Kapitel 13
… und Gottes Feuer
(673-674 n. Chr.)
»Das Meer ist eine grenzenlose Weite, darauf sich große Schiffe ausnehmen wie winzige Punkte; nichts gibt es dort als den Himmel zu Häupten und Wasser zu Füßen; wenn ruhig, so ist des Seemanns Herz verzagt, wenn stürmisch, schwinden ihm die Sinne. Traue ihm wenig, fürchte es sehr. Der Mensch auf See ist wie ein Insekt auf einem Splitter, bald verschlungen, bald zu Tode erschreckt.«
Warnung des Feldherrn Amr an den zweiten Kalifen Omar
Am Tag der Audienz war Pelagia so übernächtigt, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Von all dem, das sich in den Räumen des Palastes abspielte, blieben ihr nur verschwommene Erinnerungsfetzen: endlose Hallen, Marmorsäulen mit nestartig verschlungenen Kapitellen, mosaikglänzende Gewölbe, statuengleich aufgereihte Wachen, hochnäsige, geschraubt sprechende Beamte – und zuletzt der in schwere Brokatgewänder gehüllte Kaiser auf seinem Thron, vor dem sich alle auf den Boden warfen.
Eingebrannt in ihre Erinnerung hatte sich dafür Kallinikos' strahlendes Gesicht, als sich das Chalke-Portal wieder hinter ihnen geschlossen hatte und sie zu ihren wartenden Sänften gegangen waren. Vor allem aber die triumphierende Geste, als er, den prall gefüllten Beutel in der Rechten, ihr ins Ohr geflüstert hatte: »Kein Sterbenswort von dem, was du heute erfahren hast. Zu niemandem!«
Genickt hatte sie und ihre Lippen waren versiegelt geblieben. Gegenüber Patricius nicht weniger als gegenüber Irene, die sie am nächsten Tag freigekauft und zu ihrer persönlichen Dienerin gemacht hatte. Anfangs war das Mädchen nicht mehr als ein stummer Schatten gewesen, der bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Zwei dunkle, schreckgeweitete Augen, ein zitternder Mund und ein schlanker, noch fast knabenhafter Körper, über dessen helle Haut blutunterlaufene Striemen liefen. Nach Tagen erst, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht in eine neue Knechtschaft geraten war, hatte sie zu erzählen begonnen.
Wie sie als fünfzehnjähriges Waisenkind im Haus ihres Vormunds von Küchenabfallen gelebt hatte. Von der Armut des Dorfes, den Missernten, den Sarazenenüberfällen und den erbarmungslosen Steuereintreibern des Kaisers. Und von der scheinbaren Erlösung aus dem Elend, als ein Beauftragter des Statthalters erschien. Er wolle, wie er lächelnd ausrief, dem Auge wohlgefälligen Mädchen die Gelegenheit geben, in der Hauptstadt ihr Glück zu machen. Sie schilderte das Händereiben ihres Vormunds, als er die unnütze Esserin gegen zwei Goldstücke losgeworden war. Wie sie vor dem Priester einen heiligen Eid hatte schwören müssen, stets gehorsam zu sein. Und wie gerne sie das getan hatte, ein kleines Landmädchen voll Vorfreude auf das herrschaftliche Haus in Konstantinopel.
Konstantinopel, das jetzt zu Lande und zu Wasser vom Feind bestürmt wurde.
Statt der bewaffneten Banden, die anfangs das Gebiet westlich der großen Landmauern geplündert hatten, verheerten jetzt sarazenische Armeetrupps mit blutiger Gründlichkeit das Land. Kein Schaf, kein Rind, keine Rübe und kein Scheffel Weizen sollte mehr in die Hauptstadt gelangen! Der Hauptangriff jedoch erfolgte zur See. Seit die Frühjahrsstürme nachgelassen hatten, verging kein Tag, an dem nicht die Kumbarien des Feindes über das Propontismeer gefahren kamen. Massige Schiffe mit doppelten Ruderreihen, deren grell bemalte Rümpfe sich wie bösartige Insekten heranschoben. Decks voller Soldaten in silberglänzenden Kettenpanzern, aus deren Mitte die Schleudern unaufhörlich Steine, Töpfe voller Skorpione oder brennende Geschosse auf die Stadt regnen ließen. Gepanzerte Bugkastelle, auf denen Dutzende von Bogenschützen nur darauf warteten, die Mauerzinnen mit Pfeilschwärmen zu überschütteten.
Dann gellten auf den Türmen der Stadt die Trompetensignale, ächzten die gespannten Seile der Geschütze, legten die Verteidiger ihre Pfeile ein und ließen sie in Richtung der Sarazenen zischen, während sich die Einwohner in ihren Häusern verkrochen oder in den Kirchen niederknieten, um Gottes Gnade zu erflehen.
Immer wieder versuchten die massigen Kumbarien, die Einfahrt in das Goldene Horn zu erzwingen. Unter dumpfen Trommelschlägen, mit rhythmisch klatschenden Rudern, nahmen sie Fahrt auf, bis sie knirschend gegen die Kette prallten, die den Zugang versperrte. Zwar gelang es der dahinter lauernden kaiserlichen Flotte, sie mit Geschoßhageln zu überschütten und zurückzuschlagen, doch aus dem Hafenbereich heraus wagte sich die kleine Schar der Christenschiffe nicht. So konnten die Sarazenen ungehindert die Seemauern bestürmen. Dutzende von Schiffen schleuderten gleichzeitig ihre tödlichen Geschosse. Die Krankenhäuser der Stadt füllten sich mit Verwundeten; die Ärzte waren von Sonnenaufgang bis zum letzten Tageslicht dabei, Pfeile aus Körpern zu ziehen, Brandwunden zu versorgen oder zerschmetterte Glieder zu amputieren. Die Schmerzensschreie der Verwundeten und das Stöhnen der Sterbenden drangen hinaus auf die Gassen, wo sie sich mit dem Surren der Pfeile, den Warnrufen der Wachen und dem Gepolter einschlagender Steine mischten.
***
Von diesen Schrecken der Belagerung war in den Marmorhallen des großen Palastes, in dem Pelagia jetzt als Hofdame Dienst tat, nur wenig zu spüren. Ihre Pflichten waren gering – sie musste Kaiserin Anastasia morgens den golddurchwirkten Umhang reichen – und mehr als gut entlohnt, so dass sie ein Leben im Müßiggang hätte führen können. Doch sobald sie aus dem Chalke-Tor trat, um die Sänfte zu ihrem Haus zu besteigen, umbrandete sie jene fiebrige Erregung, die jenseits der Strenge des Hofes die Straßen erfüllte. Dann fragte sie sich, wann Kallinikos endlich fertig sein würde. Ihm war ein altes, von hohen Mauern umgebenes Lagerhaus am südwestlichen Ufer des Goldenen Horns zur Verfügung gestellt worden. Was immer er auch zum Bau seiner Wunderwaffen benötigen würde – er sollte es bekommen. Nur möge er sich um Himmels willen beeilen, hatte Kaiser Konstantinos ihn gen Schluss der Audienz ermahnt, bevor die Übermacht der gottlosen Sarazenen die Hauptstadt des Reiches in Trümmer legen würde. Kallinikos hatte sich tief verbeugt und gleich in die Arbeit gestürzt, wobei er zuerst große Mengen der benötigten Zutaten anforderte. Nafta und Sal Petrae gehörten dazu, die erst aus entfernten Provinzen herbeigeschafft werden mussten, ebenso gelöschter Kalk. Soviel hatte Pelagia noch mitbekommen, bevor sich der Baumeister in seinen geheimnisumwitterten Bezirk verkrochen hatte, um nur ja keine Stunde zu verlieren. Bald drangen donnerartige Geräusche, heller Schein und stinkender Rauch aus dem von Elitesoldaten bewachten Mauergeviert. Jeder, den Geschäfte in die Gegend führten, beschleunigte seine Schritte, bekreuzigte sich und murmelte etwas von bösen Geistern, die dort ihr Unwesen trieben.
Mit jedem auf die Mauer krachenden Steinbrocken, mit jedem einstürzenden Häuserdach, mit jedem blutenden Verwundeten, mit jedem weinenden Kind, das die Hand seines toten Vaters umklammerte – kurz, mit jedem weiteren Schrecken des Krieges wuchs Pelagias Unruhe. Zuletzt konnte sie die bleichen, unbewegten Gesichter der Hofdamen, ihre ganze hochnäsige Tatenlosigkeit nicht mehr ertragen. Sie fasste sich ein Herz, klopfte bei einem Nonnenkloster an und erklärte der verdutzten Äbtissin, sie wolle als Freiwillige in dem angeschlossenen Hospital arbeiten. Anfangs kostete es sie ungeheure Überwindung, eitrige Wunde auszuwaschen, Erbrochenes wegzuwischen und die Schreie der sich aufbäumenden Patienten zu ertragen, die von kräftigen Männern festgehalten wurden, während das Skalpell des Arztes in ihr Fleisch schnitt. So kam sie kaum dazu, an Patricius zu denken.
Eines Abends, als sie die Hand eines jungen Soldaten hielt, dem man vor zwei Tagen ein brandig gewordenes Bein abgesägt hatte und der gerade unter ihren beruhigenden Worten in den Schlaf gesunken war, vernahm sie plötzlich eine erstaunte Stimme.
»Du hier?«
Sie sah auf. Zwei blaue, von Fältchen umgebene Augen blickten sie aus einem mit leichten Sommersprossen übersäten Gesicht an. Unwillkürlich lächelte sie, doch dann erzählte sie in wenigen Worten von Ursos Tod, ihrer Audienz, und dass Kallinikos jetzt in des Kaisers Diensten stand. Seine Waffe erwähnte sie nicht, und der Priester, tief betroffen von Ursos Schicksal, schien auch kein Interesse an dem Baumeister zu haben.
»Und du«, fragte sie ihn mit gesenkter Stimme, »bist hier, um …«
»Ja«, nickte er, »um Trost zu spenden oder die letzte Ölung. Er hier«, dabei zeigte er auf den Mann, dessen Hand Pelagia noch immer hielt, »wird diese Nacht nicht überleben.«
»Wie kannst du das sagen?«, empörte sie sich.
»Ich weiß es einfach.«
»Ja, die Operation war furchtbar. Aber er hat sie überstanden. Heute ging es ihm schon besser!«
»Leider ist es so, wie ich sage«, antwortete Patricius und öffnete eine Ledertasche. »Diese Fähigkeit ist mir selbst unheimlich. Zum ersten Mal spürte ich den Tod, als ich sechs Jahre alt war.«
»Wie … kam das?«, fragte Pelagia verstört, »und wer ist damals gestorben?«
»Mein Vater«, antwortete der Priester und begann, ein Gebet zu murmeln.
Nachdem Patricius weitergegangen war, wachte Pelagia an dem Krankenlager. Als morgens die Vögel in dem kleinen Innenhof zu zwitschern begannen, merkte sie, dass der Soldat nicht mehr atmete und erschauerte.
***
Die Wochen vergingen, das Blutvergießen nahm kein Ende, die Brotpreise stiegen und noch immer war von Kallinikos' Waffen nichts zu sehen. Pelagia half weiter in dem Hospital, wo sie gelegentlich Patricius begegnete. So unheimlich ihr sein Gespür für den nahen Tod war, so sehr fühlte sie sich von seinem gelassenen Wesen angezogen, bewunderte sie seine Fähigkeit, auch für die hoffnungslos Kranken noch ein tröstendes Wort zu finden. Doch Zeit für persönliche Worte fanden sie nicht.
Am Abend des fünfzehnten Augusts sollte eine große Bittprozession von der Apostelkirche zur Hagia Sophia ziehen. Der Tag war sehr heiß gewesen, und als es dämmerte, traten der Patriarch Johannes, Kaiser Konstantinos und seine Frau Anastasia aus der Apostelkirche, wo sie am Porphyrsarkophag des heiligen Kaisers Konstantin gebetet hatten. Mit großen Kerzen in der Hand schritten sie die Straße entlang, während die letzten Strahlen der Abendsonne die Kuppel der Hagia Sophia in rötlichen Schimmer tauchten. Ihnen folgten die Bischöfe und der Hofstaat, danach kam eine Abordnung der Mönche des Studios-Klosters, deren monotone, nie endende Gesänge die Straßen erfüllten, schließlich die Patrizier in ihren weißen, langärmligen Tuniken. Zuletzt reihte sich das Volk in den Zug ein. Feiste Kaufleute, Rechtsgelehrte und Juweliere drängten sich neben Bettlern, Gerbern, Fleischhauern und Marktweibern. Für wenige Stunden waren alle Standesunterschiede ausgelöscht, zählte nur noch die gemeinsame Angst vor den Sarazenen. Eine gute Stunde später versammelten sich Tausende in der Hagia Sophia. Die riesige, nachtdunkle Kuppel wurde nur spärlich von unzähligen flackernden Lämpchen erhellt. Leuchtenden Perldiademen gleich hingen sie an Ketten, die zwischen den Säulen gespannt waren.
Nach dem Ende des Gottesdienstes, als es schon fast auf Mitternacht zuging und Pelagia in die Vorhalle trat, sah sie dort den großen, rothaarigen Iren im Gespräch mit einem Mönch stehen. Ihr Herz klopfte, als sie ihren ganzen Mut zusammennahm und ihn ansprach.
»Hast du einen Moment Zeit?«
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sie erblickte.
»Natürlich, gerne. Nur einen Augenblick, der Patriarch wollte mich noch sprechen.«
Pelagia ging zu einem der Portale, die in den von Fackeln erleuchteten Vorhof führten. Müde lehnte sie ihre Wange an die Wand und genoss die Kühle des Marmors. Die Steinmetze hatten die großen Platten in der Mitte aufgeschnitten, so dass die welligen Muster des Marmors gleichsam gespiegelt erschienen. Darüber verschwamm die Decke mit ihren Mosaiksternen im Dämmerschein.
Gedankenverloren musterte Pelagia die Gläubigen, die aus der Kirche traten. Ein gut aussehender, bärtiger Mann, der ebenfalls in der Vorhalle wartete, sah so oft zu ihr herüber, dass sie errötete und den Blick senkte. Als sie wieder aufsah, kam eine junge Frau den Weg von der Frauengalerie herab. Mit strahlendem Gesichtsausdruck, Hand in Hand, verließen beide die Vorhalle. Der Anblick des glücklichen Paares versetzte Pelagia einen Stich. Mit zweiunddreißig war ihre eigene Jugend vorbei. Was war aus ihren Träumen geworden, wohin ihr Leben entschwunden? In eitlem Ehrgeiz vergeudet, vom Schicksal zertreten, im Alltag zerronnen. Ihre Kinder tot, ihre Eltern wohl gleichfalls, ebenso wie Urso, dieser treue Freund. Und Patricius? Wo er nur blieb? Sie merkte, wie sich Gereiztheit in ihre Trauer und Müdigkeit mischte.
Endlich kam der Priester. »Lass uns woanders hingehen«, sagte er, »hier sind zu viele Menschen.«
»Hast du vielleicht Angst, der Patriarch könnte uns zusammen sehen?«, entfuhr es Pelagia.
»Nein, aber ich nehme an, dass du mit mir alleine reden willst«, antwortete er, ohne auf die Schärfe ihres Tons einzugehen. »Lass uns zum Milion gehen.«
Im Mondschein durchquerten sie schweigend den Vorplatz, bogen ab und traten bald unter den Viererbogen, der sich über dem vergoldeten Meilenstein wölbte. Hier war das Zentrum des Reiches, von dem aus alle Entfernungen gemessen wurden.
»Was hast du, warum wolltest du mich sprechen?«
Pelagia, auf diese direkte Frage nicht vorbereitet, schluckte. »Wie geht es dir?«, fragte sie zuletzt. »Wirst du jetzt Bischof?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Patricius. »Die Entscheidung liegt bei Johannes, dem Patriarchen.«
Beide schwiegen, während die Zikaden zirpten.
»Ich … ich denke über das Leben nach«, sagte sie, »über all das, was wir daraus hätten machen können. Wenn wir es uns nicht selbst verwehrt hätten. Ich ebenso wie du. Jeder auf seine Weise.«
Als Patricius sie nur schweigend ansah, fuhr sie fort.
»Du hast einmal gesagt, ein Priester könne eine Frau haben, nur ein Bischof nicht.«
»Ja, warum?«
»Und wenn ein verheirateter Priester Bischof wird, was geschieht dann mit seiner Frau?«
»So etwas kommt selten vor«, entgegnete er, »weil Verheiratete kaum je zu dieser Würde berufen werden.«
»Und wenn aber doch?«
»Dann muss die Frau in ein Kloster eintreten.«
Pelagia verschlug es die Sprache. »Was? Dann gilt das heilige Sakrament der Ehe plötzlich nicht mehr?!« Sie lachte. »Was Jesus wohl zu solchen Regeln gesagt hätte?«
»Ich glaube kaum, dass gerade du befugt bist, theologische Fragen zu erörtern«, gab er scharf zurück. »Warum interessiert dich das überhaupt?«
»Hast du deshalb nie eine Frau gefunden«, bohrte sie weiter, »weil du heimlich immer Bischof werden wolltest?«
»Nein, gewiss nicht«, Patricius schüttelte unwillig den Kopf, »sondern weil ich für meine Schuld büßen muss.«
»Indem du dich vor der Welt verschließt?« Pelagia versuchte, im Licht des Vollmondes sein Gesicht zu erkennen. »Da du mit sechs ins Kloster kamst, muss das vorher gewesen sein, oder?«
»Ja, nur will ich …«
»Hat das was mit dem Tod deines Vaters zu tun?«, unterbrach sie ihn, »den du vorausgeahnt hast?«
»So ist es. Bitte frage nicht weiter, ich habe seitdem mit niemandem darüber gesprochen.«
»Aber das war falsch!«, entgegnete sie und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Wer hat dir denn eingeredet, dass du dafür dein ganzes Leben lang büßen musst?« Patricius zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Meine Mutter. Und später die Mönche im Kloster. Aber bitte dring nicht weiter in mich, ich möchte nicht …«
»Doch, du möchtest!« Sie schrie es fast. »Deswegen hast du auf die Welt verzichtet. Dieses Geheimnis vergiftet noch heute dein Leben. Und du musst darüber sprechen, sonst wird es immer drückender – ganz gleich, wie viele Bußübungen du machst. Oder willst du so enden wie dieser widerliche Simeon? Warum kletterst du dann nicht auf die Säule des heiligen Thomas, draußen vor der großen Mauer? Die ist verwaist und wartet auf einen wie dich …«
»Bitte schweig. Simeon wie Thomas waren fromme Asketen, die …«
»Die ihr Leben mit sinnloser Selbstquälerei vergeudet haben. Ich verstehe nicht so viel von der Heiligen Schrift wie du. Aber soviel ich weiß, hat Jesus unter Menschen gelebt, ihre Nöte geteilt, war verzeihend und nicht fanatisch.« Pelagia atmete heftig, hielt kurz inne und fuhr ruhiger fort. »Und jetzt erleichtere dein Gewissen. Erzähle mir, was damals geschah. Ich bitte dich darum!«
Der Mann schwieg, und sie konnte sehen, wie er die Hände ineinander verknotete.
»Gut, aber ich brauche etwas Zeit. Lass uns ein Stück gehen, bis zum Ende des Hippodroms. Dort gibt es eine Stelle, von der aus man das Meer sehen kann.«
Pelagia nickte und sie passierten schweigend die Bogenreihen der Rennbahn zu ihrer Linken, bis sie eine Terrasse erreichten. Schräg unter ihnen lag der Julianshafen, dahinter glitzerte im Mondlicht das Propontismeer. Am Horizont, vor dem gegenüberliegenden Ufer, bildeten die Masten der ankernden feindlichen Flotte einen dunklen Wald.
»Daud Ibn Hassan, dessen Geliebte ich in Damaskus sein musste, hat mir einmal erzählt, dass sich die Araber anfangs nicht aufs Meer gewagt hätten«, brach Pelagia die Stille und deutete auf die Schiffe. »Wie man sieht haben sie ihre Angst überwunden. Du kannst das auch.«
»Ja, ich will es versuchen.« Patricius stützte seine Hände auf die Mauer und begann zu erzählen.
»Ich war das älteste von drei Kindern aus einer bitterarmen Familie. Wir lebten im Westen der Insel Irland, die ihr Hibernia nennt. Meine Mutter war älter als mein Vater, sehr fromm und oft verbittert. Sie war einst eine Schönheit gewesen, später aber durch eine Krankheit im Gesicht entstellt. So bekam sie nur einen armen Torfstecher zum Mann. Der aber war lebenslustig, trank gerne und liebte es, anderen Leuten Streiche zu spielen. Einmal warf er mit mir zusammen den Hühnern eines Bauern, der ihn verspottet hatte, heimlich in Met getauchte Brotstücke hin. Durch ein Astloch im Zaun sahen wir zu, wie das Federvieh über den Hof torkelte, gottsjämmerlich krächzte und zuletzt flügelschlagend im Staub herumzuckte. Dem Hühnerzüchter blieb vor Schreck die Luft weg. Er sah aus wie ein Schwein, das man würgt. Da prustete mein Vater laut los und wir mussten beide rennen …«
Patricius schwieg, und Pelagia beobachtete, wie ein wehmütiges Lächeln über sein Gesicht zog.
»Meine Mutter keifte natürlich furchtbar, als wir von dem Streich erzählten, aber ich liebte meinen Vater umso mehr. Zu mir war er immer sehr zärtlich, nannte mich seinen großen Jungen und ließ mich auf seinen Schultern reiten. Bis zu einem Frühjahrstag vor nunmehr sechsunddreißig Jahren, als wir gar nichts mehr zum Essen hatten. Da drückte meine Mutter meinem Vater einen Korb in die Hand, um auf den Klippen Möweneier zu sammeln. Er war vom Vorabend noch leicht angeheitert, zog aber kleinlaut los und nahm mich mit. Irgendwie kam er mir unheimlich vor, anders als gewöhnlich. Als sei eine Wolke vor seinem Gesicht. Aber damals wusste ich noch nicht, was das bedeutet … Ich hatte einen Vogel dabei, den er mir aus Treibholz geschnitzt hatte, mit Möwenfedern als Flügel. Während er die Nester aushob, warf ich meinen Vogel hoch und tat so, als ob er fliegen könne. Dabei kam ich immer näher an den Rand der Klippe.«
Wieder verstummte der Priester, doch diesmal war sein Gesichtsausdruck wie versteinert.
»Plötzlich war mein Vogel weg – über die Klippe gefallen. Ich kroch zum Rand und sah ihn etliche Fuß tiefer auf einem Felsvorsprung liegen. Viel zu weit für mich. Da fing ich an, laut zu heulen, denn ich liebte den kleinen Vogel sehr. Auf einmal kniete mein Vater neben mir. Er fragte nicht, was passiert sei, schimpfte nicht, sondern sagte nur: ›Weine nicht, ich hole ihn.‹ Ich hatte große Angst, denn hundert Fuß tiefer donnerte das grüne Meer gegen die Klippen. Nichts als Strudel, Wellen und aufspritzende Gischt. In mir war eine Angst, die mir den Atem abschnürte. Aber mein Vater würde es schaffen. Er konnte alles, wenn er wollte. So sah ich zu, wie er Handbreit um Handbreit den Felsen hinabkletterte. Unterwegs fand er noch ein Möwennest, reichte mir die Eier hinauf und stieg weiter ab. Ich sah seine an die Felsen gekrallten Hände, die losließen, um etwas tiefer neuen Halt zu finden. Manchmal auch seine Füße, wenn er ein Bein abspreizte, um nach einer sicheren Trittstelle zu tasten. Und dann war er bei dem Vogel. Langsam bückte er sich, immer die Hände am Felsen, hob ihn auf und hielt ihn triumphierend hoch. Ich klatschte Beifall und er strahlte. Wie ein kleiner Junge …«
Patricius wandte sich um und sah Pelagia an. »Das strahlende Gesicht werde ich nie vergessen. Im nächsten Augenblick löste sich ein Stein unter seinem Fuß und polterte in die Tiefe. Ich sehe noch seine Hände, die sich an eine Felskante krallten, ohne den Vogel loszulassen. Aber die Kante war glitschig von Möwenkot, und so rutschen seine Finger ab. Nach und nach, Daumenbreite um Daumenbreite. Dann muss er gemerkt haben, dass es zu spät war. Er ließ los und schrie. Ein hilfloser Schrei des Entsetzens, während sein Körper nach hinten kippte. Zuerst langsam, dann immer schneller stürzte er hinab, überschlug sich mehrfach, bis er inmitten der weißen Gischt aufprallte. Auch ich schrie und heulte.« Er stockte kurz. »Ich habe nie wieder etwas von ihm gesehen. Wahrscheinlich war er sofort tot. Stundenlang starrte ich über die Klippe, bis ich am Ende den Korb nahm und nach Hause schlich. Da hatte ich schon keine Tränen mehr.« Seine Stimme stockte, so dass Pelagia stumm ihre Hand auf seinen Arm legte.
»Und dann?«
»Meine Mutter schlug wie eine Wahnsinnige auf mich ein und schrie, alles sei meine Schuld. Ich hätte meinen Vater auf dem Gewissen. Jetzt müssten wir verhungern, und er würde in die Hölle kommen, weil er ohne die letzte Ölung gestorben sei. Zuletzt verfiel sie auf den Gedanken, mich in ein Kloster zu stecken. Dort könnte ich für meine Sünde büßen und durch fromme Werke seine Seele aus der Hölle holen.« Traurig lächelte er sie an. »Jetzt kennst du meine Geschichte.«
»Ich verstehe. Und so hat man einem sechsjährigen Jungen eingeredet, am Tode seines Vaters schuld zu sein.«
»Aber ich bin es doch!«
»Nein, das bist du nicht. Überlege doch einmal: Wenn du spüren konntest, dass dein Vater sterben würde, dann war sein Schicksal vorherbestimmt! Dann hing es nicht von deiner Handlung ab. Du warst noch ein kleines Kind, allenfalls ein Werkzeug des Schicksals. Auf keinen Fall war es deine Schuld. Und deshalb ist es falsch, dass du mit deinem Leben dafür büßen sollst.«
Patricius schaute sie ungläubig an, schüttelte langsam den Kopf, strich sich über die Stirne. »Mein ganzes bisheriges Leben falsch? Ich glaube nicht, dass du es dir so einfach machen kannst.«
Pelagia spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. »Dann mach es dir halt schwer«, fauchte sie. »Wirf dein Leben weiter weg. Bis nichts mehr davon übrig ist. Ich gehe jetzt nach Hause!«
Sie drehte sich abrupt um und ging mit raschen Schritten, während Patricius ihr stumm folgte.
An ihrer Haustüre angekommen, räusperte er sich. »Du hast doch vorhin den Namen deines … nun, deines Herrn in Damaskus erwähnt. Hieß er nicht Daud Ibn Hassan?«
»Ja und? Was geht dich das an?«, fragte sie unwirsch.
»Nun, gestern sind einige christliche Seeleute, die man zum Flottendienst gepresst hatte, von einem Sarazenenschiff gesprungen, das die Kette rammen wollte. Sie wurden aus dem Wasser gefischt und haben uns manches über die Flotte erzählt. Der Admiral ist ein gewisser Busr Ibn Abi Artat.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Warte. Sie haben auch von einem Stellvertreter berichtet, der sehr fähig, aber auch ein fanatischer Christenhasser sein soll. Sein Name ist Daud Ibn Hassan.«
Pelagia erstarrte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Und wenn schon? Er ist sicher nicht meinetwegen hier. Gute Nacht!«
Doch im Haus merkte sie, dass sie zitterte.
Da tauchte auf einmal die schlaftrunkene Irene auf und reichte ihr ein versiegeltes Schreiben. »Das wurde heute Abend abgegeben.«
»Danke.« Pelagia erbrach bebend das Siegel und las die Worte. »Sei in drei Tagen auf der Seemauer. Kallinikos.«
***
Am Morgen des dritten Tages stieg Pelagia bereits bei Sonnenaufgang auf die Seemauer. Auf geheimnisvolle Weise hatte es sich herumgesprochen, dass dieser Tag anders sein würde. Vielleicht anders als alle, die seit Beginn der Belagerung verstrichen waren. So füllten sich die Wehrgänge mit Menschen, die sich sonst nie dahin gewagt hätten. Wo an einem gewöhnlichen Tag alsbald die feindlichen Geschosse einschlagen würden, drängten sich Kaufleute, Händler, Bettler, Bogenschützen, Advokaten, Priester, Huren und Soldaten.
Pelagia stand in einer Ecke auf einem Haufen Steinbrocken, den Geschossen einer Wurfmaschine, und sah zum Hafen hinunter. Plötzlich erblickte sie den rothaarigen Priester und fühlte einen Stich im Herzen. Seit drei Tagen hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Immer häufiger fragte sie sich, ob ihre unbarmherzige Art nicht falsch und zu verletzend gewesen war. Woher nahm sie das Recht, den Wahn zu zerstören, auf den er sein Leben gegründet hatte? Nur weil sie, nach dem Schiffbruch all ihrer Träume, gerade ihn zum Mann wollte? Oder weil sie glaubte, besser zu wissen, was für ihn gut war? Würde er mit der Wahrheit und dem Wissen um ein vergeudetes Leben wirklich glücklicher sein? Wie würde er sich entscheiden?
»Eine so schöne Frau, aber mit so düsterer Miene. Seid Ihr in Angst?«
Pelagia schrak auf und musterte den Mann, der sie angeredet hatte. Seine Sprechweise erinnerte sie an Mizizios, und auch der Kleidung nach musste er ein armenischer Militär aristokratischer Herkunft sein. Er trug eine blaue Filzkappe, unter der schwarze Haare hervorquollen, in die sich einzelne graue Strähnen mischten. Er hatte entschlossene Augen, einen kräftigen Schnurrbart und einen vollen, ironisch lächelnden Mund. Sein gelber, bestickter Umhang wurde nur am Hals von einer goldenen Kette zusammengehalten, so dass der breite Militärgürtel sichtbar blieb. Daran baumelte ein langes Schwert in einer goldverzierten Scheide.
»Nein, nicht mehr als wir alle«, entgegnete sie, lächelte und zupfte unwillkürlich ihr Schultertuch zurecht. Doch bevor sie etwas hinzufügen konnte, wies der Armenier nach vorne, aufs Meer.
»Seht, es geht los!«
Im dumpfen Rhythmus der Trommeln tauchten die Ruder der feindlichen Schiffe ins Wasser. Auf breiter Front nahmen die schwerfälligen Kumbarien Fahrt auf und steuerten übers Meer in Richtung der Stadt. Bald würden sie in Schussweite sein, würde man die Bogenschützen und die Männer an den Katapulten erkennen. Unter den Zuschauern machte sich Unruhe breit; die ersten sahen sich zögernd nach den Treppen um, die von der Mauer hinabführten.
Da gellten von unten Trompetenstöße empor. Mit einem Male drängten sich alle nach vorne, um in den Hafen hinunterzuspähen.
»Sie laufen aus!«
Der Ruf pflanzte sich durch die Reihen fort, fassungslos wiederholt von denen, die hinter der Mauer nichts zu sehen vermochten, triumphierend bekräftigt von den anderen, die zwischen den Zinnen hindurchblickten. Auch Pelagia wiederholte: »Sie laufen aus!«
Zum ersten Mal seit Beginn der Belagerung verließen die christlichen Schiffe den schützenden Hafen! Es mochten nicht mehr als einige Dutzend Dromonen sein, die sich der sarazenischen Übermacht stellten. Eine nach der anderen fuhren die zweimastigen, etwa hundert Fuß langen Galeeren aus dem Hafen, auf jeder Seite von fünfzig in Doppelreihen übereinander angeordneten Ruderern vorangetrieben. Bogenschützen drängten sich auf dem erhöhten Bugkastell, die Gesichter von Visierhelmen geschützt, kurz unterhalb der Oberfläche pflügte der Rammsporn durchs Wasser. In der Mitte jedes Schiffes, um den großen Mast herum, erhob sich das viereckige, befestigte Xylokastron. Dort standen Elitesoldaten in silberglänzenden Rüstungen, bereit, ihre Bögen zu spannen, die Schleudern zu bedienen oder die Feinde im Nahkampf niederzumetzeln. Doch nicht nur die großen Dromonen, auch eine Unzahl anderer Boote schwärmte jetzt aus dem schützenden Hafenbereich. Bald wimmelte die See vor den Mauern der Stadt vor Schiffen, die sich rasch dem Feinde näherten. Leicht schwankende Masten, schräge Rahen mit gerefften Segeln, flatternde Wimpel, glänzende Helme, bunt bemalte Rümpfe, rhythmisch ins Wasser tauchende Ruder, dazu das dumpfe Dröhnen der Trommeln – alles bildete ein majestätisches Schauspiel. Doch Pelagia konnte es nicht genießen, denn ihr war nur allzu bewusst, dass hier Tausende von Männern aufeinander zusteuerten, getrieben von einem einzigen Willen: Sich gegenseitig zu töten.
Ein ungleicher Kampf, das war offensichtlich. Die Sarazenenflotte, deren mehrere Hundert Kumbarien das ganze Propontismeer erfüllten, hatte ihren Vormarsch verlangsamt. Vielleicht wollte sich der Admiral erst Klarheit über die Absichten der Christen verschaffen, bevor er die endgültige Schlachtordnung wählte.
Auf irgendeinem dieser Schiffe, dachte Pelagia, vielleicht auf dem zweitgrößten, an dessen Hauptmast eine große grüne Fahne flatterte, müsste jetzt Daud stehen, erstaunt über die unerwartete Tollkühnheit der Nasrani. Ob er sich Gedanken machen würde, warum diese Handvoll Schiffe dem sicheren Untergang entgegenfuhr? Ob ihm eine andere Möglichkeit in den Sinn käme, als dass die letzten Seeleute der Rum als Märtyrer für ihren Glauben sterben wollten, bevor ihre Stadt geplündert und verbrannt wurde?
Jetzt hatten sich die vordersten Reihen der Schiffe bis auf Schussweite genähert. Pelagia konnte erkennen, wie auf den feindlichen Kumbarien die Wurfmaschinen bereit gemacht wurden. In hohem Bogen flogen die ersten Geschosse durch die Luft, klatschten vor und neben den christlichen Schiffen ins Wasser. Vereinzelt krachte bereits ein Stein in die Takelage, riss eine Rah herunter oder schlug auf Deck inmitten der Besatzung ein. Doch die Dromonen setzten ihre Fahrt fort, eine neben der anderen. Im Schutz der großen Rümpfe folgten ihnen die Schwärme kleiner Boote.
Die Sarazenenflotte hatte den Vormarsch wieder aufgenommen, im Takt peitschten ihre Ruder ins Wasser. Doch anstatt gleichfalls zu versuchen, die zum Rammen benötigte Geschwindigkeit zu gewinnen, legten die Dromonen schlagartig ihre Ruder an, schleppten sie durchs Wasser und verloren schnell an Fahrt. Plötzlich, auf ein Flaggensignal hin, traten auf allen Christenschiffen die Schleudern in Aktion. Sausend stiegen ihre Geschosse in den Himmel, um kurz darauf wie ein Hagel auf die Sarazenenflotte niederzuprasseln. Doch nicht die üblichen Steine kamen da angezischt, sondern Keramiktöpfe, die dünne Rauchfahnen hinter sich ließen. Sobald sie auf den Decks der Kumbarien aufschlugen, zerplatzten sie mit einem lauten Knall. Beißender Rauch entwich, Flammen schossen empor, Feuerpfützen breiteten sich aus. Schreiend flohen die Soldaten, manche sprangen ins Wasser, während einige besonders Tapfere versuchten, die Flammen zu löschen. Doch das waren nicht die üblichen, mit glühender Holzkohle gefüllten Feuertöpfe – gegen diesen Brand konnte Wasser nichts ausrichten. Zischend verdampfte es, ohne dem flüssigen Feuer etwas anhaben zu können, das sich wie ein Raubtier in das Innere der Rümpfe fraß. Zwei Schiffe trieben bereits dahin, in Rauchwolken gehüllt; bei einem halben Dutzend anderer gerieten die Ruder außer Takt. Sie wurden langsamer, drehten sich und blockierten den folgenden Kumbarien den Weg. Einige konnten nicht schnell genug abbremsen; bis zum Ufer war das Splittern der Planken zu hören, als sich die Rammsporne in die vor ihnen treibenden Rümpfe bohrten.
Doch nach wie vor war die Übermacht der Sarazenenschiffe ungebrochen. Nach einer kurzen Phase der Verwirrung würden sie die Christenflotte umzingeln, die Besatzungen mit einem Pfeilhagel vom Deck fegen, den Dromonen die Ruder abscheren oder sie in Grund und Boden rammen. Busr Ibn Abi Artat war ein in vielen Schlachten erfahrener Admiral. Eine Viertelstunde, mehr nicht, dann hätte er seine Überraschung überwunden, die Taktik geändert und die Schlachtordnung neu formiert.
Doch diese Viertelstunde sollte ihm nicht vergönnt sein.
Auf ein Trompetensignal hin lösten sich jetzt die kleinen, wendigen Boote aus dem Schutz der Dromonen. Mit raschen Ruderschlägen schoben sie sich zwischen die Rümpfe der gegnerischen Schiffe, unerreichbar für deren Steinschleudern. Oben waren sie mit Holzdächern versehen, die mit nassen Tierhäuten bespannt waren, so dass selbst die Pfeile der Bogenschützen ihnen nichts anhaben konnten. An den Seiten schien es, als ragten leicht nach oben gerichtete Baumstämme über die Reling.
»Was wollen diese Schiffchen nur gegen die Kumbarien ausrichten?«, murmelte der Armenier kopfschüttelnd.
Pelagia hätte es ihm sagen können, denn mit einem Schlag begriff sie den Plan, der hinter dem Manöver stand. Doch sie lächelte nur. »Wartet ab. Gleich werden wir es sehen.«
Dutzende und Aberdutzende kleiner Boote schwärmten nun zwischen den feindlichen Kumbarien hindurch, die vollauf damit beschäftigt waren, ihre Fahrt zu verlangsamen und einander auszuweichen. Auf dem Admiralsschiff sausten die Flaggen empor, um neue Befehle zu übermitteln. Da, ein erneutes Trompetensignal, und mit einem Schlag schienen sich die Pforten der Hölle zu öffnen.
Zuerst sah Pelagia, wie aus den überstehenden Stämmen Blitze schossen, gefolgt von Rauchwolken. Einen Augenblick später hallte der erste dumpfe Knall übers Wasser, gefolgt von einer nicht enden wollenden Donnerserie. Es klang, als fielen riesige Hagelkörner auf ein Holzdach. Aus den Stämmen der Boote, die in Wahrheit lange, mit Kupfer ausgekleidete Rohre waren, schossen Feuerstrahlen auf die Kumbarien. Feuer, das klebte und eine brennende Haut zu bilden schien, die alles überzog: Ruder, Bordwände, Takelage, Masten – und Menschen. Pelagia vermeinte, die Schreie derer zu hören, die sich in die Fluten stürzten, wo sie kopflos um sich schlugen, bis sie vom Gewicht ihrer Kettenhemden hinabgezogen wurden. Auf immer mehr Kumbarien brach Panik aus, weder die Soldaten an Deck noch die Ruderer darunter gehorchten mehr den von ihren Offizieren geschrienen Befehlen. Jeder wollte nur noch sein Leben retten oder zumindest dem qualvollen Feuertod entgehen.
Während die großen, plumpen Sarazenenschiffe führungslos gegeneinanderprallten, schwärmten die wendigen Boote weiter in den feindlichen Flottenverband hinein, Feuer speiend und Tod bringend. Inzwischen hatten auch die christlichen Dromonen wieder Fahrt aufgenommen, von klatschenden Rudern vorangetrieben schossen sie auf die Feinde zu. Krachend bohrten sich ihre Rammsporne in die Rümpfe der Kumbarien, die in vorderster Front dahintrieben. Bald zeigten die ersten Schlagseite, legten sich immer weiter über, dann tauchten die Rahen in die Meeresoberfläche, strömte rauschend Wasser übers Deck und sie versanken, während die letzten Seeleute über Bord sprangen. Dahinter wurden immer mehr Schiffe zu schwimmenden Scheiterhaufen, auf denen sich die Flammen voranfraßen, bis sie das ganze Deck einhüllten und an den Masten emporzüngelten. Pelagia sah, wie das große Schiff mit der grünen Fahne von den Feuerbooten umzingelt wurde, wie die Soldaten an Bord die für die Schleudern bestimmten Steine über die Reling wuchteten, um sie auf die Angreifer zu stürzen. Zwei Boote versanken mit zerschmetterten Dächern, doch die übrigen feuerten nur umso heftiger, bis das große Schiff auf allen Seiten von Flammen eingehüllt war. Die Besatzung drängte sich in dem erhöhten Mittelkastell zusammen, doch bald fraß sich der Feuerbrand übers Deck und die Menschen verschwanden hinter einem Vorhang aus rotem Rauch. Eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gab, dachte Pelagia voll Schaudern, ganz wie es Kallinikos verhießen hatte.
***
Am späten Nachmittag waren weit über Hundert Kumbarien versenkt, der Rest auf der Flucht. Rauchschwaden verdunkelten den Himmel, als sei bereits die Nacht hereingebrochen; die Luft war von beißendem Gestank geschwängert. Pelagia wurde immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt, konnte sich aber dennoch von dem schrecklichen Anblick kaum losreißen. Auf dem Wasser trieben verkohlte Balken, Taue und leere Fässer, an die sich Schiffbrüchige klammerten. Die christlichen Boote fischten die Überlebenden heraus, die auf den Sklavenmärkten noch einen guten Preis bringen mochten, während auf der Mauer die Einwohner Konstantinopels in einen Freudentaumel verfielen. Verblüfft hatte Pelagia es zugelassen, dass der Armenier sie in dem allgemeinen Überschwang umarmte. Als er gehen musste und sie fragte, wo er sie erreichen könne, nannte sie nach kurzem Zögern ihre Adresse. Von ihm wusste sie nicht mehr als seinen Namen und dass sein Wohnsitz, wie er sagte, nördlich des Senatspalastes am Konstantinsforum läge. Er mochte schon an die fünfzig sein, aber sein markantes Gesicht und seine entschlossene Art gefielen ihr.
Als sie langsam von der Mauer herabstieg, schob sich ein Menschenstrom durch ein Tor in der Stadtmauer. Alle wollten zum Hafen, um die zurückkehrenden Schiffe zu begrüßen. Gegen ihren Willen wurde Pelagia mitgerissen. Am Kai jubelte und tobte die Masse, Mönche umarmten Huren, reiche Händler drückten Bettlern Silbermünzen in die Hand. Selbst Wirte schenkten kostenlos Wein aus und die sonst nur gravitätisch dahinschreitenden Advokaten und Hofbeamten tanzten wie Besessene. Plötzlich erblickte sie in dem Getümmel einen großen, rothaarigen Mann, der ihr zuwinkte und sich unter Aufbietung aller Kräfte durch die Menge herankämpfte.
»Pelagia – wie wunderbar, dich hier zu treffen! Gerade an diesem Tag!«
»An dem Gott von seiner Gewohnheit abgelassen hat, seine christliche Herde zu strafen?«, konterte sie unwillkürlich.
Der Priester sah sie vorwurfsvoll an, dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ja, vielleicht hast du Recht. Vielleicht haben wir genug gebüßt. Und ich auch.«
Pelagia zog die Augenbrauen hoch. »Bei unserem letzten Treffen warst du da noch anderer Meinung.«
»Ja und? Darf ich nicht nachdenken? Darf ich nicht erkennen, dass der größte Teil meines Lebens von fremden Gedanken bestimmt war, nicht von meiner eigenen Erkenntnis?«
»Doch, das darfst du.« Sie beobachtete eine Dromone, die soeben ihre Ruder anlegte und in den Hafen glitt. »Nur hat Erkenntnis ohne Handeln wenig Wert.«
»Da hast du Recht. Deshalb habe ich beschlossen, die mir gestern angebotene Bischofswürde auszuschlagen.«
»Einfach so?«, verwunderte sie sich, »und von was willst du leben?«
»Ich könnte mir die soeben frei gewordenen Stelle als Oberaufseher über die sechshundert Bediensteten der Hagia Sophia erbitten.«
»Und wenn dir der Patriarch diesen Wunsch versagt?«
Patricius zögerte, ergriff ihren Arm. »Dann werde ich ein einfacher, schlecht entlohnter Priester. Auch dann bin ich frei, mir eine Frau zu nehmen – wenn sie mich trotzdem lieben kann.« Seine Stimme stockte. »Würdest du mich wollen?«
Pelagia schluckte. In dem Augenblick, da sie nur ein Wort sagen musste, um ihren lang gehegten Wunsch erfüllt zu sehen, plagten sie Zweifel und Angst vor dieser Bindung. Würde sie die Liebe dieses Mannes erwidern können? Hatte sie überhaupt jemals geliebt? Sanft schob sie seine Hand zur Seite.
»Eine Frau, die schon in den Armen eines anderen lag?«
»Ja, die will ich. Nach Kirchenrecht warst du nicht verheiratet, Daud hat dir bloß Gewalt angetan.«
Pelagia hatte das anders in Erinnerung, von den Nächten mit Mizizios ganz zu schweigen. Doch sie nickte nur.
»Eine Frau, die hinkt und nicht mehr jung ist? Die dir vielleicht keine Kinder mehr schenken kann?«
»Ja, die will ich. Du bist wunderschön. Und ob wir noch Kinder haben werden oder nicht, liegt in Gottes Hand.«
»Aber bist du dir auch sicher, dass du eine Frau erträgst, die ihren eigenen Willen hat? Die nicht einfach alles glaubt, was ein Papst, der Patriarch oder ihr Ehemann verkündet?«
Patricius seufzte, dann schmunzelte er. »Ich bin mir sicher. Und vielleicht hat Gott ja bestimmt, dass meine Prüfungen noch nicht zu Ende sind …«
»Das wäre wohl der widersinnigste Heiratsgrund, von dem ich je gehört habe!«
»Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht kränken«, lenkte Patricius mit einem Lächeln ein. »Willst du meine Frau werden?«
Pelagia betrachtete das Meer. Das Meer, das sie von Karthago nach Rom getragen hatte, als junges Mädchen voller Hoffnungen. Das Meer, auf dem sie als Sklavin nach Alexandria verschleppt worden war, krank und elend im Bauch des Sarazenenschiffes. Das Meer, das heute eine ganze Flotte mit Tausenden von Männern verschlungen hatte. Das Meer, das so lebendig und unberechenbar war wie das menschliche Dasein.
»Vielleicht«, sagte sie leise, wie zu sich selbst, »vielleicht will ich das.«