Kapitel 7
Tod in Daphne
(668 n. Chr.)
»Jahrelang bedrückte er das Volk, die Pächter und Landbesitzer der Provinzen Calabrien, Sizilien, Afrika und Sardinien durch Abgaben auf Ländereien, durch Kopfsteuern und Frachtzölle mit nie zuvor gekannten Härten, sodass Frauen von ihren Männern und Söhne von ihren Eltern getrennt wurden; soviel zuvor Unerhörtes erlitten sie, dass niemand mehr hoffte, auch nur zu überleben. Er ließ sogar die Kelche und die Gerätschaften aus Gottes heiligen Kirchen wegschleppen, so dass nichts zurückblieb.«
Das Buch der Päpste über Kaiser Konstans
Die Frau zögerte, dann nahm sie erneut einen der blutroten Korallenäste und hielt ihn prüfend hoch. Der Mann, der auf der anderen Seite des Tisches saß, beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Er trommelte mit den Fingern auf die Holzplatte und runzelte die sonnenverbrannte Stirne.
»Was soll das Ganze?«, entfuhr es ihm schließlich. »Das ist beste Ware, selbst getaucht! Von meinem Sohn und mir«, ergänzte er und strich mit sichtlichem Stolz durch das Haar des etwa fünfzehnjährigen, dunkel gelockten Jungen, der neben ihm stand. »Wollt Ihr nun kaufen oder nicht?«
»Ich sage ja nichts gegen die Qualität, Petros«, antwortete sie beschwichtigend in einem Griechisch, dem kaum jemand angemerkt hätte, dass es nicht ihre Muttersprache war. »Nur über den Preis müssen wir noch reden …«
»Wir reden schon viel zu lange!«, grollte der Korallentaucher, dem es sichtlich widerstrebte, mit einer Frau feilschen zu müssen, auch wenn sie noch so anziehend aussehen mochte. Doch Pelagia blickte ihr Gegenüber nur freundlich an, ohne sich anmerken zu lassen, wie es in ihr zuging. Sie brauchte diesen Handel noch dringender als der Taucher, der seine ständig wachsende Familie ernähren musste. Schon fünf Jahre saß sie nun auf dieser Insel fest, ohne ihrem Ziel auch nur ansatzweise näher gekommen zu sein. Am Kaiserhof führte sie nicht mehr als eine geduldete Randexistenz, und seit die Sarazenen vor zwei Jahren erneut die Provinz Africa überfallen hatten, war auch von ihrer Familie kein Lebenszeichen mehr nach Syrakus gelangt, so dass selbst dieser Rückweg versperrt zu sein schien.
Immerhin: Als die mitgebrachten Goldstücke zur Neige gegangen waren, hatte ihr das Schicksal die Hand in Gestalt eines Juweliers gereicht. Sie war rein zufällig in seinem Laden gewesen, um sich Ohrringe anzusehen, die sie sich, wie sie wusste, doch nie würde leisten können, als ein reisender Händler dem beschäftigten Mann Korallen angeboten hatte. Ohne Hintergedanken hatte Pelagia sich eingemischt, mindere Ware aussortiert und dem Juwelier zu einem vorteilhaften Kauf verholfen. Als er daraufhin wissen wollte, woher diese Kenntnisse stammten, hatte sie ihm erzählt, dass sie in Karthago viele Stunden im Laden von Samuel verbracht hatte. Einem alten, einige Jahrzehnte zuvor unter Kaiser Herakleios zwangsgetauften Juden, der damals gerne bereit gewesen war, dem lebhaften Mädchen zu zeigen, worauf es bei der Beurteilung von Korallen und edlen Steinen ankam. Mit diesem Wissen hatte es Pelagia geschafft, für den Juwelier in Syrakus die Einkäufe zu übernehmen. Dazu ritt sie, von einem Diener begleitet, zu den Küstendörfern, wobei ihr Verdienst davon abhing, wie günstig sie einkaufen konnte. Doch heute hatte sie weder die Zeit noch die Geduld, stundenlang zu feilschen, so dass sie zu einer neuen Taktik greifen musste.
Unter den aufmerksamen Augen des Tauchers nahm Pelagia ein Säckchen, füllte den größten Teil der Korallen hinein, verschnürte es mit einem Lederriemen und erhob sich.
»Petros«, sagte sie dann, »komm her.«
Mit misstrauischem Blick folgte der Mann ihrer Anweisung.
»Streck deine Hände aus«, bat sie ihn und entnahm ihrem Beutel einen Solidus. Als der Mann mit offenen Handflächen vor ihr stand, drückte sie ihm in die eine Hand die Goldmünze, in die andere den Korallenbeutel.
»Du hast Recht«, meinte sie gelassen, »wir wollen nicht lange feilschen. Gib mir eines von beiden zurück, aber überlege wohl!«
Mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab, als ginge sie der Handel nichts mehr an, und ließ ihren Blick über das friedliche Dorf schweifen, dessen einstöckige, weiß gekalkte Häuser sich den Hang hinabzogen. Die Bewohner waren vor Jahrzehnten aus Griechenland geflohen, um sich vor den eindringenden Sklavinoi-Horden in Sicherheit zu bringen. Ihre Fischerboote schaukelten im Hafen, dahinter erstreckte sich das azurblaue Meer, dessen Wellen kleine Schaumkämme trugen, die so weiß waren wie die Möwen, die kreischend am Himmel segelten. Im Dorf saßen Männer und flickten Netze neben Körben voller Schwämme. Alte Frauen stickten, auf der Treppe zu einer kleinen Kirche spielten Kinder Fangen. Im Schatten eines knorrigen Olivenbaums döste ein Hund, und der süßliche Duft von Glyzinienblüten mischte sich mit dem Salzgeruch des Meeres. Beim Anblick dieses Bildes beschaulicher Zufriedenheit spürte Pelagia einen Stich im Herzen, wurde von einem Gefühl des Neides erfüllt, Neid auf dieses einfache Glück, das ihr nicht vergönnt war.
Abrupt wandte sie sich um, musterte mit abschätzendem Blick den Taucher, der noch immer wie gelähmt auf seine Hände starrte, und mahnte ihn mit leicht spöttischem Unterton: »Petros, entscheide dich!« Sie wusste, dass es einfachen Menschen wie ihm fast unmöglich war, auf ein Goldstück zu verzichten, das bereits in seiner Hand glänzte. Darauf beruhte ihr Plan.
In diesem Moment zerriss ein Schrei die Stille, gefolgt von Getrampel, dem Splittern von Holz, dem Bellen eines Hundes und dem Klirren von Waffen.
»Soldaten! Steuereintreiber!«, gellte eine angstverzerrte Stimme. Mit wehendem Kleid hastete eine junge Frau, ein Kleinkind im Arm, auf die Kirche zu, riss die Türe auf und verschwand im Inneren.
Im Nu füllte sich der Platz mit bewaffneten Männern, sie schienen aus jeder Seitengasse zu kommen und trieben die Dorfbewohner vor sich her. Spitze Helme glänzten in der Sonne, überragt von Spießen, die riesigen Insektenstacheln glichen, in der Mitte hielt einer eine Fahne mit den kaiserlichen Insignien empor. Ein Beamter, der eine fein gewebte Tunika trug, trat vor und gebot herrisch Ruhe. Mit lauter Stimme verlas er eine Erklärung, die besagte, dass die Bewohner des Ortes mit den Steuern im Rückstand seien, dass der Basileus zur Bekämpfung der Sarazenen eine Sonderabgabe verfügt habe, und dass alle Schulden unverzüglich zu begleichen seien.
»Hier, nimm!«, sagte Petros leise, mit bebender Stimme und gab Pelagia den Beutel mit den Korallen.
»Halt, was soll das?« Ein bärtiger Soldat, dem mehrere Vorderzähne fehlten, packte Petros so grob am Arm, dass dieser aufschrie und unwillkürlich versuchte, den Mann wegzustoßen.
»Nur Korallen, die ich gekauft habe«, versuchte Pelagia zu beschwichtigen – vergeblich. Mehrere Soldaten stürzten sich auf den Korallentaucher, schlugen mit Fäusten auf ihn ein und ließen erst von ihm ab, als er sich stöhnend am Boden krümmte.
»Der hier zuerst!«, wies der Mann in der Tunika seine Soldaten an und wandte sich den anderen Dorfbewohnern zu, die er mit undurchdringlicher Miene musterte.
Zwei Soldaten zerrten Petros' Sohn beiseite, der zu seinem Vater gelaufen war und sich unter verzweifeltem Rufen bemühte, dessen Kopf aufzurichten.
»Zwei Solidi!«, raunzte ein Blonder mit starkem langobardischem Akzent, wobei er seiner Forderung mit einem Stiefeltritt Nachdruck verlieh. Als er erneut mit dem Fuß ausholte, riss sich der Junge los und warf sich an das Bein des Soldaten. Der Mann schwankte, verlor das Gleichgewicht und kam fluchend zu Fall, scheppernd rollte sein Helm über die Steinplatten.
Die nächsten Augenblicke konnte Pelagia kaum erkennen, was rund um Petros vor sich ging, da sie von den Männern beiseite gedrängt wurde.
»Lasst mich durch!«, wiederholte sie immer wieder, bis sich endlich eine Gasse zwischen den gepanzerten Rücken öffnete. Petros stand schwankend in ihrer Mitte, gehalten von einem Söldner mit fehlenden Vorderzähnen. Blut lief aus seiner Nase, das Gewand war zerrissen. Seinen Sohn hatte der jetzt hockende Langobarde am Lockenschopf gepackt und schlug ihn immer wieder mit dem Gesicht auf den Boden, wobei er grinsend zählte. »Fünf, sechs, sieben …«
»Lass das!«, herrschte Pelagia ihn an. »Hör sofort auf!«
Der Mann hielt überrascht inne, hob den Kopf und musterte die schöne, junge Frau, die zornerfüllt auf ihn herabsah.
»Wer bist denn du?«
»Mein Name ist Pelagia, ich komme vom Hof des Basileus.« Sie strich sich eine Haarlocke aus der Stirne und gab sich Mühe, ihrer Stimme Autorität zu verleihen. »Wenn ihr nicht sofort aufhört, werde ich ihm berichten, wie ihr die Bürger seines Reiches misshandelt. Wie ist dein Name?«
»Mein Name? Den hab ich vergessen«, erwiderte der Soldat höhnisch.
Ein anderer, dessen dunkle Gesichtsfarbe den Afrikaner verriet, erklärte mit gespielter Höflichkeit. »Oh ja, Fürstin, er sagt die Wahrheit. Ich frage ihn fast jeden Tag. Aber ich denke, er heißt Maurikios!«
»Nein, das bin ich!«, nuschelte der mit den fehlenden Vorderzähnen und machte eine übertriebene Verbeugung. »Der da heißt Theodosios, da bin ich mir fast sicher.«
»Ach was, das kann nicht sein«, mischte sich ein dritter mit bitterernster Miene ein. »Theodosios war doch der, der letzte Woche eine Gräte verschluckt und sich zu Tode gehustet hat. Habt ihr ehrloses Pack etwa unseren Kameraden schon vergessen?« Er schniefte laut, als müsse er die Tränen zurückhalten. »Ich wenigstens erinnere mich an seinen Namen – und an meinen: Justinianos!«
»Natürlich, und das hier ist Kaiserin Theodora!«, rief ein langer, dürrer Soldat und zeigte auf Pelagia. »Habt Ehrfurcht vor der Fürstin, ihr ungehobeltes Pack!« Jetzt brandete grölendes Lachen durch die Runde. Die Männer hieben sich auf die Schenkel und prusteten immer wieder neue Namen heraus, wobei sie wechselseitig auf einander zeigten.
»Heraklios!« – »Basiliskos!« – »Christophoros!« – »Anastasios!« – »Makarios!«
Mit hochrotem Kopf stand Pelagia da, die Fäuste geballt, unfähig, auch nur einen Satz herauszubringen. Nichts wünschte sie jetzt sehnlicher, als Patricius bei sich zu haben. Der tatkräftige Ire hätte es gewiss verstanden, mit diesem Pack umzugehen. Sie war im Gefolge des Kaisers mit ihm nach Syrakus gekommen, doch seitdem hatten sie sich nur unregelmäßig gesehen. Als Beauftragter des Papstes hatte er die zahlreichen Besitzungen der Kirche auf Sizilien inspiziert, über die Bestrafung entlaufener Sklaven gerichtet, die Abrechnungen der Verwalter überprüft und manchen Betrug aufgedeckt. Auch wenn Pelagia die Wichtigkeit der Aufgabe verstand – schließlich hing von dem Ertrag der Güter die Versorgung der Armen Roms ab –, so dachte sie doch manchmal, dass die Berufung eines Priesters eigentlich eine andere sein müsse. Vor allem tat es ihr leid, dass sie so wenig Zeit füreinander fanden, denn außer zu ihm hatte sie zu niemandem am Kaiserhof Vertrauen gefasst. Sie hatte ihn sogar vor ihrem Aufbruch gefragt, ob er nicht etwas in der Nähe des Fischerdorfes zu erledigen hätte, so dass er sie begleiten könne, doch er hatte nur bedauernd den Kopf geschüttelt.
»Bezahlst du jetzt deine Schuld?«, drang die grobe Stimme des Beamten in ihre Gedanken, gefolgt von dem gepeinigten Stöhnen des Tauchers.
»Ja, Judex, ich habe etwas Geld im Beutel … dazu einen Solidus.« Petros öffnete seine zur Faust geballte Rechte … und starrte fassungslos auf die leere Handfläche. »Mein … wo ist mein Geld?«
Plötzlich schrie er wie ein Wahnsinniger über den Platz. »Mein Gold, wer hat mein Gold gestohlen?«
»Sei still!«, fuhr ihn der Beamte an. Dann wandte er sich mit hochgezogenen Augenbrauen an die herumstehenden Soldaten. »Hat einer von euch den Solidus dieses braven Mannes?« Schweigen und Kopfschütteln waren die Antwort. »Niemand von euch christlichen, dem Basileus ergebenen Streitern hat etwas gefunden?« Der Spott war unüberhörbar, als er sich wieder Petros zuwandte. »Du siehst: Kein Solidus. Und auch sonst nichts!« Jäh schnellte seine Rechte vor und fasste den Taucher am Brustteil seiner Tunika. »Schluss mit den Ausflüchten. Du zahlst, oder …«
Mit fahrigen Bewegungen kramte Petros verzweifelt in seinem Geldbeutel und förderte eine Handvoll Kupfermünzen zutage, die der Beamte kaum eines Blickes würdigte.
»Reicht nicht. Der Steuerliste zufolge bist du schon lange im Rückstand. Wir müssen deinen Sohn mitnehmen!«
Eine Handbewegung, und zwei Soldaten griffen ruppig den Jungen, banden den sich Sträubenden und zerrten ihn vom Platz, während Petros, der sich im Klammergriff von vier Männern wand, aufheulte. »Nein, nicht als Sklaven verkaufen, nicht meinen Sohn, ihr elendes Pack …«
Wie betäubt sah Pelagia zu, erfüllt von einer Mischung aus Wut, Angst und Scham. Wut über die Rohheit der Söldner, Angst, ihren Zorn zu erregen, und Scham über ihre eigene Feigheit. Doch die Blicke, die einige der Männer ihr zugeworfen hatten, ließen keinen Zweifel daran, was sie mit ihr machen würden, sollte sich eine Gelegenheit ergeben. So beobachtete sie machtlos, wie ein Soldat aus der Kirche kam, das goldene Altarkreuz in der Rechten und den silbernen Abendmahlskelch in der Linken, wie andere die Häuser plünderten und sich das Häuflein der Elenden vergrößerte, deren Schicksal der Sklavenmarkt sein sollte.
Als Pelagia sich endlich nach ihrem Diener umwandte, fand sie ihn nirgends. Erst nach längerem Suchen entdeckte sie zwei angstgeweitete Augen, die zwischen den silbrigen Blättern eines Olivenbaums herabspähten. Sie fuhr ihn barsch, doch ohne Vorwürfe an, die Maultiere zu satteln. Schweigend machten sie sich auf den Heimweg.
***
Drei Tage später ritten sie über die Brücke, die zu der Insel Ortygia führte, auf der sich alles drängte, was in Syrakus wichtig war. Hier lagen der Palast, in dem seit fünf Jahren der Kaiser residierte, und die Gebäude des Hofstaates. Hier befanden sich die Münze und das Lagerhaus mit den aus Rom hergeschleppten Bronzen, hier erhob sich der alte Tempel, der vor einigen Jahren zur Maria Theotokus geweihten Domkirche umgebaut worden war. Vor allem aber sprudelte hier die Arethusaquelle, welche die vom Meer umspülte Stadt mit Trinkwasser versorgte. Am Ende der Insel, auf einem spitzen Ausläufer, bot die Festung des Kastrums Schutz vor Angriffen feindlicher Flotten.
Pelagia bewohnte ein kleines Zimmer im Haus des Juweliers, das nicht weit vom kaiserlichen Palast lag. Sie wollte sofort dorthin reiten, um die Korallen zu übergeben, doch der Durchgang war gesperrt.
»Platz für den Basileus!«, schallte die Stimme eines Ausrufers durch die Straßen. Auf Griechisch, denn in Syrakus, wie in vielen Städten Siziliens und des südlichen Italiens, war Latein nur die Muttersprache einer Minderheit, und selbst diese Untertanen des Kaisers verstanden meist die Sprache ihrer Herren. Die Menschen um Pelagia wichen hastig zurück, bis sie sich zuletzt Schulter an Schulter vor den Häusern drängten, die die Straße säumten.
Jetzt hallten Stiefeltritte und Hufgeklapper durch die Straße. Eine Fahne mit dem goldenen kaiserlichen Adler auf purpurrotem Grund schwebte heran, emporgehalten von einem Standartenträger in glänzendem Kettenpanzer. Danach marschierte ein Dutzend Soldaten der Leibgarde, die Hände am Schwert – bereit, jede Widersetzlichkeit im Keime zu ersticken. Ihnen folgte der Kaiser auf seinem weißen, mit einer perlenbestickten Schabracke bedeckten Ross. Sein plumper Körper steckte in einer goldenen Rüstung, doch einen Helm trug er nicht. Sein sorgfältig frisierter Bart, der ihm den Spitznamen Pogonatos eingetragen hatte, hing über die Brust, während die spitz gezwirbelten Schnurrbartenden wie Stacheln zur Seite standen. Sein kantiges Gesicht wirkte aufgequollen, der Mund schief, wie zu einem verächtlichen Lächeln verzogen. Rechts und links neben ihm schritten je zwei Soldaten, um ihn vom Volk abzuschirmen. Doch als auf Pelagias Seite einer stolperte und von seinem Kameraden aufgefangen werden musste, fasste sie blitzartig einen Entschluss. Mit wenigen Schritten hatte sie sich aus der Menge gelöst, war an den verblüfften Wachen vorbeigestürmt und hatte sich neben dem Pferd des Kaisers auf die Knie geworfen.
»Gewährt mir die Gunst, Euch eine Bitte vortragen zu dürfen!«, rief sie.
Der Kaiser zügelte ärgerlich sein Pferd. »Was soll das? Schafft sie weg!«, wies er seine Leibwache an.
Pelagia fühlte, wie sie emporgerissen wurde. Ihr Blick streifte die purpurnen Schuhe, die in bronzenen Steigbügeln steckten, flog über den mit seidenem Tuch bekleideten Körper, bis zuletzt ihre Augen die des Mannes trafen, der mit gerunzelter Stirne auf die lästige Bittstellerin herabsah.
»Halt!« Der Kaiser hob mit einem Mal die Hand, als die Soldaten das Mädchen wegzerren wollten. »Dieses hübsche Gesicht kommt mir bekannt vor.« Er beugte sich zu ihr herab. »Was begehrst du?«
»Nichts für mich …«, brachte Pelagia mühsam heraus, »nur Gnade. Gnade für einen Eurer Untertanen!«
Der Kaiser strich sich nachdenklich über den Bart, schließlich nickte er. »Gut. Komm übermorgen Abend, kurz vor Sonnenuntergang.« Er wandte sich an einen Höfling, der hinter ihm ritt. »Sorg dafür, dass diese Frau vorgelassen wird!« Während Pelagia vor Glück nicht wusste, wie ihr geschah, fügte er leise, mit einem undurchsichtigen Lächeln hinzu: »Sie könnte etwas Abwechslung in unser Gastmahl bringen!« Anschließend setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Pelagia sah ihnen wie betäubt nach. Endlich klopfte sie sich energisch den Staub vom Kleid und setzte gedankenversunken ihren Weg zum Juwelier fort. Nur eine Straße weiter gewahrte sie eine vertraute Gestalt.
»Patricius!« Ihr Herz machte einen Sprung, als er sich umdrehte, sie erkannte und sein jungenhaftes Lächeln aufblitzte.
Die junge Frau befahl dem Diener, die Maultiere in den Stall zu führen, und lief zu dem Priester, so schnell sie sich durch die Menschen drängen konnte.
»Pelagia, wo kommst du denn her?«, begrüßte er sie besorgt, als er ihre zerzausten Haare und in Unordnung geratene Kleidung bemerkte.
»Ich war auf Reisen, Korallen einkaufen«, stieß sie hervor, senkte dann die Stimme. »Ich muss mit dir sprechen. Heute Abend. An einem Ort, wo wir ungestört reden können …«
»Komm nachher in die Bibliothek des Bischofs«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Ich muss dort noch einige Urkunden ausfertigen.«
***
An diesem Frühjahrsabend wurde es zeitig dunkel, da sich eine graue Wolkenbank vor die sinkende Sonne geschoben hatte. Windstöße wirbelten Staub durch die engen Gassen, ließen Holzläden klappern und zerrten an den Kleidern der Menschen, die nach Hause eilten. Pelagia hatte sich ein Kopftuch umgebunden, das auch ihr Gesicht weitgehend verbarg, und einen Wollmantel angezogen. Mit gesenktem Kopf kämpfte sie sich voran, von den Böen geschubst, bis sie zu guter Letzt den Bischofspalast erreichte. Ein Diener führte sie hinauf, verbeugte sich und verschwand, als ihm Patricius bedeutete, dass seine Dienste heute nicht mehr benötigt würden. Regale voller Codices füllten den Raum, dessen Ende ein großer Tisch mit einem Bücherstapel einnahm. Mitten darauf stand ein Weinkrug samt grünen Gläsern, umgeben von zahlreichen Öllampen, deren Flämmchen flackerten, wenn der Wind am Fenster rüttelte.
»Setz dich«, sagte Patricius, nachdem er ihr den Mantel abgenommen hatte, und wies auf einen Stuhl. »Worum geht es?«
Pelagia berichtete, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte, und schloss mit der Frage. »Was, meinst du, kann ich tun, um den Kaiser wohlwollend zu stimmen?«
Der Mann sah sie prüfend an und strich sich mit der Hand über die Wange, wobei Pelagia erneut auffiel, dass Ring- und Mittelfinger gleich lang waren. »Was willst du wirklich?«, wollte er wissen. »Geht es dir um den Fischer oder um dich selbst?«
»Um Petros natürlich«, stieß sie empört hervor.
»Bist du ganz sicher?« Die blauen Augen schienen sie zu durchdringen – freundlich, aber unerbittlich.
Pelagia schlug verlegen den Blick nieder. »Ja, natürlich …«, sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie trotzig fort, »aber ich will auch, dass der Kaiser mich bemerkt. Ich will …«
Unschlüssig verstummte sie, während Patricius sie nachdenklich musterte. »An den Hof wolltest du schon immer, nur hat man dich bei dem Festbankett in Rom nicht so beachtet, wie du es erhofft hattest. Nach Syrakus konntest du zwar als Übersetzerin mitkommen, doch hast du seitdem nichts gewagt. Und nun versuchst du es als Bittstellerin …« Bedächtig drehte er ein Schreibrohr in der Hand. »Kann es sein, dass deine Ansprüche vor lauter Angst in unerfüllbare Höhen gewachsen sind? Weil du ahnst, dass es am Hofe nichts geschenkt gibt? Dass du vielleicht in eine Schlangengrube steigen müsstest?«
Pelagia spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Nicht wenige Männer hatten in den letzten Jahren um sie geworben, doch in der Tat war ihr keiner Recht gewesen. Widerwillig nickte sie, wobei sie unwillkürlich an ihr Rollsiegel fasste. »Ja, das kann sein. Ich dachte, alles würde, nun ja, viel einfacher sein.«
Patricius lächelte sie an, nahm den Weinkrug und schenkte zwei Gläser voll. Als er eines der Frau reichte, schienen die Flammen der Lampen auf dem Glas zu tanzen. »Trink, das wird dir helfen, offen und aufrichtig zu sein. Zu mir – und zu dir selbst.«
Pelagia wollte erst ablehnen, da sie Wein nicht gewohnt war, doch dann nahm sie das Glas. Die rote Flüssigkeit war süß, schwer und half ihr tatsächlich, nach einigen Schlucken auszusprechen, was ihr auf dem Herzen lag.
»Ich dachte, ich würde dem Kaiser vorgestellt, würde am Hof einen Mann kennenlernen, der sich in mich verliebt …«, gestand sie traurig, »… und den ich auch lieben kann. Ein Mann, der mich versteht, der stark ist und mich beschützt.« Sie brach ab, um noch einen tiefen Schluck zu nehmen. Auch Patricius leerte seinen Wein, schenkte beiden nach und stand auf. Er war jetzt Mitte dreißig und sein regelmäßiges, gut geschnittenes Gesicht wies ein Netz von Fältchen um die Augen auf, was ihn jedoch nur noch attraktiver erscheinen ließ. Schlagartig wurde Pelagia bewusst, dass mehr als nur Furcht sie davon abgehalten hatte, ihr Glück ernsthaft bei Hofe zu versuchen.
»Wenn ich dir einen Rat geben darf«, unterbrach seine Stimme ihre Gedanken, »dann versuche an dem Abend, dir den Kaiser gewogen zu machen. Liege ihm nicht nur mit Klagen und Bitten in den Ohren. Unterhalte ihn – sing etwas, spiel die Kithara.«
Seine Stimme klang sachlich, doch sie bemerkte, wie seine Unterlippe zitterte. Pelagia stand auf und spürte, wie stark der Wein bereits ihre Sinne benebelte. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, antwortete sie rasch. »Das ist gewiss ein guter Rat. Natürlich sind meine Ängste und Träume dem Kaiser gleichgültig.« Sie schwankte leicht und fragte unvermittelt: »Stimmt es, dass er das Geld für einen Feldzug braucht?«
Patricius nickte und vermied ihren Blick. »Ich weiß selbst nichts Genaues. Aber man sagt, dass er eine große Flotte ausrüsten will, um Alexandria anzugreifen. Dazu würde ein Geheimnis passen, das mir der Bischof anvertraut hat.«
Er sah sie mit dem Finger auf den Lippen an und ging zur Türe, das Weinglas in der Hand, öffnete sie und spähte in den leeren Gang. Nachdem er sich versichert hatte, dass sie nicht belauscht wurden, kehrte er zurück, bis er dicht vor Pelagia stand.
»Der Kaiser hat sogar die Kirche um Unterstützung gebeten«, erklärte er ernst. »Ein Geistlicher soll heimlich zu den Langobarden reisen, um dort mit Beuteln voller Solidi Zwietracht zu schüren.«
»Wieso ein Geistlicher?«, wunderte sich Pelagia.
»Wer kann in diesen wirren Zeiten halbwegs sicher reisen? Wer, außer einem Priester, erfährt alles? Wer findet in jeder Stadt Unterstützung, in jeder Gemeinde, in jedem Kloster?«, erwiderte Patricius nicht ohne Stolz. »Die Kirche ist überall, ihr Einfluss wächst.«
Pelagia runzelte die Stirn. »Bedrohen uns diese Barbaren?«
»Derzeit nicht. Aber wer weiß, was geschieht, wenn der Kaiser seine Söldner gegen die Sarazenen schickt? Dann könnte es ihrem Herrscher in den Sinn kommen, die uns noch verbliebenen Städte Italiens anzugreifen.« Der Mann leerte sein Glas und stellte es klirrend auf den Tisch zurück. »Grimoald hat nicht vergessen, wie das kaiserliche Heer bei der Belagerung von Benevent gewütet hat. Und noch weniger, dass unsere Söldner wie die Hasen getürmt sind, als er mit der Entsatzarmee aus dem Norden anmarschiert kam.«
Er stand jetzt als dunkler Umriss vor Pelagia, die zu ihm aufblickte, während Wetterleuchten den Raum erfüllte. Unwillkürlich legte sie ihre Rechte auf seinen Unterarm. »Darf ich dich etwas fragen?«
Patricius nickte. »Natürlich«, antwortete er.
»Warum bist du als Kind ins Kloster gegangen?«
Patricius sah sie überrascht an, zögerte kurz. Als er antworten wollte, hallte ferner Donner durch den Raum. Zuletzt sagte er leise: »Es blieb mir keine Wahl. Meine Familie hatte kaum mehr einen Kanten Brot. Vor allem aber wegen meiner Schuld …«
»Was für eine Schuld?«, stutzte Pelagia. »Sag mir, was ein Kind so Schreckliches getan haben könnte, dass es auf alles verzichten muss?«
»Ich will darüber nicht sprechen«, entgegnete Patricius schroff, löste ihre Hand und ging zum Fenster. Jetzt prasselten einzelne Hagelkörner gegen die Scheiben.
»Hast du nie bereut, auf so vieles verzichtet zu haben?«, drängte Pelagia.
»Auf was denn?«, wehrte er brüsk ab. »Auf Gold, nur damit ich mich vor Dieben fürchten muss? Auf Macht, nur um Angst vor einem Messer im Rücken zu haben? Auf Ruhm, nur damit ich von Neidern umschwärmt werde?« Er starrte aus dem Fenster. »Ich diene Gott, nicht irdischem Besitz. Was du erstrebst, macht dich unfrei. Darauf zu verzichten, macht mich frei.«
Pelagia schwieg, dann antwortete sie ruhig. »Wie kannst du über Dinge urteilen, die du nicht kennst?«
»Was soll ich nicht kennen? Meinst du, ein Priester geht mit geschlossenen Augen durchs Leben? Das, was ich sehe, entbehre ich nicht.«
»Was du siehst, ist der Anblick des Lebens, so wie es Gott geschaffen hat. Wieso sollte es ihm gefällig sein, sein Werk zu verachten?« Pelagia musste ihre Stimme erheben, um Wind und Hagel zu übertönen. »Nicht alles steht in der Heiligen Schrift, nicht alles in der Welt ist schlecht. Manches muss man erleben.« Sie stand jetzt direkt hinter ihm und legte ihm sanft die Hand auf den Rücken.
»Was denn?«, fragte er leise.
»Die Liebe einer Frau. Oder darf ein Priester nicht heiraten?« Als sie, vom Wein beflügelt, den Satz ausgesprochen hatte, schoss ihr sogleich die Schamesröte ins Gesicht, so dass sie wünschte, die Frage nie gestellt zu haben.
Doch Patricius blieb äußerlich ruhig. »Darüber ist sich die Kirche nicht einig«, antwortete er langsam. »Ein einfacher Priester darf es wohl, nur nicht ein Bischof …« Er wandte sich um. »Worauf willst du hinaus?«, fragte er leise.
Ein weiterer Blitz erhellte den Raum, deutlich greller als alle anderen, wenige Herzschläge später von einem heftigen Donner gefolgt. Pelagia griff nach seiner Hand und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Verzicht kann auch eine Form der Flucht sein«, entgegnete sie sanft und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen. Regen prasselte jetzt gegen das Fenster. Behutsam löste sie ihre Hand, legte ihre Arme um den Mann, fühlte den massigen Brustkorb, spürte seinen schnellen Atem und das Pochen seines Herzens. Wieder und wieder hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, welch kostbarstes Gut die Jungfernschaft sei. Doch jetzt wollte Pelagia nur alle Ratschläge vergessen, sich einfach fallen lassen, sich hingeben, endlich das erleben, wonach sie sich schon so lange sehnte. Sie schloss die Augen und wartete auf die Berührung. Patricius legte vorsichtig seine Arme um sie, zögernd, als fürchte er, etwas zu zerstören. »Komm …«, sagte sie leise und öffnete die Lippen. »Ich will …« Sie hörte seinen Atem, spürte sein Herzklopfen und sehnte sich nach dem, was jetzt kommen würde, auch wenn sie im Innersten ihres Herzens zugleich Angst davor hatte.
Doch dann ließ der Mann seine Arme sinken.
»Ich möchte gerne … aber ich kann nicht«, stöhnte er, wobei jedes Wort ihm unendlich schwer zu fallen schien. »Selbst wenn mich der Papst vom Mönchsgelübde entbunden hat …«
Ein Blitz tauchte die Bibliothek in grelles, kaltes Licht, fast zeitgleich mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Pelagia spürte, wie Patricius zusammenzuckte und sie von sich schob.
»Ich kann nicht, ich darf nicht …« Er schrie es, als ob er Angst habe vor einem höheren Willen, der sich in den Naturgewalten zeigte.
Pelagia erstarrte. Schlagartig überfiel sie ohnmächtige Wut, gemischt mit Enttäuschung und dem Gefühl der Erniedrigung.
»Dann vertrockne doch im Dienste deines Gottes!«, fauchte sie ihn an. »Dem Gott der Verbote, der am liebsten die Menschen straft, die er geschaffen hat!« Sie griff sich ihren Mantel, rannte zur Türe und stürzte auf den Gang hinaus.
»Halt, bleib, wohin willst du …«
Patricius' Stimme klang bittend, aber sie rannte weiter, verfolgt vom Hall ihre Schritte, und wünschte sich zugleich, noch andere Schritte zu hören. Aber niemand folgte ihr.
Atemlos stemmte sie die Flügeltüre des Portals auf und stolperte hinaus. Das Wasser schoss eine Handbreit hoch über die Straße, zerfurcht von den Einschlägen unzähliger Tropfen. Nach wenigen Augenblicken rann ihr der Regen über das Gesicht. Pelagia war dankbar dafür, denn so konnte niemand ihre Tränen sehen.
***
Am Abend des übernächsten Tages machte sie sich zum Palast des Kaisers auf. Sie hatte sich von ihren Ersparnissen ein neues, mit bunten Mustern besticktes Kleid gekauft, dazu ein Paar goldener Ohrringe mit Korallen, für die ihr der Juwelier einem Sonderpreis gemacht hatte. Zwei Schritte hinter ihr folgte ihr Diener, der eine Kithara trug.
Patricius war sie nicht mehr begegnet. Am Tag nach dem Treffen in der Bibliothek hatte ein Bote ein Päckchen abgegeben, das sie mit zitternden Händen aufgerissen hatte. Innen war nur ein in Tuch gewickelter kleiner Gegenstand gewesen. Dazu ein Brief, in dem Patricius ihr höflich mitteilte, dass er noch am gleichen Tag zu den Langobarden aufbrechen müsse und ihr den Segen Gottes für ihren weiteren Aufenthalt wünsche. Doch nach seiner sorgfältigen Unterschrift hatte da noch ein seltsamer Satz gestanden. »Ich lege etwas bei, das mir einst ein alter Mönch gegeben hat. Möge es dir das Glück bringen, das mir versagt blieb.« Als sie das Tuch öffnete, fiel ein kleiner, runder Stein heraus, der die Form eines Seeigels hatte. Den Tränen nahe wollte ihn Pelagia zuerst wegwerfen, behielt ihn aber zuletzt doch, nicht ohne sich zu schwören, jegliche Hoffnung auf Patricius aus ihren Gedanken zu tilgen.
Am kaiserlichen Palast angekommen – der in Wahrheit nicht mehr als das geräumige Wohnhaus einer vornehmen Familie war – ließen sie die Torwachen sofort passieren. Ein Diener führte sie in den großen Saal, der im ersten Obergeschoß lag. Von den Fenstern hatte man einen weiten Blick über die Bucht von Syrakus. Über den Hügeln schwebte der Ball der Sonne, deren Schein alles mit einem warmen Rot übergoss. Etwa fünf Schritte von den Fenstern entfernt stand ein großer Tisch, an dem eine Reihe reich gekleideter Männer so saß, dass sie über das Meer blicken konnten. In ihrer Mitte erkannte Pelagia sogleich Kaiser Konstans. Seine Schnurrbartspitzen ragten über die fleischigen Wangen hinaus, sein gewelltes Haupthaar wurde von einem mit Perlen und Edelsteinen geschmückten Diadem gekrönt. Er war in ein Gespräch mit einem jungen, ausgesprochen gut aussehenden Mann vertieft, der neben ihm saß, der Pelagia bei ihrem Eintreten intensiv musterte und ihr fast unmerklich zuzulächeln schien. Der Diener wies ihr in einer Ecke einen Platz an, von dem aus sie alles im Raum beobachten konnte. Der Tonfall und die Gebärden der Gäste verrieten ihre Bedeutung, ihre Rangordnung sowie ihr stetes Buhlen um die Aufmerksamkeit des Herrschers. Vor ihnen standen reich verzierte Glaskelche, in denen roter Wein schimmerte. Immer wieder wurden die Becher gehoben und geleert, nur um sofort von Bediensteten aufgefüllt zu werden. Eine gute Stunde verstrich, während der Pelagia nur ein Glas Wein und ein Teller mit gebratenen Sardinen gereicht wurde. Immer wieder zog sie einen kleinen Spiegel hervor, um ihr Aussehen zu überprüfen: Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den hohen, geschwungenen Augenbrauen, ihre dunkel umrandeten grünen Augen, die unter dichten, langen Wimpern hervorsahen und die perfekte Reihe Zähne, die die vollen Lippen beim Lächeln entblößten. Die Korallenohrringe passten wunderbar dazu. Pelagia war sich sicher, dass dieser Abend über ihr Schicksal entscheiden würde.
»Ruhe!« Des Kaisers befehlsgewohnte Stimme verriet kaum, dass er getrunken hatte. »Lasst uns auf General Mizizios und die Soldaten anstoßen, die er zu unserer Verstärkung herangeführt hat!« Er hob einen goldenen Pokal, nahm einen langen Schluck, und alle Gäste taten es ihm gleich.
Der schöne junge Mann mit der sonnengebräunten Haut, den schwarzen Locken und den großen, dunklen Augen, die vorhin Pelagia so eingehend betrachtet hatten, stand lächelnd auf, verbeugte sich tief und hob sein Glas. »Auf unseren Kaiser – und dass ihn Gott über seine Feinde triumphieren lassen möge!«
Erneut tranken alle, dann machte der Kaiser eine knappe Handbewegung. Ein Bediensteter führte Pelagia heran, die vor dem Tisch auf die Knie sank, sich verbeugte, bis ihre Stirn den Boden berührte, und sich wieder aufrichtete, als der Kaiser es ihr gestattete.
Der Raum wurde nun von zahllosen Öllampen erhellt, die an Ketten von Bronzeleuchtern herabhingen. Das allgemeine Gemurmel erstarb, als Konstans mit geöffneter Hand auf die junge Frau wies. »Bring dein Anliegen vor!«
Pelagia verharrte einen Augenblick wie gelähmt, bevor sie all ihren Mut zusammennahm und ihre Erlebnisse schilderte. Sie schloss mit den Worten: »Ich bitte um Gnade für den armen Fischer, dessen Sohn der Steuereinnehmer als Sklave verkaufen will!«
Der Kaiser sah sie nachdenklich an, wobei er sich über die Bartspitzen strich. »Wie war noch der Name des Steuereinnehmers?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Pelagia sichtlich verlegen. »Er wurde immer mit Judex angesprochen.«
»Wie jeder höhere Beamte«, entgegnete Konstans kopfschüttelnd. »Weißt du wenigstens, wie die Soldaten hießen?«
»Nein, sie wollten ihre Namen nicht nennen. Sie gaben vor, sie vergessen zu haben …«
Gelächter erfüllte den Raum. Pelagia wäre am liebsten im Erdboden versunken und schalt sich innerlich eine Närrin, damals nicht hartnäckiger gewesen zu sein. »Aber es müsste doch möglich sein … wenn man den Namen des Ortes weiß …«
»Du meinst also, ich sollte eine offizielle Untersuchung einleiten, um«, bei diesen Worten blickte sie der Kaiser mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln an, »die namenlosen Übeltäter zu ermitteln?« Er wandte sich gönnerhaft an die Gäste. »Habt ihr das gehört?« Pflichtschuldiges Gelächter machte die Runde. Konstans nahm einen Schluck Wein, bevor er sich erneut Pelagia zuwandte. »Weißt du, worum es hier geht?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Aber du weißt, dass vor einigen Jahrzehnten unter den Sarazenen ein Prophet aufgetaucht ist? Dass sie daraufhin begonnen haben, das Römische Reich anzugreifen, um uns eine Provinz nach der anderen zu entreißen? Dass sie sogar schon Africa geplündert haben, ja dass selbst diese Insel vor ihren Überfällen nicht verschont blieb? Nur dass unsere Flotte sie hier in die Flucht schlagen konnte?«
Zu jeder der Fragen nickte Pelagia, als sei sie wieder im Unterricht ihres Hauslehrers, was den Kaiser zu befriedigen schien.
»Und damit diese Plage nicht wiederkehrt«, fuhr er fort, »dazu brauchen wir Soldaten. Die ihrerseits Löhnung erwarten, für die wir Steuern erheben. Manchmal auch mit Nachdruck einfordern müssen, wenn dir dieser Ausdruck lieber ist. Verhält es sich nicht so?« Mit diesen Worten richtete er sich an die anderen Gäste, die lebhaft nickten. Danach senkte er seine Stimme, so dass sie fast lauernd wirkte. »Oder glaubst du etwa, irgendwer würde freiwillig bezahlen? Vielleicht meinst du sogar, es sei gleichgültig, ob diese Provinzen unter unserer christlichen Herrschaft verbleiben oder unter das Joch der häretischen Sarazenen fallen?«
Pelagia schüttelte stumm den Kopf, worauf der Kaiser leichthin fortfuhr.
»Du siehst, dass mein unbekannter Beamter nur seine Pflicht getan hat. Dir hingegen steht es frei, herauszufinden, wo sich der Fischerjunge befindet, um ihn auszulösen.«
»Dazu bräuchte ich Geld, das ich nicht habe«, entgegnete Pelagia bitter.
Konstans lachte auf einmal. »Dann wollen wir dir die Möglichkeit geben, es zu verdienen. Sieh her!« Er hielt ein kleines Ledersäckchen hoch und drehte es langsam um. Golden schimmernde Münzen fielen heraus, die klirrend auf der Tischplatte aufprallten. Eine rollte über den Rand, sprang zu Boden und wurde umgehend von einem gebeugt herbeieilenden Diener zurückgelegt. »Unterhalte uns heute Abend, so gehören diese Solidi dir«, meinte der Kaiser jovial. »Tu, was wir verlangen. Bist du dazu bereit?«
Die junge Frau richtete sich auf. Einen Augenblick stand sie vor der Tafel und ließ ihre Augen über die Gäste wandern. Erneut begegnete ihr Blick dem des schönen jungen Mannes, der Mizizios genannt wurde, und wieder schien er aufmunternd zu lächeln.
Pelagia gab sich einen Ruck. »Das will ich«, antwortete sie, um noch hinzuzufügen, »sofern es nicht gegen die Regeln der Kirche verstößt!«
»Bemerkst du Bischöfe hier? Haben wir gar den Papst übersehen?«, erheiterte sich der Kaiser, um dann jedoch ernst hinzuzufügen: »Nun, die Bitte sei dir trotzdem gewährt. Fang an!«
Die folgenden Stunden sollten Pelagia später nur noch als verschwommener Albtraum im Gedächtnis bleiben. Zu Beginn versuchte sie es mit der Rezitation besonders dramatischer Stellen aus der Ilias und Odyssee, doch blieb der Beifall höflich und verhalten. So begann sie, sizilianische Volkslieder vorzutragen, die sie in den letzten Jahren gelernt hatte. Begleitet von den perlenden Tönen der Kithara, sang sie von unglücklicher Liebe, von Fahrten über das Meer, von Stürmen und fernen Küsten, von Trennung und glücklichem Wiedersehen. Und bald hatte sie die Zuhörer in ihren Bann geschlagen, immer häufiger wurden Weinbecher auf ihr Wohl geleert, unterbrachen Beifallsrufe ihre Lieder. Nur der Kaiser fixierte ungerührt die junge Frau, als sei sie ein schwer einschätzbarer Gegner. Als Pelagia ihr letztes Lied beendet hatte und sich verbeugte, hob er die Hand, worauf der Beifall schlagartig verstummte.
»Das war ein guter Anfang. So gut, als hättest du dein Leben lang nichts anderes getan. Aber …« Er hielt inne, gespannte Stille erfüllte den Raum. Pelagia versuchte, äußerlich gelassen zu bleiben, während sie sich den Kopf zerbrach, was jetzt kommen könnte. Der Kaiser nahm einen Schluck Wein, bevor er lächelnd fortfuhr.
»… aber der Abend ist noch nicht zu Ende. Ich bin sicher, dass du uns einen letzten Wunsch nicht abschlagen wirst.«
»Welchen Wunsch?«, fragte sie zögernd, noch atemlos von der Anstrengung des Singens.
»Im Nebenzimmer warten Musiker. Meine Gäste würden dich gerne tanzen sehen. Oder ist dem nicht so?« Konstans blickte die Tafel entlang, wo grölende Zustimmung nur zu deutlich zeigte, dass er den Geschmack getroffen hatte.
Pelagia stand wie vom Donner gerührt. Im flackernden Licht der Öllampen schienen die Gesichter, die sie anstarrten, von Zuckungen verzerrt – fast so, als hätten böse Geister von ihnen Besitz ergriffen. Vor Betrunkenen zu tanzen war etwas für Hafendirnen, bestenfalls für berufsmäßige Tänzerinnen. Für eine Frau aus guter Familie jedoch bedeutete eine solche Zurschaustellung eine Schande. Eine Erniedrigung, den ersten Schritt in die Gosse.
»Nun, hast du mich nicht verstanden?« Die Stimme des Kaisers klang ruhig. Doch sein Blick glich dem eines Raubtieres, das auf ein Zeichen von Schwäche lauert. »Sollte es dir jedoch die Sprache verschlagen haben«, fuhr er fort und steckte die Goldstücke beiläufig zurück in den Beutel, »so verschwinde und kuriere dein Leiden zu Hause!«
Ein Gast kicherte, ein anderer rief: »Zier dich nicht so!«, während ein dritter grölte: »Na, etwas Hinternschwenken wird sie wohl noch können!« Bellendes Gelächter zog die Reihe entlang.
Pelagia spürte Schweißperlen auf der Stirne. Sie war wie ein Tier in der Falle. Der Hass auf den bärtigen Mann nahm ihr fast den Atem. Was auch immer sie tat, es würde sie in den Augen der Gäste bloßstellen. Folgte sie ihrer Erziehung, zeigte sie den Männern ihre Verachtung und lief aus dem Raum, so würde man sie als prüde verlachen. Von da ab könnte sie alle Hoffnung begraben, jemals wieder bei Hofe zu erscheinen. Spielte sie dagegen das Spiel der Grobiane mit, so würde man sie zu den Frauen zählen, auf die jeder nur verächtlich herabsah. Frauen, die man sich nach ihrem beklatschten Auftritt allenfalls für ein weiteres, kurzes Vergnügen kommen ließ.
Es sei denn, fuhr es ihr durch den Kopf, sie nähme die Herausforderung an. Wie Theodora, die einstige Kaiserin, über deren Leben sie in ihrer Jugend viel gelesen hatte. Es sei denn, sie drehte den Spieß um, zeigte den Männern, dass sie es war, die hier eine Gunst gewährte. Sie musterte die Gäste und erneut trafen ihre Augen die des Generals Mizizios. Ihr Blick glitt über sein schönes, gleichmäßiges Gesicht: Große, dunkle Augen, kantige Wangen, ein sinnlicher Mund, der wieder leicht zu lächeln schien. Doch nicht spöttisch oder herablassend, sondern voll Bewunderung, ermunternd, als wolle er sagen: »Tue es, ich bitte dich darum!«
Pelagia lächelte in seine Richtung, verbeugte sich vor dem Kaiser. »Ich werde tanzen. Aber nicht wegen des Goldes, sondern um eines Mannes in diesem Raume willen. Nur für ihn tue ich es!«
Beifall erfüllte den Saal. Zu ihrer Erleichterung wagte niemand die Frage, wer dieser Glückliche sei. Die Brüskierung des Kaisers wäre zu offenkundig gewesen.
Dann begann Pelagia zu tanzen. Allen Ausdruck, dessen sie fähig war, legte sie in die Bewegungen ihres Körpers. Sie verschmolz mit der Musik, gab sich dem Rhythmus hin und schwebte durch den Raum. Als sie zuletzt erschöpft innehielt, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
***
»Bleib noch etwas«, murmelte die Frau. Spielerisch glitt ihre Hand über die Brustwarzen des Mannes, der neben ihr lag. Mit Wohlgefallen spürte sie die Reaktion und tastete sich tiefer. »Kann diese Versammlung nicht heute ohne dich stattfinden?«
»Nein«, antwortete er bedauernd, schwang sich aus dem Bett und trat vor das Fenster, durch das die Vormittagssonne ihre flachen Strahlen schickte. Er blickte hinaus über das Meer, streckte sich, stemmte die Hände in die Hüfte, rollte mit den Schultern und ließ die Muskeln spielen. »Gerade heute muss im Kronrat jeder anwesend sein. Es ist schon spät …« Mit diesen Worten ging er in Richtung des Bades.
»Schade«, murmelte Pelagia und sah dem nackten, kaum behaarten Körper nach. Seit vier Monaten war sie jetzt die Geliebte des Schönen Mizizios, wie er allgemein mit einem Anflug von spöttischem Neid genannt wurde. Noch immer erfreute sie sich an seinem Anblick. Aussehen hatte ihr immer viel bedeutet – seien es Schmuck, Kleider, schön angerichtetes Essen, ein Ornament oder eben ein Mann. Hässlichkeit dagegen beleidigte ihr Auge, stieß sie ab, erfüllte sie mit Widerwillen. Mizizios war nicht nur gut aussehend – das war Patricius, dieser verbohrte Priester, auch gewesen –, nein, er war wahrhaft schön. Außerdem war er wohlhabend, bei Hofe angesehen und vor allem ein guter Liebhaber. Mit Mitte zwanzig hatte sie die Freuden des Eros erst spät erfahren. Dafür war sie fest entschlossen, alles Entgangene nachzuholen.
Am Abend nach ihrem Auftritt hatte eine von Mizizios bestellte Sänfte vor dem Palast gewartet, um sie nach Hause zu bringen. Und bereits am folgenden Tag war ein Bote gekommen, der ein nach Rosenöl duftendes Päckchen samt einem versiegelten Brief überbrachte. Das Päckchen hatte einen goldenen Armreif enthalten und der Brief eine Einladung für den folgenden Abend. Pelagia war sogleich bewusst gewesen, was das bedeutete, und sie hatte ohne Zögern zugesagt. Lange genug hatten die Warnungen ihrer Mutter ihr Leben bestimmt. Oder genauer gesagt, ihr Leben verhindert. Mit jedem Jahr, das verstrich, ohne dass sie dem Mann begegnete, den ihre Mutter gebilligt hätte, war die Schwelle höher geworden. Pelagia, die nach außen hin so mutig und selbstständig wirkte, war im Innersten unsicher. Was Männer betraf, hatte sie sogar begonnen, an sich selbst zu zweifeln. Bis sie Mizizios begegnete und beschloss, dass er es sein sollte. So hatte sie kein Sträuben vorgeschützt, als er sie nach dem Essen in den Arm nahm, sie küsste und dabei mit dem Fuß eine Türe aufstieß, die mit dunklen Edelhölzern verziert war. Der Nebenraum, in dessen Mitte ein großes Bett stand, war mit Teppichen ausgelegt und von nur wenigen Öllampen erhellt. Pelagia hatte schon immer Frauen verachtet, die etwas anderes sagten, als sie eigentlich ersehnten. Die vorgaben, Widerstand zu leisten, nur damit dieser überwunden werde. Heute wusste sie, was sie wollte, und ließ den Mann, den sie sich erkoren hatte, darüber nicht im Unklaren.
Als Mizizios begann, ihr seidenes Oberkleid abzustreifen, öffnete sie die Fibel, die seinen Überwurf zusammenhielt, und als er ihr vorsichtig die Tunika auszog, waren ihre Hände schon dabei, den muskulösen Körper unter der seinen zu erforschen. Schnell hatte sie herausgefunden, wo ihre Berührungen am meisten Wohlgefallen auslösten. Bald ging sein Atem schneller, er stöhnte, drückte sich an sie und bewegte sich so, dass ihre Finger möglichst leichtes Spiel hatten. Pelagia genoss die ungewohnte Macht, die sie ausübte, spürte seine Erregung und hatte doch zugleich Angst vor dem, was kommen würde. Mizizios schien ihre Gefühle zu ahnen. Plötzlich schob er sie sanft von sich, ging zu einem kleinen Tischchen, wo er zwei Gläser mit unverdünntem Wein füllte. Schließlich standen sie sich nackt gegenüber, tranken stumm, ließen die Gläser auf den weichen Teppich fallen, sahen sich an. Pelagia lächelte zaghaft, und dann ging alles sehr schnell. Mizizios schob sie vor sich her, bis sie das Bett erreichten. Dort gab er ihr einen leichten Stoß, dass sie nach hinten sank und ließ sich auf sie fallen. Er umfasste ihre Brüste, massierte sie zärtlich und ließ seine Finger um ihre Brustwarzen kreisen. Sanft, aber bestimmt drückte er ihre Beine auseinander, und bevor Pelagia wusste, wie ihr geschah, drang er in sie ein. Er schien kurz verwundert, als er auf Widerstand stieß, doch ließ er sich nicht aufhalten. Pelagia zuckte unter einem ungewohnten Schmerz zusammen. Kurz erfasste sie Panik, und sie war versucht, den Mann auf ihr von sich zu stoßen. Schnell jedoch überwog eine Lust, die sie noch nie zuvor gekannt hatte. Zuerst passte sie ihren Körper dem Rhythmus an, den er vorgab. Bald jedoch kam sie seinen Stößen durch Bewegungen der Hüften entgegen, krallte ihre Hände in seine Muskeln und zeigte ihm, was sie wollte. Doch gerade als ihre Lust immer stärker wurde, stöhnte Mizizios nach einigen besonders heftigen Bewegungen auf, verharrte einen Augenblick, erschlaffte auf ihr. Ruhig lag er da, fast wie tot, nur sein Herz hämmerte. Langsam ließ er seinen Kopf auf ihre Schulter sinken.
Pelagia wickelte eine Haarlocke um ihren Zeigefinger. »Das war schön«, flüsterte sie, »können wir das gleich noch mal machen?«
Er hob den Kopf, starrte sie verblüfft an, dann schmunzelte er. »Du warst noch Jungfrau, oder?«
Sie lächelte verlegen. »Ja, es war mein erstes Mal …«
»Das machen wir gerne wieder«, sagte er und gab ihr einen Kuss. »Bald sogar, nur nicht sofort. Hab etwas Geduld …«
Pelagia nickte. Keine Stunde später spürte sie, dass seine Lust wiederkehrte. Diesmal nahm er sich mehr Zeit, so dass sie das überwältigende Gefühl erleben konnte, für wenige Herzschläge zu schweben, ganz pulsierende Lust zu sein, ohne jegliche Begrenzung, eins mit dem Universum …
Pelagia erinnerte sich immer wieder gerne an diese erste Nacht – und an die vielen danach. Anfangs war sie eifersüchtig gewesen auf die Frauen, die zuvor sein Bett geteilt hatten. Mizizios war Mitte Zwanzig, und die aufdringliche Art und Weise, wie ihm alle Frauen schöne Augen machten, ließ Pelagia vermuten, dass es viele Vorgängerinnen gegeben haben mochte.
Doch wenigstens, so gestand sie sich unwillig ein, kam ihr nun die Geschicklichkeit zugute, die er sich dabei angeeignet hatte. Er spielte auf ihrem Körper wie auf einem Instrument. Mal sanft, mal kräftig, schnell oder absichtlich zögernd – bis Pelagia es nicht mehr aushielt, sich fallen ließ und der Ekstase hingab. Für diesen Genuss war sie bereit, über andere Dinge hinwegzusehen. Zumindest für eine Weile. Über seine Eitelkeit und Prahlsucht, seine Neigung, zu viel zu trinken, und über seine Ausflüchte, wenn sie bestimmte Dinge von ihm wollte. Wie zum Beispiel erfahren, wann er sie zu heiraten gedenke. Aber auch wenn er hier noch so oft auswich – sie war fest entschlossen, den Mann ihres Lebens nie wieder zu verlieren. Alles andere würde sich finden. Sie würde ihn schon so formen, wie es ihr nötig erschien.
Pelagia rief nach Paulos, ihrem Diener. Der Mann, der den Raum betrat, war fett und bartlos, obwohl er mindestens dreißig Jahre zählen mochte. Mit einer Verbeugung reichte er ihr einen seidenen Umhang, dann geleitete er sie ins Bad, massierte sie und brachte ihr das Morgenmahl.
»Soll ich die Sänfte rufen?«, erkundigte er sich später mit der hellen Fistelstimme eines Knaben, doch sie winkte ab. »Ich gehe etwas in die Stadt, hinüber zum Hafen.«
Paulos nickte ergeben, aber Pelagia kannte ihn inzwischen gut genug, um seine Missbilligung dieser nicht standesgemäßen Ausflüge zu spüren. Dass bei den Griechen die Frauen meist im Haus blieben, wo sie von Beschnittenen bedient und bewacht wurden, hatte Pelagia nur kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Sie selbst, das schwor sie sich, würde nie ein Leben im goldenen Käfig führen.
Als Pelagia eine Stunde später auf die Straße trat, stand die Sonne schon hoch, und die Schatten waren auf schmale Streifen am Fuße der Hausmauern zusammengeschmolzen. Ein leichter Wind strich durch die Gassen und trug den salzigen Geruch des Meeres heran, den sie so liebte. Sie beschloss, zum Hafen zu gehen und einen Blick auf die Schiffe zu werfen, die sich dort in der Dünung wiegten. Als sie an der Ufermauer stand, überwältigte sie auf einmal die Sehnsucht nach der Ferne, nach den unbekannten Ländern, die jenseits dieser in der Sonne glitzernden Wogen liegen mochten. Ich bin zu mehr geboren, dachte sie, während sie Hafenarbeitern zusah, die Kornsäcke aus einem Frachtschiff an Land schleppten.
Plötzlich gewahrte sie erfreut eine vertraute Gestalt. Es war Andreas, der Sohn des Stadtpräfekten, den sie im Kreis der Freunde von Mizizios kennengelernt hatte. Jetzt stand er am Kai und überwachte die Arbeit der Träger. Pelagia ging zu ihm hinüber und sie begrüßten sich herzlich. Andreas gehörte einer alten, sehr auf ihre Stellung bedachten Syrakusaner Familie an. Sein Vater hatte sich vom Kaiser den angesehenen, jedoch längst einflusslosen Titel eines Consuls erkauft. Auf die gleiche Weise war sein Sohn Cubicularius geworden, in welcher Funktion ihm die Ehre zukam, dem Kaiser bei seinen Besuchen im Bad den Rücken zu schrubben. Bei einem Abendessen, bei dem Pelagia anwesend sein durfte, hatte er – von anschaulichen Gesten untermalt – derart komisch von seinem Amt berichtet, dass einer der schon angetrunkenen Gäste vor Lachen vom Stuhl gekippt war. Heute jedoch schien der kräftige, untersetzte Mann bedrückt.
»Das Schiff sollte eigentlich nach Rom segeln«, teilte er Pelagia mit seiner tiefen Stimme auf ihre Nachfrage hin mit, »beladen mit Getreide aus Kirchengütern. Für die Armen der Stadt. Doch der Kaiser ließ die Ladung beschlagnahmen.«
»Hat der Bischof von Syrakus nicht protestiert?«, erkundigte sie sich betroffen. »Und was sagt der Papst dazu?«
»Der Bischof, voll christlicher Demut, wagte nicht zu widersprechen«, entgegnete Andreas bitter und wies auf Dutzende von Soldaten, die unter dem Vordach eines Lagerhauses herumlungerten, »und der Papst ist weit …«
Sie sah, wie er die Faust ballte und nickte stumm, bevor sie sich verabschiedete. Einige Hundert Schritt weiter setzte sie sich nachdenklich auf einen Säulenstumpf und blickte über das Meer, bis sie, von den Reflexionen der Sonne geblendet, die Augen schloss. Leise klatschten die Wellen an die Kaimauer, über ihrem Kopf kreischten Möwen, auf einem nahen Boot riefen sich Fischer Unverständliches zu.
Langsam drifteten ihre Gedanken ab; die Erinnerung an den Albtraum, der sie letzte Nacht gequält hatte, kehrte zurück. Sie war wieder in Rom gewesen, doch diesmal im Kaiserpalast auf dem Palatin. Völlig allein. Sämtliche Hallen, Gänge, Treppen menschenleer, nur ein leichter Luftzug ließ staubbedeckte Spinnwebfäden pendeln. Pelagia musste die Pforte finden, die noch offen stand. Sie musste sie schließen, davon hing ihr Leben ab. Draußen, in der entvölkerten Stadt, streiften die Sarazenen umher. Sie hatte, hinter eine Balkonbrüstung gekauert, die Horden gesehen. Schwarzgesichtige Männer, die durch die Gassen liefen. Die in alle Häuser eindrangen – immer auf der Suche nach Beute: Gold, Silber, Edelsteine. Aber vor allem suchten sie Menschen, um sie zu verschleppen und zu versklaven. Bald mussten sie den Aufstieg zum Palast finden. Dann würden sie gegen die Portale hämmern. Diese waren stark, aus Bronze und innen gut verriegelt. Sie würden halten. Aber da war diese eine Pforte, die offen stand. Die sie als Letztes unbedingt verriegeln musste. Wenn sie nur wüsste, wo sie war … Sie lief los. Ihre Schritte hallten durch die Säle. Ratten huschten davon, Fledermäuse flatterten auf. Pelagia, von Panik erfasst, schrie: »Mizizios, hilf mir!« Gefangen in diesem labyrinthischen Bau, würde sie nie mehr herausfinden! Jetzt hörte sie Stimmen – fremde, kehlige Laute. Die Sarazenen! Sie hatten die Pforte entdeckt, sie waren im Palast … Pelagia wandte sich um und rannte. Ihre Sandalen hämmerten auf den Mosaikfußböden. Die Verfolger kamen immer näher. Ihre Stimmen hatten nichts Menschliches mehr. Sie schnüffelten, knurrten und bellten. Wilde Hunde! Der ganze Palast war voll davon. Ausgehungerte Hunde, die ihre Beute hetzten. Sie waren hinter ihr her, hatten schon Witterung aufgenommen …
In diesem Augenblick war Pelagia schreiend aufgewacht, doch ohne den laut neben ihr schnarchenden Mizizios zu wecken. Wenn er getrunken hatte, konnte kaum etwas seinen Schlaf stören. Sie hatte ihr Herz pochen gefühlt und war sich mit einem Schlag unendlich einsam vorgekommen. In dem Albtraum war ihr Geliebter nicht gekommen, um sie zu retten. Was bedeutete das?
Pelagia spürte eine Berührung und öffnete die Augen. Vor ihr stand eine gebeugte, in Lumpen gehüllte Frau, die Hand ausgestreckt. »Bitte, Herrin … ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen!«
Pelagia schrak zurück. Sie ekelte sich vor den schmutzverkrusteten Fingern, den rot entzündeten Augen, dem zahnlosen Mund und den weißen, verfilzten Haaren. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und geflohen. Doch obwohl sie das Weib widerlich fand, zwang sie sich, aus ihrer Börse eine Kupfermünze herauszufischen. Sie war frisch geprägt – in Syrakus, wohl aus den Dachziegeln des Pantheons oder aus einer der Statuen, die der Kaiser einst aus Rom hatte wegschleppen lassen. Auf der Vorderseite starrte sie das Bild des bärtigen Konstans finster an, während auf der Rückseite ein großes M den Wert markierte. Vierzig Nummi – ein ganzer Follis, dachte sie, viel zu viel. Aber sei's drum. Sie ließ die Münze in die aufgehaltene Hand fallen und beeilte sich, fortzukommen, da ihr die Dankesbezeugungen der Alten peinlich waren.
Unvermittelt fiel ihr der Sohn des Korallentauchers wieder ein, und sie fragte sich, wie es ihm wohl ergehen mochte. Mit dem Beutel voll Gold in der Hand, den ihr der Kaiser nach ihrem Tanz zugeworfen hatte, war sie über die Sklavenmärkte gezogen. Vergeblich, der Junge blieb verschwunden, und Pelagia hasste den Kaiser von ganzem Herzen für die Härte, mit der seine Steuereintreiber das Land ausplünderten.
Sie beschloss, umzukehren und auf Mizizios zu warten, der bald zurück sein müsste. Doch diesmal ließ sich ihr Geliebter Zeit, und als er endlich im Raum stand, schien er keinen Sinn für Zärtlichkeiten zu haben. Mit gerunzelter Stirne ließ er sich in einen Sessel fallen und starrte aus dem Fenster. Ab und zu strich er sich mit der Hand über das glattrasierte Kinn, atmete tief ein, schien etwas sagen zu wollen.
»Was ist geschehen?« Pelagias Herz klopfte. »Willst du nicht mit mir darüber reden?«
Mizizios schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann nicht. Bring mir Wein!«
Pelagia war enttäuscht, tat aber, wie ihr geheißen. Schließlich konnte sie ihm entlocken, dass der Kaiser einen Feldzug plante. Heute Abend würden einige Mitglieder des Hofes zu Mizizios kommen.
»Du darfst auf keinen Fall hier sein, das wäre zu gefährlich«, ordnete er an, doch warum, das sagte er nicht. »Du wolltest doch schon lange mal wieder diesen Juwelier besuchen«, fügte er hinzu. »Geh hin und such dir einen Ring aus!«
Pelagia nickte stumm und ließ sich nicht anmerken, wie unzufrieden sie war. »Ich muss noch etwas erledigen und bin ein, zwei Stunden unterwegs«, entgegnete sie bloß.
Mizizios nickte geistesabwesend und griff wieder zum Becher.
Pelagia verließ den Raum, nahm den Hausschlüssel, winkte ab, als Paulos die Sänfte rufen wollte und ging auf die Straße. Sie kannte einen Schmied, der sich auf Schlösser und feine Schlüssel spezialisiert hatte. Nach zwei Stunden war sie wieder zurück. Inzwischen schien Mizizios gelöster, zog sie ins Bett, und so holten sie nach, wofür am Morgen keine Zeit gewesen war.
***
Als die Sonne sich dem Horizont näherte, klopfte der erste Besucher. Pelagia öffnete, doch sogleich stand Mizizios hinter ihr. »Du wolltest doch noch spazieren gehen«, bemerkte er mit gespielter Beiläufigkeit. »Lass den Hausschlüssel hier. Wir machen dir später auf. Paulos habe ich freigegeben.«
Pelagia nickte, zog sich ihren braunen Kapuzenmantel über und war mit wenigen Schritten hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. Von dort aus beobachtete sie, wie kurz hintereinander drei weitere Männer eingelassen wurden. Als keine Besucher mehr kamen, ging sie zurück und zog den neu angefertigten Schlüssel heraus. Dass er passte, hatte sie zuvor ausprobiert und zugleich Schloss und Angeln mit Olivenöl geschmiert. Lautlos öffnete sie das Eingangsportal. Der Vorraum lag im Halbdunkel, aus dem Hauptraum klang Gemurmel. Sie zog ihre Sandalen aus, nahm sie in die Hand und pirschte sich heran, bis sie ihr Ohr an die Türe legen konnte. Das Holz war kühl und glatt, die Stimmen jetzt deutlicher zu hören. Sie kannte die Männer nur vom Sehen, wusste aber, dass alle dem Kaiser dienten.
»… dann muss er verrückt geworden sein!«, vernahm sie. »Nicht einmal sein Sohn in Konstantinopel wird ihm Verstärkung schicken!« Allgemeines Gemurmel folgte, in dem sie nichts Genaues verstehen konnte.
»… aber warum presst er sonst das Land aus? Andererseits – was will er machen, wenn er Alexandria erobert hat?«
»Wie können wir ihn davon abbringen? … bleibt kaum Zeit … müsste er noch vor den Herbststürmen lossegeln …«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen, dann redeten die Männer leise weiter. Pelagia verstand nur noch einzelne Wortfetzen … »Sondersteuern … Söldner … Langobarden … zu wenig Schiffe … Rache für die verlorene Seeschlacht …«
Plötzlich pochte es an der Eingangstüre. Pelagia zuckte zusammen, stolperte rückwärts und ließ eine Sandale fallen. Verzweifelt tastete sie im Dunkeln danach, als innen ein Stuhl kreischend über die Steinplatten geschoben wurde. Wo war nur die Sandale? Gebückt tastete sie mit der Hand über den Boden. Wieder klopfte es. »Ich komme!«, hörte sie Mizizios rufen. Pelagias Finger zitterten über die kühlen Steinplatten. Schritte näherten sich von innen. Da, jetzt bekam sie den Lederriemen zu fassen. Mit angehaltenem Atem hastete sie in die Kammer, in der sonst Paulos schlief, und zog die Türe bis auf einen Spalt zu. In diesem Augenblick trat Mizizios in den Vorraum und ließ einen Mann ein, in dem sie Andreas erkannte.
Beide verschwanden im Hauptraum. Pelagias Herz hämmerte so stark, dass sie sich gegen die Wand lehnen musste. Erst nach einiger Zeit hatte sie sich wieder genügend unter Kontrolle, um erneut zur Türe schleichen zu können. Nun hörte sie Andreas' Bass, der erregt klang.
»… und ich musste vor zwei Nächten zu ihm kommen. Er zeigte in eine Ecke. ›Da, genau da stand er. Einen Becher voll Blut in der Hand! Trink, Bruder hat er gesagt.‹ Als ich den Kaiser fragte, wen er meinte, stierte er mich mit leerem Blick an. ›Theodosius … mein toter Bruder!‹, stammelte er. Was meint ihr dazu?«
Wieder brandete Stimmengewirr auf, so dass Pelagia nichts mehr verstand. Aber sie hatte ohnehin genug gehört.
Langsam richtete sie sich auf, zog die Sandalen an, öffnete leise die Vordertüre und trat in die laue Sommernacht hinaus. Ziellos durchstreifte sie die Gassen, während ihr wirre Gedanken durch den Kopf wirbelten. Nachdem ihr genügend Zeit verstrichen zu sein schien, kehrte sie zurück und pochte vernehmlich an das Portal. Als die Torflügel aufschwangen und Licht auf das Pflaster fiel, sank sie in Mizizios' Arme.
***
Zwei Wochen später, am Morgen des 15. Septembers, ritt eine kleine Gruppe auf die Brücke zu, die den Stadtteil Ortygia mit dem übrigen Sizilien verband. Der Himmel war bedeckt und Windstöße ließen das Banner flattern, dessen Schaft ein Fahnenträger umklammert hielt. Ihm folgten ein Dutzend Soldaten, danach kam der bärtige Kaiser, in einen perlenbesetzten Mantel gehüllt. Ängstlich spähten die Bürger von Syrakus aus den Fenstern. Verkäufer schoben scharrend ihre Stände an den Straßenrand, Händler trieben hastig ihre beladenen Maultiere in Seitengassen, ein Korbflechter blickte mit verkniffenem Mund den Reitern nach.
Doch nicht einmal der Mann und die Frau, die den Zug beschlossen, schienen die finsteren Mienen und die halblauten Flüche, die ihnen nachgesandt wurden, zu bemerken. Zu sehr waren sie in ihr leise geführtes Gespräch vertieft.
»Wir müssen handeln«, sagte Pelagia, wobei sie jedes Wort einzeln betonte.
Der stämmige Mann neben ihr nickte langsam. »Nur – was können wir tun?«
»Warum nicht nach Konstantinopel schreiben, dass der Kaiser nicht mehr Herr seiner Sinne ist? Dass er, wie du mir erzählt hast, Gespenster sieht, die Provinzen ausplündert, zu einem größenwahnsinnigen Feldzug rüstet, der uns alle ins Verderben reißen wird?«
Andreas zuckte mit den Schultern. »Wer sollte denn ein solches Schreiben unterzeichnen? Solange er lebt, ist Konstans gottgewollter Kaiser des Römischen Reiches. Wer könnte ihn zur Abdankung zwingen?« Er schüttelte den Kopf. »Da müsste schon sein Sohn aus Konstantinopel mit einem Heer anrücken, um den Alten in ein Kloster zu verbannen. Meinst du, der junge Konstantinos wird das tun, während die Sarazenenflotte schon die Inseln nahe der Hauptstadt verheert? Nur weil ihn ein Klagebrief aus Syrakus erreicht?«
Pelagia presste die Lippen zusammen und starrte grimmig nach vorne, wo bereits die Häuser des Vorortes Daphne zu erkennen waren. Dort lag ein Badehaus, das der Kaiser gerne aufsuchte. Seit ihrem Auftritt in seinem Palast, befahl er Pelagia gelegentlich, so auch heute, ihn von einem Nebenraum aus mit Musik zu unterhalten, während er sich im Dampfbad räkelte.
»Wenn er tot wäre«, überlegte sie nach einer Weile laut, »dürfte ihm wohl kaum jemand eine Träne nachweinen. Die Exarchen in Karthago und Ravenna wären gewiss erleichtert. Und Papst Vitalianus? Der ist vom Kaiser oft genug gedemütigt worden. Denk daran, dass Konstans ihm erst vor kurzem die Oberhoheit über den Bischofssitz von Ravenna entzogen hat. Das hat ihn wohl mehr gekränkt als die Ausplünderung Roms. Er könnte voll heimlicher Freude einen Trauergottesdienst anberaumen, während in Rom, Syrakus, Karthago und Konstantinopel das Volk auf den Straßen tanzt …«
»So etwas darf man nicht einmal denken!«, gab der Cubicularius erschrocken zurück. Doch die junge Frau sah, wie er die Stirn in Falten legte und nachzudenken schien.
»Mit achtunddreißig Jahren ist er zwar noch nicht alt, aber wenn ihm beispielsweise das heiße Bad nicht bekäme …«, fuhr sie fort.
»Und warum sollte das gerade jetzt geschehen?«, entgegnete Andreas zweifelnd.
»Was weiß ich«, erwiderte Pelagia mit unschuldiger Miene. »Ich bin doch nur ein schwaches Weib!«
Den Rest der Strecke schwieg sie, beobachtete aber aus den Augenwinkeln den jungen Mann neben sich.
Nachdem sie an dem Abend vor zwei Wochen zu Mizizios zurückgekehrt war, hatte sie vergeblich versucht, etwas von ihm über die Versammlung zu erfahren. Und so hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und Andreas angesprochen. Sie hatte ihn nicht lange drängen müssen – zu groß war sein Zorn auf den Kaiser und gemeinsam hatten sie oft die Missstände am Kaiserhof beklagt. Pelagia wusste zudem, dass der Kaiser dem Stadtpräfekten befohlen hatte, einen Haufen Goldstücke zu beschaffen. Und sie hatte auch munkeln gehört, was mit Andreas' Vater geschehen könnte, sollte es ihm nicht gelingen, die geforderte Summe aus den Einwohnern von Syrakus herauszupressen. Das Auspeitschen oder Abschneiden von Nase und Ohren gehörte dabei keineswegs zu den schlimmsten Strafen, die bei der Missachtung der kaiserlichen Befehle drohten.
***
Als sie das Badehaus erreichten, zeigte aufsteigender Rauch, dass bereits eingeheizt war. Die Soldaten hockten sich unter dem Säulengang auf den Boden, wo sie lautstark zu würfeln begannen. Andreas folgte dem Kaiser nach innen, während Pelagia in einem Nebenraum ihre Kithara aus einem Lederbeutel zog. Sobald ihr Andreas das Zeichen geben würde, dass Konstans in der großen Steinwanne lag, würde sie sich in eine Ecke des Raumes setzen und mit ihrem Spiel beginnen. Doch diesmal schien es länger zu dauern. Nach einiger Zeit wurde sie neugierig, nahm ihr Instrument und schlich hinüber. Als sie um die Ecke lugte, sah sie den bärtigen Kopf des Kaisers. Er ruhte auf dem Wannenrand, halb verdeckt durch eine große, bronzene Seifenschale. Die Augen waren geschlossen, leichtes Schnarchen verriet, dass er eingeschlummert war. Über ihn gebeugt stand Andreas und sah auf die Wanne herab, aus der leichte Dampfschwaden aufstiegen. Der kräftige, untersetzte Mann fuhr herum, als er Pelagias Schritte vernahm, dann atmete er tief durch.
»Soll ich …«, fragte sie leise, doch er schüttelte den Kopf, wobei er den rechten Zeigefinger auf die Lippen legte.
Unschlüssig verharrte Pelagia, als Andreas stumm eine Geste machte, als wolle er etwas herunterdrücken. Fragend sah sie ihn an, so dass er die Bewegung wiederholte. Er hielt beide Handflächen über das bärtige Haupt, senkte sie langsam herab. Als sie begriff, was er meinte, durchfuhr sie ein Schreck. Wollte er den Kaiser im Bad ertränken? Hatte er ihre Überlegungen so verstanden? Ein Mord, mit ihrer Billigung? Aber hatte sie es denn nicht so gemeint? Was um Gottes willen sollte sie tun?
Jetzt verlagerte Andreas sein ganzes Körpergewicht nach vorne, seine Hände fuhren herab und drückten den bärtigen Kopf unter Wasser. Schlagartig verwandelte sich die friedliche Szene in einen Kampfplatz. Gurgelnde Laute drangen aus der Wanne, platschend fuhren des Kaisers Arme empor, Wasser spritzte durch den Raum, Dampfwolken wallten auf. Dann gelang es Konstans, sich aus dem tödlichen Griff zu befreien. Mit verklebtem Bart, die Augen schreckgeweitet, tauchte sein Kopf über den Wannenrand, hustend spie der weit geöffnete Mund Wasser aus.
»Spiel!«, zischte Andreas in Pelagias Richtung, während ein muskulöser Arm nach seinem Hals zu greifen versuchte. »Und sing!«
Zitternd nahm Pelagia die Kithara und begann, so laut sie es vermochte, ein fröhliches Trinklied zu singen. Immer wieder kippte ihre Stimme, während die zwei Männer miteinander rangen, doch vermochte sie es, die Hilferufe des Kaisers zu übertönen. Mehrfach schien es, als sei es Andreas gelungen, ihn endgültig unter Wasser zur drücken, allein, immer wieder konnte Konstans sich ihm entwinden und erneut nach Luft schnappend auftauchen. Plötzlich ließ Andreas los.
Der Kaiser wuchtete seinen stark behaarten Oberkörper auf den Wannenrand und starrte mit wasserverklebten Augen in Pelagias Richtung. »Hilf mir!«, gurgelte er, während Wasser aus seinem Bart rann.
Die junge Frau sah ihn entsetzt an und verstummte. In ihrem ganzen Leben sollte sie das, was nun folgte, nie mehr aus ihrem Gedächtnis tilgen können. Nachts würde sie aus dem Schlaf fahren und wieder vor sich sehen, wie Andreas nach der bronzenen Seifenschale griff. Wie er sie hob, um sie mit voller Wucht auf den bärtigen Kopf sausen zu lassen. Wie ein roter Fleck auf der Schläfe des Kaisers aufplatzte. Wie Blut die vor Nässe herabhängenden Bartspitzen färbte. Wie Konstans zusammensackte und in die Wanne zurückglitt. Wie sich das Wasser über ihm schloss und leicht wogte, während eine rote Wolke darin wucherte, bis zuletzt alles purpurfarben war …
Vor Schreck wie gelähmt starrte Pelagia auf die Wanne mit dem regungslosen Körper. »Du hast ihn umgebracht«, flüsterte sie erschüttert, »und jetzt?«
Andreas blickte benommen auf die Blutspritzer auf seiner Tunika, danach auf die Seifenschale in seiner Hand. Mit leisem Klacken stellte er sie auf den Wannenrand. »Du, du wolltest doch …«, stotterte er, dann riss er sich zusammen. »Wir müssen fliehen, sonst sticht uns seine Leibwache nieder.«
Pelagia nickte hektisch. »Hinten gibt es ein Fenster. Das müsste groß genug sein.«
Andreas zwängte sich zuerst durch die Öffnung und half ihr von außen.
»Die Pferde sind vorne angebunden, wo die Soldaten lagern«, raunte er. »Wir müssen laufen. Kannst du?«
Pelagia nickte, und sie rannten los.
***
Völlig außer Atem, von Seitenstechen gepeinigt, erreichte sie das Haus, in dem sie seit vier Monaten wohnte. Vorbei an dem verblüfften Paulos, der ihr geöffnete hatte, stürzte sie durch die Türe. »Ist Mizizios da?«, keuchte sie.
»Ja, oben, aber was ist …«
Pelagia hörte nicht auf ihn, nahm mit letzter Kraft die Stufen und warf sich an die Brust ihres Geliebten. »Er ist tot, ich muss fliehen …« Zu mehr reichte ihre Kraft nicht mehr.
Der schwarzgelockte Mann nahm sie in die Arme und strich ihr über das Haar. »Beruhige dich«, entgegnete er mit der angenehmen Stimme, die sie so liebte. »Was ist geschehen?«
Sie lehnte sich zurück, blickte in das Gesicht mit den großen, dunklen Augen und begann, hemmungslos zu weinen. »Andreas hat den Kaiser erschlagen«, schluchzte sie und erzählte, was geschehen war.
Mizizios sah sie nachdenklich an. »Du darfst auf keinen Fall fliehen«, meinte er zuletzt, »das käme einem Schuldeingeständnis gleich. Sie würden dich finden, wo auch immer du dich versteckst …« Er strich sich über das Kinn, während er im Raum auf und ab ging. »Für Andreas kann ich nichts tun, aber du bist unschuldig. Ich muss zuerst zu den Soldaten sprechen, mir vertrauen sie.«
Er ging zur Türe. »Paulos, bring mir Stiefel, Schwert und Mantel!«
Kurze Zeit später war er mit langen Schritten auf dem Weg zur Festung, in der die kaiserlichen Söldner stationiert waren, gefolgt von der atemlosen Pelagia.
Doch schon auf dem Weg dahin war eine seltsame Unruhe in der Stadt zu spüren. Männer rannten durch die Gassen, Geschäfte wurden verriegelt und Mütter zerrten ihre Kinder ins Haus.
»Der Pogonatos ist tot«, hörten sie plötzlich eine alte Frau aus einem Fenster rufen.
»So? Dann hat Gott unsere Gebete erhört!«, lachte ihre Nachbarin von gegenüber.
Pelagia hatte kaum Zeit, sich zu wundern. Schon erreichten sie den Platz vor der Festung, auf dem sonst die Paraden stattfanden. Überall standen Soldaten herum, die Mizizios ehrerbietig begrüßten, als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte.
Er stieg auf einen Stapel Fässer und hob die Hand. »Kameraden«, rief er, und Stille breitete sich aus wie ein Ölfleck auf einer Wasserlache. »Konstans ist tot, wir …«
»Hoch lebe Mizizios!«, rief eine Männerstimme mit armenischem Akzent, mehrere stimmten zu.
»Er lebe hoch!«
Pelagia, die ebenfalls ein Fass erklommen hatte, erkannte jetzt auch Andreas in der Menge.
»Kameraden«, versuchte sich Mizizios Gehör zu verschaffen. »Jetzt müssen wir …«
»Einen neuen Basileus wählen!«, schrie ein junger Soldat und hob sein Schwert. Das Murmeln in der Menge schwoll wieder an. Pelagia stand jetzt neben ihrem Geliebten, der ihr verwirrt zuraunte. »Ich weiß nicht, was los ist. Sie hören nicht auf mich!«
»Mizizios soll unser Basileus sein!«, schrie Andreas so laut er konnte, und dieser Ruf breitete sich in der Menge aus wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steines. »Mizizios Basileus, Mizizios Basileus …«
Der Genannte sah sich verwirrt um. »Ich will aber nicht«, rief er, »wir haben doch seinen Sohn Konstantinos in Konstantinopel!«
Doch niemand schien auf ihn zu hören. Immer wieder hallten die Rufe »Mizizios Basileus!« über den Platz, während die Soldaten rhythmisch ihre Speere an die Schilde schlugen.
»Was soll ich tun?«, fragte er hilflos, an Pelagia gewandt. »Ich will nicht Kaiser werden!«
»Warum nicht?«, entgegnete sie mit glänzenden Augen. »Du bist als General der Richtige! Du hast mir doch erzählt, wie du in Armenien ein ganzes Sarazenenheer vernichtet hast!«
Mizizios nickte zögernd. »Ja, das schon. Nur was werden die Exarchen in Karthago und Ravenna tun?«
»Haben nicht viele ihrer Vorgänger auch schon rebelliert?«, fragte Pelagia. »Und hast du selbst dich nicht immer wieder über diese Schreibstubenhelden lustig gemacht?« Sie nahm seine Hand. »Wir könnten wieder ein Kaisertum im Westen begründen. Das müsste auch der Papst wollen. Dann braucht er nicht mehr vor dem fernen Konstantinopel zu buckeln. Wir könnten uns mit den Langobarden verbünden, Rom wieder zur Hauptstadt machen …«
Weiter kam sie nicht mehr. Aus einzelnen Stimmen war jetzt ein Ruf geworden, den die vielhundertköpfige Menge wie ein Mann skandierte.
»Mizizios Basileus!«
Zuletzt trat Mizizios vor, hob die Hand und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. »Ich nehme eure Wahl an! Ich will euer Kaiser sein!«, rief er.
Während die Menge vor Begeisterung tobte, traten Pelagia die Freudentränen in die Augen. Sie war stolz auf ihren Geliebten – diesen stattlichen, von den Soldaten umjubelten Mann. Er hatte ihr vor wenigen Tagen versprochen, sie in Rom zu seiner Ehefrau zu machen. Als künftige Kaiserin würde sie in die Stadt einziehen, die sie vor fünf Jahren als armes Mädchen verlassen hatte. Sie war am Ziel ihrer Träume.