als um alles andere. Wenn Sabrina wirklich verrückt war, dann konnte sie ihre Aggression jederzeit gegen Lola richten. Ich hörte auf, mir einen solchen Super-GAU vorzustellen, indem ich meine Atemzüge zählte. Sie aufgrund des hohen Alkoholgehalts in der Nachtluft sehen zu können, war ausgesprochen hilfreich.

Ich war um acht Uhr fertig angezogen. Eigentlich befand ich mich in der Hölle, zumindest fühlte sich mein Kopf so an, aber dennoch war ich von mir selbst beeindruckt. Ich hatte es geschafft, mich anständig anzuziehen, ehe es draußen überhaupt hell geworden war. Ich fuhr mir durch die nassen Haare und ging ins Wohnzimmer, um Otis zu füttern. Sie hatte gestern nacht nicht bei mir geschlafen. Statt dessen lag sie friedlich auf Buster Singers Schoß. Ich ging zum einbeinigen Erben hinüber und kniff ihn fest in den Arm.

»Mummy, hör auf damit«, protestierte er, immer noch tief schlafend. Ich gab ihm eine Ohrfeige. Diese Umgangsform wurde langsam zur Angewohnheit. Er öffnete die Augen. Einen Moment lang sah er durcheinander aus, doch dann blitzte die Erkenntnis in seinen Augen auf. Er sagte: »Du hast dich ja richtig nett gemacht.« Das nahm ich als Kompliment. »Aber ich muß mich entschuldigen, Wanda Mallory, ich bin viel zu lange hiergeblieben.« Er hatte etwas Schwierigkeiten, diesen Satz deutlich vorzubringen, aber ich verstand schon, was gemeint war. »Wenn du mir zeigen könntest, wo das Telefon steht, werde ich meinen Wagen rufen.«

»Wir haben’s eilig«, sagte ich und winkte in Richtung Telefon. »Ich muß zu einer Beerdigung.«

»Wessen?« fragte er neugierig.

»Geht dich nichts an.« Es sei denn, daß er der Mörder war.

»Du gehst zu Tony Fellutis Beerdigung, nicht wahr? Ich muß da auch hin. Ich sollte dort eigentlich das Beileid meiner Familie übermitteln.«

»Mrs. Felluti kann deinen Vater nicht ausstehen«, sagte ich.

»Ich muß aber dahin. Sabrina könnte... Ich habe frische Anziehsachen in einem Fach unter meinem Sitz.«

Buster kämpfte sich hoch, um sich auf sein eines Bein zu stellen. Er schwankte etwas, ob aufgrund mangelnder Übung oder wegen des Katers, konnte ich nicht erkennen.

»Wenn du glaubst, Sabrina wird da aufkreuzen, dann hast du sie nicht mehr alle. Das letzte, was die brauchen kann, ist irgendeine Verbindung mit Tonys Mord.« Ich fragte mich, ob Sinclair Singer vielleicht einen anderen Vertreter der Show schicken würde. Es wäre ausgezeichnete Öffentlichkeitsarbeit, wenn man so täte, als kümmerte man sich. Die Kirche würde ohne Zweifel vor Reportern nur so bersten.

Buster war damit beschäftigt, seinen Ersatzanzug hervorzukramen — ein klassisches Flanellgerät von Calvin Klein.

»Ruf mal diese Nummer an«, wies er mich an. Ich lernte sie sofort auswendig. »Ich geh dann ins Bad und mach mich frisch.« Er verließ seinen Rollstuhl und hüpfte den Flur hinunter zum Badezimmer. Ich fragte mich, ob er wohl von der Laufplanke schnell genug und leise genug hätte herunterhüpfen können, um nicht bemerkt zu werden.

Ich rief Busters Chauffeur an. Es stellte sich heraus, daß er den ganzen Nachmittag und die Nacht über einen Block weiter gestanden und gewartet hatte. Ich habe keine Ahnung, was ein Chauffeur dieser Tage verdient, aber der hier bekam eindeutig zuwenig Geld. Ich malte mir mit Lippenstift ein Gesicht und wartete. Plötzlich ertönte ein lautes Kreischen aus dem Bad.

»Kein heißes Wasser, tut mir leid«, rief ich in die Richtung.

Buster erschien zehn Minuten später und sah ausgesprochen wie ein Gentleman aus. Er hatte sich mit Wasser die Haare zurückgekämmt, was ordentlich wirkte. Ich beschloß, lieber in seiner Nähe zu bleiben, falls er noch etwas an Auskünften ausspucken wollte.

Das Auto, das draußen stand, war ein Van mit Behinderten-Nummernschild. Der riesige Chauffeur wartete auf dem Treppenabsatz. Er kam in den Hausflur, hob Buster in seinem Rollstuhl hoch und trug ihn die Treppe hinunter. Sanft setzte er ihn auf dem Bürgersteig ab. Ich schloß eilig meine Wohnungstür ab und folgte ihnen nach draußen. Es regnete leicht, ein schlechter Tag für meine Frisur. Ich stellte mich dem Fahrer vor, der inzwischen am Steuer saß und dort an irgendwelchen Knöpfen und Schaltern auf dem Armaturenbrett herumfummelte.

Er sagte: »Nett, Sie kennenzulernen, Mum. Ich heiße Simon.«

Er hatte den Cockney-Akzent, den man mit Punkbands aus den späten siebziger Jahren in Verbindung bringt. Aber selbst zu Zeiten meiner Punkphase in der High School hätte ich Simon wahrscheinlich nicht attraktiv gefunden. Er hatte Pockennarben im Gesicht, und seine Ohren waren wohl eine Sonderanfertigung. Und sein Körper auch. Groß wie Max war wunderbar, riesig war eklig.

»Was?« fragte Buster. Hatte ich etwas gesagt?

Die Seite des Wagens öffnete sich wie eine Thunfischdose. Eine rollende Auffahrt schob sich auf die Straße hinaus. Buster brachte seinen Stuhl auf Touren und fuhr hoch, während sie sich hinter ihm schon wieder aufrollte. Die Seite des Wagens schloß sich, als er drinnen angekommen war. Ich kletterte auf den Selbstmordsitz neben Simon.

»Beeindruckend, nicht wahr?« fragte Buster von hinten.

»Was?« fragte ich zurück, und Buster winkte genervt ab.

Ich gab Simon die Adresse in Bay Ridge und ging davon aus, daß wir mindestens einmal anhalten müßten, um uns durchzufragen. Aber er machte sich direkt zum Gowanus Parkway auf, als wäre er schon tausendmal da gewesen.

»Sie sind schon mal in Bay Ridge gewesen«, stellte ich fest.

»Nein, ich nicht, aber der Computerbildschirm schon.« Ich sah über seine Schulter auf den Bildschirm im Armaturenbrett. Eine Karte von Brooklyn flimmerte darauf, und eine blinkende weiße Linie wies von Park Slope nach Bay Ridge. Eine Anzeige in der Ecke sagte voraus, welche Ampeln rot oder grün sein würden. Des weiteren wurden Parkplätze, die groß genug für unser Gefährt waren, angezeigt, falls wir halten wollten. Das hier war eindeutig die aufwendigste Thunfischdose, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.

»Geld kann mir keine Liebe kaufen, Wanda«, sagte Buster.

Es kann ihm auch kein neues lebendiges Bein kaufen. »Es kann allerdings ein Frühstück für mich kaufen.« Ich hatte schließlich gestern abend kein richtiges Abendbrot zu mir genommen. Klar, meine Bauchdecke mochte wohl etwas flacher geworden sein, aber ich starb förmlich vor Hunger.

»Du wirst wahrscheinlich Ketchup auf dein Rührei tun«, sagte er treffend voraus. »Das kann ich mir nicht angucken.« Knauseriger Bastard, dachte ich.

Ich merkte, daß wir uns Bay Ridge näherten, als alle Restaurants, Reinigungen und Automechaniker Aldo’s, Vinnie’s oder Frankie’s hießen. Die Gegend war allerdings im wesentlichen eine Wohngegend. Entlang der Strecke zählte ich die christlichen Darstellungen auf den Veranden. Fünf blinkende Jesusfenster, drei Postkästen in Form eines Kruzifixes und zwei Krippen mit Esel — und das noch vor Thanksgiving, also dem vierten Donnerstag im November. Als wir tiefer nach Bay Ridge hineinkamen, wurden die Häuser immer größer und die Büsche immer eckiger. Die Häuser auf der Shore Road waren nicht die Brownstones, die man in Park Slope und in Brooklyn Heights findet. Es waren Villen, die denen in Short Hills vergleichbar waren, obwohl sie dichter gedrängt standen und kleinere Vorgärten hatten. Wir fuhren auf die Stadtmitte zu. Ich konnte Knoblauch riechen, als wir die Eighty-sixth Street hinunter fuhren, die Hauptstraße. Eine Kurve nach links, eine nach rechts, und wir setzten unser Auto auf unseren computergesteuerten Parkplatz, der sich einen Block entfernt vom Bestattungsinstitut Our Lady of the Crying Virgin befand.

Wir stiegen aus. Simon zog es vor, im Van zu warten. Buster raste den Bürgersteig hinunter; offensichtlich hatte er seinen Rollstuhl in den dritten Gang geschaltet. Er schlug mich um Längen auf dem Weg zum Bestattungsinstitut. Vor dem Gebäude befanden sich haufenweise Typen in abgewetzten Mänteln und mit stinkenden Zigarren im Gesicht, also entweder Journalisten oder Bullen.

Wir gingen hinein. Mrs. Felluti konnte ich gleich erkennen. Sie war diejenige Figur, die sich über den offenen Sarg geworfen hatte, über den armen Tony. Ich konnte nur seinen Kopf sehen: eine Perücke, dachte ich. Während ich Buster näher schob, griff der Duft der dutzendweise vorhandenen Blumenarrangements meine Nase an, wie es sonst nur die Kamikaze-Parfum-Verkäuferinnen bei Bloomingdales mit ihren Pröbchen tun. Das größte Blumenarrangement war über den geschlossenen Teil des Sarges drapiert. Alle Blumen waren weiß — Tulpen, Nelken, Rosen, jede weiße Blume, die es überhaupt gibt, war dabei.

Mrs. Fellutis Rücken hob und senkte sich in heftigem Schluchzen. Sie bewegte sich etwas nach rechts, und ich konnte auf diese Weise Tony besser sehen. Sein Kopf war sehr gut wieder zusammengenäht worden. Ich fragte mich, ob der eher makaber aussehende Mann in Schwarz, der hinter dem Sarg stand, wohl der Leichenbestatter war. Erstarrte hinunter auf Tonys Gesicht und schien sein eigenes Werk zu bewundern. Ich spürte, wie ein Welle von Katermüdigkeit und Erschöpfung über mich hinwegging. Ich mußte an die frische Luft. Ich begann, Buster wieder nach draußen zu schieben. Aber genau in dem Moment, als ich die Kurve im engen Gang zwischen den Kirchenbänken nahm, schoß Mrs. Felluti empor. Sie wandte sich plötzlich zu uns, und ihre Augen brannten in ihrem Gesicht. Sie schüttelte eine zitternde Hand in unsere Richtung und rief laut: »Halt!«

Die Augen eines jeden Trauergastes waren auf uns gerichtet, und ihre Blicke durchspießten uns förmlich, als wären wir Gegner in einer Schlacht. Mrs. Felluti kam auf uns zugeeilt, wobei ihre Stummelbeinchen auf flachen Absätzen förmlich wirbelten. Sie trug dasselbe Kleid, das sie bei der Pressekonferenz angehabt hatte. Ich konnte nicht vermeiden, daß ich einige Schritte zurückwich, als sie näher kam. Sie war rasch bei uns und stand nun dicht an der Seite von Busters Rollstuhl. »Sie sind der Sohn von diesem Monster, nicht wahr?« fragte sie.

»Er ist eigentlich ein fürsorglicher und sehr großzügiger Mensch.«

»Er ist böse. Ich weiß das. Ich habe gesehen, wie er mit dem Teufel paktiert.« Ihre Hände, die sie herabhängen ließ, machten Fäuste. Würde sie auch Buster mit dem bösen Blick verfluchen?

»Wann war das genau, bitte?« fragte Buster und gab sich große Mühe, höflich zu bleiben.

»Ich habe auch Sie gesehen, wie Sie mit dem Teufel paktieren«, sagte sie zu Buster — und dann blickte sie mir genau in die Augen.