Kapitel 3
Das Rote Martyrium
(651-653 n. Chr.)
»Er kam zur Stadt Radaspona, die, aus behauenen Steinen erbaut, Hauptstadt und Festung dieses Stammes geworden war. Die Stadt, von der wir sprachen, Reganesburg, war uneinnehmbar, aus Quadersteinen erbaut, wurde hoch überragt von mächtigen Türmen und war überreich an Brunnen. Ihren nördlichen Teil bespülte die Donau auf ihrem Weg nach Osten.«
Arbeo, Lebensbeschreibung des heiligen Haimhram (Emmeram), 8. Jh.
Langsam schob sich der flache Prahm den Fluss hinauf. Der Kapitän, ein kleiner, vierschrötiger Mann, dessen lockige Mähne vom Wind zerzaust wurde, stand am Bug, den rechten Fuß auf die Bordwand gestellt. Seine zusammengekniffenen Augen wanderten über die Wasserfläche, auf der ihm das Spiegelbild der Sonne, in zahllose Lichtflecke zerfallen, wie tanzende Edelsteine entgegenfunkelte. Die Rechte über die Augen gelegt, musterte er das Bauwerk, das sich einige Hundert Schritt entfernt über den großen Strom spannte. Ein gutes Dutzend verwitterter Steinpfeiler ragte aus dem Wasser, von Holzbalken überspannt, die Alter, Fäulnis und gelegentliche Brände dunkel verfärbt hatten. Nur einige hellere Flickstellen zeugten davon, dass es auch in diesen Zeiten der Armut und Gesetzlosigkeit noch Menschen gab, denen daran gelegen war, die uralte Rheinbrücke vor dem Einsturz zu bewahren.
Seit zwei Jahrzehnten schon befuhr der Kapitän den großen Strom. Vom Nordmeer bis zur Stadt Basilia ließ er sein Schiff flussaufwärts treideln, um es danach, mit neuen Waren gefüllt, wieder von der Strömung zurücktragen zu lassen. Viel hatte er auf seinen Reisen erlebt und gesehen. Doch nichts war darunter gewesen, das den frommen Mann so mit Staunen erfüllte wie dieses Wunderwerk, das einst, der Überlieferung zufolge, Kaiser Konstantin mit Gottes Hilfe errichtet hatte. Jetzt konnte er bereits die Köpfe der Menschen erkennen, die sich über die Brücke schoben, überragt von den Umrissen zweier Reiter sowie einem mit Stoffballen beladenen Wagen. Es wurde Zeit, den Hafen anzusteuern.
Vom Ufer hallten die rhythmischen Rufe herüber, mit denen die Treiber die Zugochsen anfeuerten. Der Kapitän gab dem Steuermann ein Zeichen, das Steuerruder umzulegen. Das Wasser gurgelte, als der Kahn, den Treideltauen folgend, nach rechts schwenkte. Gemächlich näherten sie sich dem Ufer, hinter dem die Mauern und Türme der Stadt aufragten. Hier würden sie einen Teil der Ladung löschen und den Mitreisenden an Land setzen. An der Rheinmündung, dem Beginn dieser Fahrt, hatte der Kapitän den seltsamen Mann beobachtet, wie er am Ufer umherirrte, mit wilden Gesten und einem schauderhaftem Sprachgemisch fragte, wie man nach Colonia kommen könne. Als er erfuhr, dass es sich um einen irischen Wandermönch handelte, hatte er ihn für Gotteslohn an Bord genommen.
Der Kapitän ging zu dem Fremden, der mittschiffs auf einigen britannischen Wollsäcken ausgestreckt lag, und betrachtete schmunzelnd die kräftige, in einen dunklen Umhang gehüllte Gestalt. Während der vordere Teil des Schädels kahl geschoren war, wallte vom Hinterkopf eine lange, rotblonde Mähne. Der Mund in dem markanten Gesicht stand halb offen, die Augen mit ihren dunkel gefärbten Lidern waren geschlossen. Ein kräftiges Schnarchen übertönte das Rauschen des Flusses.
Jäh brach es ab, als der Kapitän sich herunterbeugte und den Mönch an der Schulter rüttelte. »Aufwachen, Peregrinus, wir sind in …«
Padraich hatte lange versucht, wach zu bleiben, doch die warme Herbstsonne, das sanfte Rauschen und die wiegenden Bewegungen des Schiffes waren zu viel für seinen entkräfteten Körper gewesen. Von Eoforwic aus war er nach Süden aufgebrochen und ungezählte Tage über die grasüberwucherten römischen Straßen Britanniens gewandert. Nur kurz hatte er die Gastfreundschaft der christlichen Gemeinde im Dorf Lundenvic genossen, um an einem Sonntagsgottesdienst in der Paulskirche teilzunehmen, die sich inmitten der verlassenen Ruinen der nahen römischen Stadt erhob. Jeden Tag, ob sonnig oder regengepeitscht, war er morgens aufgebrochen, um sich nicht eher Rast zu gönnen, bis nach zehn Stunden sein selbst gesetztes Pensum von etwa dreißig römischen Meilen erfüllt war. In Cantwarabyrig hatte ihm der dortige Bischof einige Münzen aufgedrängt, mit denen er die Überfahrt über das Meer bezahlen konnte. Und an der Nordküste Francias gelandet, hatte ihm Gott in seiner Gnade diesen Flussschiffer gesandt, der …
… jetzt schmunzelnd vor ihm stand und mit dramatischer Geste ans Ufer wies: »… Colonia!«
Padraich rieb sich die Augen, rappelte sich auf und spendete dem Kapitän den Segen Gottes.
»Gerne geschehen«, antwortete dieser. »In zwei Tagen fahre ich weiter stromaufwärts, wenn du mitkommen willst …«
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber für die vielen Kirchen und Heiligen der Stadt werde ich wohl mindestens zwei Wochen brauchen.«
Ungelenk balancierte er über eine Planke an Land, sein Bündel geschultert. Zu seiner Linken ragte ein ausgedehnter, rechteckiger Bau empor, auf dessen dachlosen Mauern sich Büsche festkrallten.
»Alte Speicherhallen«, rief ihm ein Hafenarbeiter auf seine Frage hin zu, ob dies ein heidnischer Tempel gewesen sei.
Ein Stück weiter musste sich Padraich nordwärts wenden, da ihm die Stadtmauer den Weg versperrte. Er folgte ihr, während Möwen kreischend am Himmel segelten, bis er zu einem quadratischen Turm kam, hinter dem die Mauer nach Westen abbog. In ihrem Schatten ging er weiter und verweilte einen Augenblick vor einem dreibogigen Stadttor. Der riesige Mitteldurchgang, in den unzählige Schwalben ihre Nester geklebt hatten, gab den Blick auf eine Straße frei, die heruntergekommene Häuser säumten. Die beiden seitlichen Türme, durch deren Bogenfenster der blaue Himmel schimmerte, wurden jeweils von einem Storchennest gekrönt. Im Erdgeschoss des rechten Turmes hatte sich eine kleine Bäckerei eingerichtet, bei der Padraich einen noch warmen Brotfladen erstand. Als er sich aber den Weg zu der Kirche ›Zu den Goldenen Heiligen‹ beschreiben ließ und daran denken musste, warum er hier war, verkrampfte sich sein Magen.
Der schmale Trampelpfad entfernte sich jetzt von der Mauer und wand sich durch überwucherte Tempelchen, vom Frost zersprengte Grabpfeiler und umgesunkene Steinplatten, von denen ihm die Köpfe längst zu Staub zerfallener Heiden nachzublicken schienen. Ein zerlumpter Hirtenjunge, dessen Schafherde zwischen den Trümmern graste, glotzte dem Mönch nach und pfiff auf zwei Fingern, als Padraich ihn nicht weiter beachtete.
Endlich erhob sich vor ihm der ovale, weiß verputzte Kuppelbau. Außen umgaben ihn halbrunde Apsiden, die sich wie Küken um eine Glucke scharten. Padraich zögerte, atmete tief durch, dann Umschrift er die Kirche und betrat das weite, von Säulen umstandene Atrium, das sich vor dem Westeingang erstreckte.
Ein scharrendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Ein verkrüppelter Bettler schob sich mit krebsartigen Bewegungen heran, seine Holzschale gereckt. Er reichte ihm den Rest des Brotfladens, den sich der Mann in den Mund schob, wobei er kauend fragte: »Willst du den Brunnen sehen, in die man die Leichen der Thebäer geworfen hat?«
Padraich verneinte verhalten. »Später vielleicht. Jetzt suche ich den Diakon Memilian.«
Der Bettler zeigte mürrisch auf die Kirche. »Da drin.«
Der Mönch betrat das Gotteshaus und erstarrte vor Ehrfurcht, als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Unzählige Öllampen flackerten wie Sterne, ihr Schein spiegelte sich in den blank polierten Marmorplatten der Wandverkleidung. Ringsum versanken die von Doppelsäulen getrennten Apsiden im Halbdunkel, während die Kuppel im Goldglanz eines Mosaiks erstrahlte, das einen Kreis stehender Soldaten darstellte. Dichte Weihrauchschwaden kitzelten seine Nase, so dass er niesen musste.
»Gott zum Gruß, Fremder«, hörte er eine freundliche Stimme in flüssigem Latein und wandte sich rasch um. Ein kahlköpfiger, schwarz gekleideter Mann mit tiefen Ringen unter den Augen wies nach oben. »Die heiligen Märtyrer der Thebäischen Legion, von denen du sicher schon gehört hast.« Padraich nickte. »Bist du Memilian?«
»Ja, mit was kann ich dir dienen?«
»Ich komme aus Irland und ich …«, er stockte, wusste auf einmal nicht weiter.
»Dass du ein Peregrinus bist, habe ich sofort gesehen.«
Der Diakon musterte ihn, dann weiteten sich seine müden Augen. »Bringst du etwa Nachricht von unserem Sohn?«
Padraich nickte stumm.
»Gott sei gepriesen. Ach, das wird meiner Frau gut tun!« Der Mann hob erleichtert die Hände, verbeugte sich in Richtung des Altars und eilte zum Ausgang. »Wir haben so lange nichts mehr von ihm gehört. Aber was Wunder, die Zeiten sind schlecht …« Eilig überquerte Memilian das Atrium, öffnete eine Türe unter der Säulenreihe und rief: »Maria, welches Glück! Ein Mönch mit einer Botschaft von unserem Sohn!«
Padraich betrat den kleinen, weiß gekalkten Raum, sah die Frau auf der Liege und fühlte sich fast noch elender als an dem schrecklichen Tag vor über zwei Jahren.
»Nimm Platz, ich hole einen Krug Bier«, rief Memilian aufgeregt und verschwand in einem Nebenraum. Die Frau richtete sich ächzend auf und ihr zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Kennst du unseren Sohn gut?«, wisperte sie. Als Padraich stumm nickte, streckte sie ihre skelettartige Hand aus. Er ging auf sie zu, sie umfasste seine Finger, führte sie zum Mund und berührte sie mit den Lippen. »Danke, dass du zu uns gekommen bist. Wie geht es ihm?«
»Er ist …«, begann Padraich, doch in diesem Moment kehrte der Diakon mit dem Bier und zwei Bechern zurück.
»Maria ist zu krank, aber wir beide können feiern«, rief er überschwänglich und schenkte ein. »Trinken wir auf unseren Sohn. Ist er noch so fleißig?«
Padraich, der auf einem Hocker neben Marias Bett Platz genommen hatte, brachte es nicht übers Herz, sofort mit der Wahrheit herauszuplatzen. »Ja, er war einer der Besten. Nur etwas in sich gekehrt«, fügte er leise hinzu.
»Ja, das war er immer«, seufzte die Frau. »Unser einziger Junge, ein so stilles und ernstes Kind. Geht es ihm auch gut?«
»Nun«, nahm Padraich seinen ganzen Mut zusammen, »leider …«
»Ist er krank? Aber doch nichts Schlimmes?«, keuchte die Frau und ihre knochige Hand umklammerte wieder das Handgelenk des Besuchers.
»Nein«, zuckte der Mönch zurück, »es geht ihm jetzt sehr gut, denn Gott hat …«
»Na siehst du, Maria«, unterbrach ihn der Diakon beschwichtigend, um dann achselzuckend fortzufahren. »Ständig macht sie sich Sorgen. Ich sage ihr immer: ›Habe Vertrauen zum Herrn, er wird einen so frommen Jungen beschützen.‹ Aber so sind Mütter halt …« Er nahm einen Schluck. »Wie heißt du überhaupt? Wie unhöflich von uns, sich nicht danach zu erkundigen. Aber das unerwartete Glück«, er trank noch etwas, um, als der Mönch seinen Namen genannt hatte, zu fragen: »Wie ist das Leben in Irland? Lernt man da wirklich so viel, wie man hier hört?«
Padraich, dessen Herz wild hämmerte, war froh, den schrecklichen Augenblick noch etwas aufschieben zu können. Bereitwillig erging er sich in Schilderungen des Klosteralltags, doch jedes Mal, wenn die Eltern etwas wissen wollten, das ihren Sohn betraf, fehlte ihm der Mut, die Wahrheit zu gestehen. So hörte er sich reden, das Klosterleben schildern, von dem jungen Memilian erzählen, und als er merkte, wie glücklich die kranke Mutter jedes Wort aufsog, begann er unwillkürlich, seinen Bericht mit erfundenen Einzelheiten auszuschmücken.
Mit der Zeit wurde die Frau immer schwächer und schließlich erhob sich ihr Mann. »Ich muss ihr jetzt die Suppe kochen«, sagte er entschuldigend. »Du bleibst doch sicher noch? Du kannst gerne bei uns übernachten!«, fügte er mit dem Blick auf das kleine Fenster hinzu, hinter dem sich der Abendhimmel rötete. Doch Padraich, dem fast schlecht vor Scham war, bedankte sich und schützte vor, schon bei einem frommen Bürger der Stadt Quartier gefunden zu haben.
»Komm näher«, hörte er Maria flüstern, und als er niederkniete und die zitternde Hand auf seiner Stirn spürte, hätte er heulen mögen. »Du hast den weiten Weg für uns gemacht«, flüsterte sie, »Gott segne dich. Er wird mich bald zu sich rufen. Ich danke ihm, dass er mir noch dieses Glück geschenkt hat …«
Sie verstummte und Padraich stand rasch auf.
»Gib Acht«, riet ihm Memilian beim Abschied. »Nachts treibt sich auf den Straßen Colonias allerlei Gesindel herum.«
Der Mönch nickte, verabschiedete sich, zugleich erleichtert und schuldbewusst, und schulterte sein Bündel. Mit langen Schritten ging er direkt auf die Stadtmauer zu, bis er auf einen runden Turm stieß, der die Nordwestecke der Befestigung bildete. Die Strahlen der untergehenden Sonne ließen den oberen Teil in rötlichem Glanz erstrahlen; das dunkle Mauerwerk darunter schmückten Linien und bogenförmige Muster aus weißen, sorgfältig behauenen Steinen.
Unschlüssig verharrte Padraich, als er das Geblöke einer Schafherde vernahm, die auf ihn zukam. Er fragte ihren Hirten nach dem nächsten Stadttor – erst auf Latein, um es dann, als dieser ihn nur verständnislos anglotzte, mit seinen fränkischen Brocken zu versuchen. Der Junge zeigte nach Süden und bald stand er vor einem von zwei Türmen flankierten Bogen, der auf eine große Straße führte. Sie war von Ruinen eingefasst und schien bis zum anderen Ende der Stadt zu reichen. Als er die grasüberwucherten Steinplatten entlangschritt, im Ohr das Klacken seines Wanderstabes, kam er sich unendlich einsam vor. Einen Augenblick bedauerte er es, Memilians Gastfreundschaft ausgeschlagen zu haben, doch zugleich peinigte ihn das Schuldgefühl, und er wusste, dass er nicht länger dieses Lügengespinst hätte weben können. Du sollst kein falsches Zeugnis geben, schoss es ihm durch den Kopf, voll Scham musste er an seinen selbstgerechten Wortwechsel mit Kevin dem Barden denken. Dann begann ihn der Hunger zu plagen und seine Sorgen in den Hintergrund zu drängen, so dass er beschloss, beim Hafen nach einem Mahl und einem Bett zu fragen. Vielleicht konnte er dem Kapitän beim Beladen des Schiffes zur Hand gehen und übermorgen doch seine Reise fortsetzen.
Da hörte er einen Schrei.
Ein kurzer Schmerzenslaut, gefolgt von einem Lachen, dem nichts Freundliches anhaftete.
Padraich erstarrte, umklammerte seinen Wanderstab, lauschte.
Die Schatten der hereinbrechenden Nacht erfüllten die schnurgerade Straße. Niemand war zu sehen. Schwalben jagten über den Himmel, an dem Schleierwolken im Abendrot schimmerten. Grillen zirpten, eine Amsel flötete ihr Lied, alles schien friedlich. Langsam atmete Padraich aus und wollte seinen Weg schon fortsetzen, als ihn ein erneuter Schrei zusammenzucken ließ. Ein Stück voraus, aus einer der Querstraßen, die bereits im Dunkel versanken. So leise er konnte, lief er los, während Schmerzenslaute, Wortfetzen und Gelächter an sein Ohr drangen. Ein Dutzend Schritt weiter sah er eine Gestalt auf die Hauptstraße stolpern und längs hinschlagen. Padraich huschte zum Rand der Straße, drückte sich in das leere Portal einer Ruine und beobachtete, wie zwei Männer zu dem Gestürzten liefen. Der eine warf etwas Klirrendes auf die Steinplatten, während der andere den Mann am Boden anfuhr.
»Da hast du dein dreckiges Geld. Jetzt gib uns den Schuldschein!«
Der Gestürzte richtete sich auf. Padraich konnte erkennen, dass es sich um einen alten Mann mit grauen Haaren und einem langen Bart handelte. Seine Antwort war auf die Entfernung nicht zu verstehen, doch schien sie die Männer zu erbosen, denn sie begannen, ihn zu treten.
Da hielt es Padraich nicht länger in seinem Versteck, er lief zu der Gruppe und schrie erzürnt: »Lasst ihn! Was tut ihr da?«
Die zwei wandten sich um, und Padraich sah, dass es Franken sein mussten, denn sie trugen lange, unten zusammengebundene Hosen, dazu Stiefel, weite Hemden und Ledergürtel, in denen Messer steckten. Der größere der Männer, dessen Obergewand eine Goldfibel schmückte und der ein Kurzschwert am Gürtel trug, stierte den Neuankömmling ungläubig an. Dann lachte er höhnisch.
»Na, was sucht uns denn da heim?« Er legte den Kopf schief und fragte herausfordernd: »Wer bist du?«
»Padraich, ein irischer Peregrinus. Warum misshandelt ihr den armen Mann?«
»Nun, er könnte uns gereizt haben. Oder vielleicht macht es uns einfach Spaß. Wer kann das so genau sagen?« Der Franke, ein Mann mittleren Alters, hob den Zeigefinger zu einer spöttischen Drohgebärde. »Auf jeden Fall geht es dich nichts an. Weißt du, mein Mönchlein, was du am Ende dieser Straße findest?« Unwillkürlich schüttelte Padraich den Kopf. »Da liegt rechts ein Kirchlein und links ein Kirchlein. Du suchst dir eines aus und betest schön fleißig für unser Seelenheil. Aber ganz hurtig, denn Grifos Geduld währt nicht ewig!«
Padraich spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Doch er beherrschte sich, trat zu den Franken und sah dem Wortführer ins Gesicht. »Gottes Geduld auch nicht!«
Grifo sah ihn verblüfft an, dann runzelte er die Stirne und verzog den Mund. »Was erwartet der Herr? Dass ich armer Sünder jetzt einen verzagten Furz lasse? Oder sollten wir in unserem Langmut«, dabei wandte er sich an seinen Kumpan, »dieser bemalten Vogelscheuche erklären, an was für einen Klumpen Kot sie ihr Mitleid verschwendet?« Er zeigte auf den Alten am Boden, der stöhnend seinen Knöchel befingerte. »Diesem Juden haben wir die Ehre erwiesen, uns zehn Solidi leihen zu dürfen. Und jetzt, da wir ehrliche Christenmenschen sie ihm zurückzahlen wollten, da behauptet dieser Abschaum, unser Geld sei ihm nicht gut genug. Verhält es sich nicht so?«
Diese Worte waren an den Alten gerichtet, der abwehrend den Arm erhob. »Ihr wolltet mir keine römischen Solidi geben, sondern fränkische Fälschungen!«
»Na also, der Christusmörder gibt's zu! Fränkisches Geld passt ihm nicht!«, rief der kleinere Franke mit einem Seitenblick auf seinen Herrn. Dabei versetzte er dem Liegenden einen Tritt, der den Alten aufstöhnen ließ.
Unvermittelt brach sich Padraichs Anspannung der letzten Stunden Bahn. Er packte seinen Wanderstab wie einen Speer und stieß den kleineren Franken so vor die Brust, dass der nach hinten taumelte, stürzte und auf dem Hintern landete.
Ein Blinken, das er aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ Padraich herumfahren. Grifo hatte sein Schwert gezückt! Leicht geduckt näherte er sich dem Mönch, der zurückwich und abwehrend seinem Stab mit beiden Händen vor sich hielt.
»Vogelscheuche, jetzt bist du dran!« Grifos Mund stand halb offen, Speichel troff von seinen Lippen. »Jetzt kriegst du …« Noch bevor er den Satz vollendet hatte, sprang er wie ein wütender Hund vor, sein Schwert stoßbereit. Padraich zuckte zurück, wich nach rechts aus, um den Anderen ins Leere laufen zu lassen, doch der war offenbar auf diese Finte vorbereitet. Die Klinge fuhr zur Seite, durchschnitt die Kutte des Mönchs und traf seinen linken Unterarm. Obwohl er nur den Schlag, aber noch keinen Schmerz verspürte, erfüllte Padraich zunächst Schreck, danach rasende Wut. Er fuhr herum und schmetterte Grifo seinen Wanderstab an den Kopf, dass dieser taumelte und zu Boden sank.
Da, eine rasche Bewegung – der kleine Franke hatte sich aufgerappelt, seine Waffe gezogen, machte einen großen Schritt über den liegenden Alten. Doch bevor er Padraich erreichen konnte, packte die Hand des Juden seinen Knöchel, so dass er stolperte, stürzte und das Messer auf das Pflaster klirrte. Als Padraich sich ihm zuwandte, rollte sich der Franke mit verblüffender Behändigkeit zur Seite. Fluchend tauchte er in das Dunkel einer Seitengasse ab, in der seine Schritte verhallten.
Keuchend, mit klopfendem Herzen ging Padraich zu dem alten Juden, der sich seine zu Boden gefallene Kappe aufsetzte. »Wie heißt du?«
»Aaron. Danke für die Hilfe.« Schwankend versuchte der Mann, aufzustehen. Von seinem Umhang hingen unten kleine Troddeln herab. »Mein Knöchel«, stöhnte er, als ihm der Mönch auf die Beine half.
»Wollte er dir tatsächlich falsches Geld zurückgeben?«, fragte Padraich.
»Ja, so – Zeug wie das da!« Bei diesen Worten zeigte er auf eine Münze am Boden. »Viel zu leicht, nur vergoldet. Die können sie von mir aus ihren Toten ins Grab legen, aber nicht mir andrehen.«
Padraich, der noch nie einen Solidus in der Hand gehabt hatte, hob das Goldstück auf, befingerte es ratlos und reichte es dem Juden, der es verächtlich fallen ließ.
»Hast du den Schuldschein dabei?« Aaron nickte und sah aufmerksam zu, wie Padraich Grifos Puls prüfte, das Gewand des Regungslosen untersuchte, bis er die Geldbörse fand und sie dem Alten hinhielt. »Sieh nach, ob genug drin ist. Nimm dir, was dir zusteht. Leg den Schein hin. Dann lass uns verschwinden.«
»Und dein Arm?« Erst jetzt wurde Padraich bewusst, dass Blut seine Kutte durchfeuchtete und zu Boden tropfte. Er schob den Stoff hoch. Zum Glück war es nur eine Schnittwunde, allerdings begann sie zu schmerzen.
»Später. Kannst du laufen?«
»Ich muss wohl«, lächelte Aaron gequält und hinkte, auf Padraich gestützt, los. Sie mochten vielleicht zweihundert Schritt weit gekommen sein, als hinter ihnen Hundegebell und laute Rufe durch die Straße hallten. Ein gehetzter Blick zurück und sie sahen ein Dutzend Männer den liegenden Grifo umstehen, einer zeigte in Richtung der Flüchtenden. Vier lösten sich aus der Gruppe und rannten auf Padraich und Aaron zu, der schnaufte:
»Schnell, hier zur Seite. Ich kenne einen geheimen Gang!«
Sie hasteten in eine schutterfüllte Seitengasse, durchquerten den mit Gebüsch bewachsenen Hof eines zerstörten Hauses und betraten ein lichtloses Gewölbe. Unter seinen Füßen konnte Padraich Stufen ertasten, immer tiefer ging es hinab, ein fauliger Geruch nahm ihm fast den Atem, Ratten fiepten.
»Wo sind wir?«, hustete er.
»In einem alten Abwasserkanal«, antwortete Aaron. »Hier können wir Licht machen.«
Nach einigen Schlägen mit einem Eisen auf den Feuerstein erglomm ein Funke, dann ließ das Flämmchen einer Öllampe die großen Blöcke des Mauerwerks aus dem Dunkel treten.
»Hier lang. Vorsicht, an einigen Stellen ist das Gewölbe niedriger!« Sie wateten durch eine schlammige Brühe.
»Wohin gehen wir?«, erkundigte sich Padraich, nun doch unsicher, ob er dem Richtigen traute.
»Zur Flussmauer, dort ist ein Ausgang. Das Judenviertel ist nicht weit. Meine Frau wird dich verbinden.«
»Weiß Grifo nicht, wo du wohnst?«
»Nein, ich mache Geldgeschäfte immer woanders. Außerdem ist er fremd in der Stadt. Und wir Juden stehen unter dem Schutz des Bischofs.«
Während Padraich über diese – für seine bisherige Vorstellung unerhörte! – Tatsache nachsann, folgte er dem hinkenden Alten bis zur Mündung des Gangs. Dort wandten sie sich nach rechts, schlichen die Flussmauer entlang, kehrten durch einen Torbogen in die Stadt zurück und gelangten zu einigen Fachwerkhäuschen, die sich an die Mauern einer großen Ruine lehnten. Nachdem Aarons Frau erst über den Schmutz geschimpft, anschließend über die Verletzungen gejammert hatte, rief sie einen heilkundigen Nachbarn, der den verstauchten Knöchel des Alten und Padraichs Wunde versorgte.
»Zeigt euch besser nicht auf der Straße!«, warnte der Arzt. »Ich habe gehört, dass Grifos Männer die Stadt mit Fackeln und Hunden durchkämmen.«
»Bleib lieber bei uns«, schlug Aaron vor und seine Frau bekräftigte die Einladung. »Ein warmes Mahl, ein Bett und ein Versteck sind das Mindeste, was wir dir schulden.«
So kam es, dass Padraich von der Stadt der vielen Heiligen nicht mehr sah als das Haus eines jüdischen Ehepaars. Am nächsten Abend stattete er nach Einbruch der Dunkelheit dem Bischof einen Besuch ab, beichtete seine Verfehlungen – und erhielt das Versprechen, dass Memilians Familie von seinem Tod benachrichtigt würde. Kurz vor Sonnenaufgang des folgenden Tages schlich er sich zum Hafen, wo ihn der Kapitän mit hochgezogenen Augenbrauen begrüßte. »So schnell zurück?«
»Ich habe mich beeilt«, entgegnete Padraich, dem die Schamesröte ins Gesicht stieg, als er daran dachte, was er in Colonia auf sein Gewissen geladen hatte: Einen Diakon belogen, sich mit Christen geprügelt und bei Juden übernachtet.
»Für mein Seelenheil ist es besser, wenn ich möglichst bald ins Land der Heiden gelange, um dort die Botschaft des Herrn zu verbreiten«, fügte er mit gesenktem Blick hinzu.
***
Nach drei anstrengenden Wochen – der Peregrinus hatte diesmal zur Verwunderung des Kapitäns darauf bestanden, sich beim Treideln selbst an den Seilen abzuschinden – legte das Schiff bei einer riesigen, verfallenen Festung namens Altaripa an.
»Folg immer dem Neckarfluss, bis er sich nach Süden wendet«, riet ihm ein Fischer, der ihn an das Ostufer des Rheins übersetzte. »Nach zwei weiteren Tagesreisen biege in Richtung der Morgensonne ab. So kommst du nach Reganesburg!«
Padraich dankte ihm und wanderte den verschilften Fluss entlang, bis er nach einigen Stunden zu den Resten der Stadt Lobdenburg kam. Zu seiner Freude lebten dort einige Christen, darunter eine Schreinerfamilie, die ihn bat, doch einige Tage ihr Gast zu sein. Der Aufenthalt dauerte länger als erwartet, und als schließlich die Bäume ihre Blätter verloren und die ersten Schneeschauer über das Land fegten, gab er ihrem Drängen nach, den Winter in der Stadt zu verbringen. Da er eifrig die Sprache der Einheimischen lernte und bei seinen Predigten mehr die Freuden des Paradieses als die Schrecken der Hölle schilderte, wuchs die kleine Christenschar im Laufe der Wintermonate beträchtlich an. Im Frühjahr hatte er schon zwei Dutzend Männer und Frauen getauft, so dass selbst der gottlose Gibuld auf ihn aufmerksam wurde.
Der adelige Alamanne hatte den römischen Burgus, einen quadratischen Festungsturm am Neckarufer, zu seinem Wohnsitz erkoren, von dem aus er seine Ländereien mit den halbfreien Bauern überwachte. Eines Abends ließ er den Mönch zu sich rufen, setzte ihm reichlich Met vor, um seine Trinkfestigkeit zu prüfen, und lauschte seinen Erzählungen über Gott, die sündigen Menschen und den Kreuzestod, den Christus auf sich genommen hatte, um sie zu erlösen. Nach einer Woche, die die zwei Männer mit Gesprächen über die Religion verbracht hatten, stand der alte Krieger eines Abends plötzlich auf, um einige Scheite im Kaminfeuer nachzulegen.
»Du meinst also, dass Gott mir meine Taten vergibt, wenn ich mich taufen lasse?«, brummte er.
»Ja, wenn Ihr bereut und Buße tut, so ist das möglich.«
»Selbst schwere Sünden?«
Padraich zögerte, dann nickte er. »Davon bin ich überzeugt. Was bedrückt Euer Gewissen?«
Gibuld starrte eine Weile in die emporzüngelnden Flammen, bevor er sich umwandte. »Ich habe so manchen Mann erschlagen. Darunter leider, in meiner Jugend, als wir noch weiter südlich in den Bergen wohnten, einen heiligen Einsiedler. Gemeinsam mit meinem Vater.«
Der alte Krieger verstummte und musterte Padraich, die Daumen in seinen Ledergürtel eingehängt.
Nach einer Weile fragte dieser still: »Warum habt ihr den Mann getötet?«
»Er hatte sich eine Hütte in unserem besten Jagdrevier gebaut und vertrieb das Wild. So jedenfalls meinten wir, als wir eines Tages betrunken vorbeiritten. Als wir ihm das vorhielten, eiferte er und drohte meinem Vater die ewige Verdammnis an, weil der seine eigene Nichte geheiratet hatte. Mein Vater war ein jähzorniger Mensch und zog sein Schwert …«
Padraich trank einen Schluck Met, um Zeit zu gewinnen, bevor er antwortete. »Gott kann selbst solche Sünden verzeihen, wenn Ihr Christ werdet, aufrichtig bereut und Euren Lebenswandel ändert. Ich werde für Euch beim Grab des Apostels Petrus in Rom beten.«
Gibuld seufzte erleichtert auf. »Damit nimmst du mir eine schwere Last von der Seele. Jetzt bin ich selbst alt und gehe bald zu meinen Ahnen ein. Immer öfter erscheint mir in letzter Zeit im Traum das blutverschmierte Gesicht dieses Einsiedlers.« Er griff zum Methumpen, nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Morgen lasse ich mich taufen. Aber«, bei diesen Worten glitt ein Schatten über sein Gesicht, »was ist dann mit meinem Vater? Treffe ich den auch in deinem Paradies?«
»Nein«, entgegnete Padraich diesmal ohne zu zögern, »für ihn gibt es keine Rettung. Er kann ja nachträglich nicht mehr …«
»Und mein Großvater«, drängte Gibuld, »der keine große Sünde begangen hat?«
»Ich wüsste nicht, wie das möglich sein sollte«, antwortete der Mönch, dem unwohl war. »Mit Eurem Übertritt zum wahren Glauben beginnt ein neuer Abschnitt im Leben Eurer Familie. Eure Kinder werden …«
»Ich hab keine mehr«, unterbrach ihn der Alte, »sind alle bereits gestorben. Und meine Frau auch, bei der Geburt des letzten. Die können also auch nicht …?«
»Nein!«
Einen Augenblick sann Gibuld nach, strich sich über Stirn und Augen, bis er zu einem Entschluss gekommen zu sein schien. Seufzend legte er seine Hand auf Padraichs Schulter, der sich unwillkürlich vom Tisch erhob.
»Ich werde mich nicht taufen lassen. Alleine in deinem Paradies? Da will ich nicht sein. Lieber bin ich nach dem Tod mit meiner Familie zusammen, wo immer sie sein mag.« Als Padraich etwas einwenden wollte, fügte der alte Krieger hinzu: »Kein Wort weiter, die Sache ist entschieden. Grolle mir nicht und geh jetzt.«
Zwei Tage später war Padraich bereits wieder auf der Wanderschaft. Die Frühjahrssonne schien durch die noch blattlosen Bäume, die Meisen zwitscherten, und auf dem Rücken trug er einen Sack voll geräucherter Würste, Käse und Brotlaibe, die ihm Gibulds Diener gebracht hatten. Doch im Innersten seines Herzens war er verzagt, weil er in den heiligen Schriften keine Antwort auf den Wunsch des alten Kriegers finden konnte.
***
Zwei Wochen benötigte er, um die Donau zu erreichen, unterwegs gelegentlich von misstrauischen Bauern als herumstreunender Viehdieb geschmäht. Am Fluss war ihm jedoch erneut das Glück hold und er fand ein Schiff, das ihn stromabwärts mitnahm. Vorbei an linkerhand steil aufragenden Felsen, die sich mit Weinbergen abwechselten, ging die Fahrt, bis eines Nachmittags die Mauern und Türme der Stadt Reganesburg vor ihnen auftauchten. Der Kapitän ließ unter der Flussmauer anlegen, so dass Padraich an Land springen konnte. Den Kopf staunend nach oben gereckt, trat er unter den Bogen des riesigen Nordtors, das sich mit seinen aus Quadern gefügten Fensterreihen drohend über ihm erhob. Doch auf der anderen Seite hatte er das Gefühl, nicht eine Stadt wie Colonia, sondern ein Dorf zu betreten: In dem riesigen Mauergeviert ragten vereinzelt efeuüberwucherte Ruinen auf, zwischen denen einstöckige Fachwerkhäuser mit hohen Strohdächern standen. Kühe grasten unter blühenden Apfelbäumen, aus der Ferne klang das Hämmern einer Schmiede, Fliegen summten über einem Misthaufen, in einem Tümpel quakten Frösche. Eine junge Frau kam Padraich entgegen, einen Wasserkrug auf der Schulter, von zwei blondbezopften Mädchen begleitet, die den Fremden mit großen Augen anstarrten. Als er sich erkundigte, wo er den Bischof Haimhram finden könne, lächelte die Frau ihn freundlich an und zeigte auf eine übermannshohe Palisade, die einen Bereich inmitten des weiten Mauergevierts abgrenzte.
Zwei Wachen mit aufgepflanzten Speeren ließen ihn nach kurzem Wortwechsel passieren, so dass er bald vor einem herrschaftlichen Haus stand, dessen Stützpfosten, von weiß verputzten Mauerstücken getrennt, geschnitzt und rot bemalt waren. Ein Diener, den Padraich nach Haimhram fragte, begleitete ihn zu einem Nebengebäude, vor dem ein Mann in der Sonne saß, dessen Finger über die Zeilen eines Buches glitten. Padraich sprach ihn auf Latein an, worauf der Lesende aufblickte und lächelnd den Gruß erwiderte.
»Ja, ich bin Haimhram. Setz dich.« Der mit einem dunklen, einfachen Umhang bekleidete Mann mochte gut fünfzig Jahre zählen. Sein Schädel war kahl, der dunkle Bart ohne graue Strähnen, die freundlich blickenden Augen von Lachfältchen umgeben. Nachdem er den Brief des Kölner Bischofs studiert hatte, lud er den Mönch ein, in seinem Haus zu wohnen.
So begann Padraichs Zeit in Reganesburg. Er erfuhr, dass der fränkische Bischof vor zwei Jahren auf der Durchreise zu den Awaren an den Hof des Herzogs Theodo gekommen war. Der jedoch hatte den Kirchenmann so inständig gebeten, sein Leben nicht der Mordlust der Heiden zu opfern, sondern lieber den Glauben im Bajuwarenland zu festigen, dass Haimhram in der Hauptstadt der Agilolfinger geblieben war.
Manchmal begleitete Padraich den Bischof, wenn er die umliegenden Gemeinden besuchte, und verwunderte sich über den unendlichen Langmut, mit dem der Bischof versuchte, die heidnischen Gebräuche seiner Herde nicht etwa zu verdammen, sondern sie möglichst im christlichen Sinne umzudeuten.
»Sollten wir nicht den Glauben rein und unverfälscht predigen, so wie es die Kirche vorschreibt?«, fragte er eines Abends, als sie nach dem Gebet im Scheine einer Kerze zusammensaßen.
»Natürlich wäre das besser«, antwortete der Bischof verständnisvoll. »Nur müssen wir mit menschlicher Schwäche Nachsicht üben. Wie sollen wir sonst die Schwankenden auf den rechten Pfad führen?«
»Aber es muss doch Grenzen geben«, rief Padraich aus. »Der heilige Columbanus hat …«
»… in Brigantium sogar aus einer Kirche die Götzenbilder werfen müssen«, unterbrach ihn der Bischof. »Ich weiß. So verkommen sind mancherorts die Sitten bei denen, die sich hier Christen nennen.« Er saß einen Augenblick da, dann blickte er Padraich in die Augen. »Aber hat Jesus nicht gerade durch Milde und Verzeihen mehr Besserung bewirkt als die Pharisäer mit ihrem Pochen auf Gesetzen und Vorschriften?«
»Ja schon. Nur sollen wir denn alles dulden?«, empörte sich der junge Mönch. »Wer sagt mir, wo ich die Grenze ziehen muss? Wo steht es geschrieben?«
»Nirgendwo, du musst in dich horchen und deinem Gewissen vertrauen.« Haimhram stand auf und durchmaß mehrfach die Stube, wobei eine Bohle unter seinem Tritt knarzte. »Das ist schwer, ich weiß.«
»Letztes Jahr bin ich selbst aus der Haut gefahren«, seufzte er schließlich. »Da zerrte doch tatsächlich eine heidnische Zauberin eine Ziege heran, um sie zu opfern. Als Dank für erfolgreiche Beschwörungen wollte sie das arme Vieh genau auf dem Altar der Kirche schlachten, in der ich gerade meinen Gottesdienst abgehalten hatte!« Der Bischof lächelte milde. »Dabei führte die alte Vettel nichts Böses im Schilde. Sie hatte einfach keine Ahnung, was Christentum bedeutet. Seit die Frankenherrscher den katholischen Glauben angenommen haben, meinen manche, sich gut mit unserem Gott stellen zu müssen.«
Der Bischof setzte sich wieder und goss sich sowie dem Mönch aus einem braunen Krug Bier nach. »Leider sind die Mächtigen alles andere als Vorbilder. Ein Dutzend Tagesreisen östlich von hier soll ein gewisser Samo hausen. Er nennt sich Christ, herrscht über einen Haufen Heiden und lebt mit zwölf Weibern zusammen. So viele, wie Jesus Jünger hatte. Und trotzdem«, Haimhram legte seine Hand auf den Unterarm des Mönches. »Denk mal an die Geschichte von dem alten Krieger, die du mir erzählt hast.«
»Gibuld aus Lobdenburg?«
»Genau. Den du dazu gebracht hast, Heide zu bleiben.«
»Ja, hätte ich ihn denn anlügen sollen«, fuhr Padraich auf, »ihm Honig ums Maul schmieren? Ihm versprechen, seine ganze mörderische Heidensippschaft könne mit ins Paradies einziehen?«
»Natürlich nicht.« Haimhrams Ton war versöhnlich, doch der Griff um Padraichs Unterarm fest. »Nur – woher, mein Sohn, nimmst du die Gewissheit, dass es unmöglich sei? Wieso setzt du Gottes Gnade so enge Grenzen? Bist du dir gewiss, dass jede noch so fromme Tat des alten Gibuld nichts ausgerichtet hätte? Ich glaube«, bei diesen Worten ließ der Bischof los und sah ihn ernst an, »dir fehlt es an Demut. Geh in dich und bitte den Herrn, dir zu helfen.«
Padraich lief rot an, schlug die Augen nieder und nickte. »Danke für die Zurechtweisung. Ich habe sie verdient.«
Haimhram lächelte. »Bei dieser Gelegenheit habe ich noch eine Bitte. Ich kann deinen irischen Namen schwer aussprechen. Du heißt nach dem heiligen Mann, der eure Insel zum Glauben bekehrt hat. Das war ein Römer, der aus Britannien verschleppt wurde, und den wir Patricius nennen. So möchte ich auch zu dir sagen können: Patricius. Ist dir das Recht?«
Der Mönch nickte, um nach einer Weile hinzuzufügen: »Gehören zu den vorhin erwähnten schlechten Vorbildern auch die Agilolfinger hier?«
Haimhram wiegte den Kopf. »Theodo, der Herzog, wohl nicht. Aber sein Sohn Lantpert ist aufbrausend. Dazu misstraut er allen Franken, also auch mir. Demnächst findet ein großes Gastmahl statt, zu dem ich eingeladen bin. Komm mit und sieh selbst.«
So kam es, dass Padraich oder Patricius, wie er sich jetzt nannte, zwei Wochen später am Ende des langen Eichentisches saß, an dem das Gefolge des Herzogs tafelte. Fackeln erhellten den großen Raum, Diener trugen Platten mit gegrillten Ferkeln herein und andere schenkten Bier aus, während ein Spielmann sich abmühte, das Stimmengewirr mit seinem Leierspiel zu durchdringen.
»Da, der Blonde da drüben ist Lantpert«, bemerkte der Bischof leise. Dabei zeigte er auf einen jungen Mann, der gerade einem anderen auf die Schulter schlug. Er hatte eine spitze Nase, vorstehende Lippen und langes, gelocktes Haar, das auf sein mit roten Borten besticktes Leinenhemd fiel. Immer wieder strich er sich mit der Linken über den Kinnbart, führte den Krug zum Mund, schlug mit der Faust auf den Tisch und lachte laut.
Patricius betrachtete ihn eine Zeitlang, dann fragte er: »Und die junge Frau ihm gegenüber, ist das Uta?«
Das braunhaarige Mädchen trug goldene Bommelohrringe, ein Stirnband sowie ein blaues Umhangtuch, das vorne durch eine Fibel mit blutroten Almandineinlagen zusammengehalten wurde. Er hatte sie schön öfters aus der Ferne gesehen, wenn sie wie ein junges Reh die Wiese vor dem Haus des Herzogs überquerte.
»Ja, das ist sie«, entgegnete Haimhram.
Den Rest des Abends beobachtete Patricius Uta, ihren Bruder Lantpert sowie die anderen Männer am Nebentisch, sah ihre Blicke, mit der sie das Mädchen verschlangen, und war mit einem Male froh, schon vor vielen Jahren auf solche Versuchungen verzichtet zu haben. Und doch durchfuhr es ihn wie ein Messerstich, als einmal ihre Augen die seinen trafen, und es ihm schien, als würde sie ihm zulächeln …
***
Die nächsten Monate war Patricius viel auf Reisen. Er wanderte mit dem Bischof durch das Land, gemeinsam predigten sie den Glauben, schlossen Ehen und tauften, wo kein Priester vor Ort war. Ihr Weg führte sie bis nach Augustaburg, wo sie am Grab der heiligen Afra beteten und mit dem dortigen Bischof über die schwierige Lage der Kirche sprachen, bevor sie den Heimweg antraten.
An einem warmen Augustabend wollte Patricius noch einen kleinen Spaziergang an der Donau machen und hatte gerade das Nordtor erreicht, da rief eine leise Frauenstimme: »Sei gegrüßt, Mönch.«
Er wandte sich irritiert um, sah niemanden und wollte schon weitergehen, als sich eine schlanke Gestalt aus der Düsternis des Tordurchgangs löste.
Verblüfft erkannte er Uta. »Was wollt Ihr von mir?«
»Ich muss dich sprechen.«
»Hier?«, fragte er verwundert.
»Nein, komm mit, zu den Weiden am Fluss.« Ihr Gesicht war ernst, das lange Haar am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden, der von einer durch ein Lederstück gesteckten beinernen Nadel zusammengehalten wurde, um den Hals trug sie eine Kette aus blauen Glasperlen.
»Was wollt Ihr von mir, an diesem … nun, für uns beide eher ungebührlichen Ort?«
»Woanders können wir nicht ungestört reden«, entgegnete sie und lächelte ihn an, doch sogleich fiel wieder ein Schatten über ihr Gesicht. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …«
»Beginnt beim Anfang«, antwortete Patricius, unwillkürlich einen Ausspruch des Bischofs zitierend.
Uta zögerte, befingerte das Fibelpaar, das ihr langes Leinenkleid zusammenhielt, und fasste sich schließlich ein Herz.
»Ich bin in einer schrecklichen Lage«, gestand sie. »Ich habe mich verliebt. In Sigipaldus, einen Mann am Hofe meines Vaters.«
»Aus Theodos Gefolge? Aber was ist daran verwerflich?«
»Nun«, ihre Stimme zitterte, »ich habe mit ihm …«
Sie verstummte. Patricius wartete und verscheuchte einige umherschwirrende Mücken, bevor er leise ergänzte: »Unzucht getrieben?«
»Ja, und jetzt«, Utas Stimme versagte,.»jetzt bin ich schwanger!«
»Weiß das Euer Vater?«
»Nein!« Das Mädchen ergriff seinen Arm. »Er darf es auch nicht erfahren. Sigipaldus ist nur ein kleiner Höfling. Mein Vater würde ihn in Stücke hauen lassen! Ich brauche deine Hilfe.«
Patricius schob unwillkürlich ihre Hand weg, besann sich aber und antwortete zurückhaltend. »Ich weiß nicht, wie ich da helfen könnte.«
»Aber die Kirche kann vielleicht irgendetwas tun …«
»Die Kirche? Wollt Ihr in ein Kloster gehen?«
»Nein.« Uta begann zu weinen. »Nein, aber bitte hilf mir. Bestimmt weiß der Bischof Rat.«
»Ich kann ihn fragen«, gab Patricius zu bedenken. »Doch am Besten beichtet Ihr alles ihm selbst. Wartet einen Augenblick, dann folgt mir.«
Er schob die Weidenzweige beiseite und ging mit raschen Schritten zum Tor. Ohne sich umzusehen durchquerte er den Bogen und gelangte in der Abenddämmerung bis zu dem Haus, in dem er mit dem Bischof wohnte. Kurze Zeit darauf pochte es, er ließ das Mädchen herein und führte es in Haimhrams Kammer, dem er schon von dem seltsamen Ansinnen berichtet hatte.
»Bitte lass uns eine Weile alleine«, bat ihn der Bischof.
Patricius wollte etwas einwenden, schwieg dann aber, ging hinaus und setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Holz, sah den Fledermäusen nach, die über den Himmel flatterten, und lauschte den Grillen, die im Grase zirpten. Endlich knarrte die Türe und das Mädchen huschte hinaus, um mit einem leisen »Danke« in der Dunkelheit zu verschwinden. Doch als Patricius eintrat und den Bischof fragend anblickte, legte der nur stumm den Finger an die Lippen.
Die nächsten Wochen vergingen in seltsamer Anspannung. Langsam wich die Augusthitze, der erste Herbststurm fegte über das Land, riss lose Äste von den Bäumen und peitschte das Wasser der Donau zu weißen Schaumkronen auf, so dass alle Schifffahrt ruhen musste. Der Bischof war schweigsam geworden, eine schwere Last schien seine Seele zu bedrücken, doch wenn ihn Patricius darauf ansprach, winkte er stets ab und meinte, die Zeit sei noch nicht gekommen.
Am Abend des fünfzehnten September rief Haimhram den Mönch zu sich. Wieder saßen sie bei einem Krug Bier an dem Eichentisch mit der fleckigen Platte, an dem sie so manche angeregte theologische Diskussion geführt hatten. Im Leuchter flackerte eine Kerze, ein pelziger Nachtfalter summte um die Flamme und kam ihr mehrfach gefährlich nahe, bis ihn der Bischof mit einer energischen Handbewegung verscheuchte.
»Ich muss dir etwas sagen«, unterbrach er die Unterhaltung, die sich um Fragen der fünf Bücher Moses gedreht hatte. »Ich werde übermorgen nach Rom aufbrechen. Willst du mitkommen?«
»Gerne, nur warum diese Hast?«, wollte Patricius wissen.
»So können wir noch die Berge überqueren, bevor Schnee die Wege unpassierbar macht.«
»Das verstehe ich«, entgegnete der Mönch. »Aber was treibt uns zu solcher Eile? Sollten wir nicht das Frühjahr abwarten?«
»Dann wird es zu spät sein. So lange kann ich nicht mehr bleiben.«
Patricius starrte auf die Tischplatte mit ihren Astlöchern, eine tiefe Unruhe bemächtigte sich seiner. »Bitte sag mir, was dahintersteckt«, bat er.
Haimhram zögerte, strich sich über die Glatze und seufzte schwer. »Du weißt, dass Uta schwanger ist.«
»Ja, von Sigipaldus, sagt sie, einem Mann aus dem Gefolge des Herzogs. Wovon ihr Vater noch nichts weiß.«
»Er wird es auch nicht erfahren. Ich habe Uta gestattet, mich als den Vater zu benennen.«
Patricius hatte das Gefühl, als habe ihm jemand einen nassen Lappen ins Gesicht geschlagen. »Du hast sie zu einer Lüge ermuntert? Ein Mann der Kirche?«
Der Bischof hob abwehrend die Hand. »Urteile nicht vorschnell. Sie ist im vierten Monat, bald wird es jeder sehen. Wenn sie Theodo den richtigen Vater nennt, lässt der Herzog den Jungen zerstückeln. Oder rösten. Oder pfählen.«
»Ja und? Wenn er Hurerei treibt?«
»Du weißt nicht, was du da redest«, fuhr ihn der Bischof an. »Außerdem ist Sigipaldus' Vater, der Richter, mein Freund und ein führendes Mitglied der Gemeinde. Ich kann nicht so tun, als sei mir das alles gleichgültig!«
Für kurze Zeit herrschte Schweigen im Raum, von draußen war das Trällern einer Nachtigall zu vernehmen. Patricius sah sein Gegenüber ernst an. »Und dir, meinst du, kann nichts geschehen?«
»Nein, dazu hat der Herzog zu viel Respekt vor einem Bischof. Aber es ist besser, wenn ich schon weg bin, wenn er es erfährt. Ich habe ihm gesagt, dass ich wegen einer Sünde nach Rom pilgern muss, um den Heiligen Vater um Vergebung zu bitten. Also – kommst du mit?«
»Ja«, antwortete Patricius, doch mit einem schlechten Gefühl im Bauch.
***
Einige Tage später wanderten sechs Männer durch das Voralpenland. Sie gingen mit stetigen, weit ausgreifenden Schritten, als läge ihnen daran, möglichst bald ihr Ziel zu erreichen. Den Anfang machte der Bischof mit kahlem Haupt und vollem Bart, gefolgt von vier Dienern, die Vorratssäcke trugen. Der kräftige, hochgewachsene Patricius mit Wanderstab beschloss den Zug. Zarte Nebelschwaden hingen über der hügeligen Landschaft, deren Täler bereits im Grau versanken. Vor ihnen übergoss die Abendsonne die Gipfel der Berge mit rosa Schimmer, in der Ferne keckerte ein Eichelhäher. Schweigend folgten die Männer dem schmalen Trampelpfad, der sich durch die Wiesen zum nächsten Dorf wand.
»Halt!« Die Stimme des Mönchs durchbrach die friedliche Abendstimmung. Alle erstarrten. »Da ist doch was!«
Die Männer standen stumm, die Gesichter angespannt. Lauschten. Zuerst nichts, dann, kaum hörbar, Pferdegetrappel. Hinter ihnen, noch weit entfernt. Auf dem Weg, den sie gekommen waren. Fragend blickte der Mönch dem Bischof ins Gesicht, erschrak und kniff ungläubig die Augen zusammen. Einen Herzschlag lang schien es ihm, als würde es von einem Nebelschleier verdeckt.
»Beeilen wir uns!«, drängte Patricius. »Da vorne liegt das Dorf mit dem herzoglichen Rasthaus. Dort sind wir in Sicherheit.«
Niemand sagte etwas, doch alle beschleunigten ihre Schritte. Nach etwa einer Viertelstunde erreichten sie die Ansammlung schindelgedeckter Holzhäuser, zwischen denen sich Misthaufen erhoben. An einer Scheune, vor der ein großer Granitfindling aus dem Gras ragte, blieb Haimhram stehen und rang nach Atem. »Ich glaube, ich bin doch etwas zu alt für solche Gewaltmärsche«, ächzte er und betrachtete ein Heiligenbild an der Holzwand, das von einer Laterne beleuchtet wurde. Einige Einheimische traten in den Lichtkreis und grüßten scheu.
»Dient das Haus euch als Gebetsraum?«, fragte der Bischof. Ein alter Mann nickte stumm. »Dann wollen wir hier gemeinsam Gottes Segen für unsere Wanderschaft erflehen.«
»Sollten wir nicht lieber …«, wollte Patricius einwenden, doch Haimhram gebot ihm Schweigen und öffnete die Türe. Die Bauern des Dorfes nahmen die Laterne vom Haken und folgten den sechs Wanderern, doch kaum hatten sich alle zum Gebet niedergekniet, als draußen Hufgetrappel, Pferdeschnauben und Waffengeklirr erschallte. Patricius hastete zum Eingang und sah, wie ein halbes Dutzend Reiter die tänzelnden Pferde zügelte. Als er den blonden Schopf, die spitze Nase und die herrischen Züge erkannte, lief er zurück, während Flüche von draußen hereindrangen.
»Es ist Lantpert mit seinen Mannen!«
Der Bischof nickte und wandte sich zu der kleinen Gemeinde, die sich in der Scheune versammelt hatte. »Die da gekommen sind, machen sich durch ihre Unehrerbietigkeit uns gegenüber nicht schuldig, sondern wir müssen von ihnen unseren Lohn empfangen.« Bei diesen Worten zog er ein versiegeltes Päckchen aus seinem Umhang und drückte es Patricius in die Hand. »Für den Heiligen Vater. Wenn mir etwas zustoßen sollte.«
In diesem Augenblick traten zwei bewaffnete Männer durch die Türe, ergriffen den Bischof und zerrten ihn auf den Vorplatz. Als Lantpert ihn erkannte, ließ er sich aus dem Sattel auf den Felsblock gleiten. Auf eine Lanze gestützt, grinste er Haimhram von oben herab hämisch an.
»Heda, unser Bischof und Schwager. Wohin so eilig des Wegs?«
»Nach Rom, wie ich Eurem Vater schon gesagt habe.«
»Allein, habt ihr ihm auch den Grund genannt?« Lantpert wandte sich an die Umstehenden. »Hört gut zu. Wegen einer Sünde, ließ dieser Bischof wissen, müsse er zum heiligen Vater. Um Buße zu tun!« Er legte die Hand auf seine Brust. »Um was für eine Sünde könnte es sich da wohl handeln? Bei einem so untadeligen Mann Gottes? Hat er den Messwein verschüttet? Oder sich beim Gebet versprochen? Gar die heilige Schrift fallen lassen? Nein, das sagte er meinem Vater nicht.« Lantpert schüttelte mit betrübter Miene den Kopf. »Es war etwas anderes. Dieser ehrwürdige Bischof …«, dabei machte er eine angedeutete Verbeugung, »oder sollte ich besser sagen, dieser geile Hurenbock«, bei diesen Worten spuckte er dem vor ihm stehenden Haimhram ins Gesicht, »… hat meine Schwester Uta verführt!« Die letzten Worte hatte er geschrien, doch jetzt senkte er wieder die Stimme.
»Und der Heilige Vater, was für eine Buße wird der ihm wohl auferlegen? Zehn Psalter täglich extra beten? Eine Woche bei Wasser und Brot? Dazu eine Ermahnung, so etwas doch nicht wieder zu tun?« Lantpert legte scheinheilig die Stirn in Falten. »Wozu überhaupt der weite Weg? Die Buße kann doch auch gleich hier vollzogen werden!« Er sah sich um. »Hier, in …«, er blickte einen der Bauern fragend an, der »Hei… Helphindorf« stammelte.
»Im schönen Helphindorf also. Genau hier soll es sein.«
Patricius, der vermeinte, ein Flackern in den Augen des Bischofs zu lesen, erhob seine Stimme. »Ihr habt kein Recht, einen Mann der Kirche zu richten!«
»Ach, habe ich nicht? Packt ihn!« Zwei Bewaffnete ergriffen Patricius' Arme, während Lantpert von dem Felsen sprang und sich drohend vor ihm aufbaute. »Wer bist du, Peregrinus, mir das zu sagen? Stehst du über mir? Über dem Bischof? Bist du vielleicht Gott?« Bei jedem Satz schlug er dem Mönch hart ins Gesicht. »Soviel zu deinem Recht!«
Er wandte sich um und lachte, als er sah, wie die Bauern zwischen den Häusern in die Dunkelheit davonrannten, gefolgt von den vier Dienern. »Also dann los!«
Patricius, dem das Blut aus der Nase lief, wurde zusammen mit dem Bischof in das Innere der Scheune gestoßen. Lantpert nahm die Laterne, sah sich um und zeigte auf eine Leiter, die an der Wand lehnte.
»Bindet den Hurenbock darauf fest!«, herrschte er seine Knechte an.
Haimhram ließ es ohne Widerstand geschehen, dass man ihn so fesselte, dass seine Arme über dem Kopf hochgebunden waren.
»Nein, Hände und Füße frei lassen, ihr Tölpel«, fauchte Lantpert. Danach betrachtete er prüfend die liegende Leiter mit dem ausgestreckten, die Gliedmaßen leicht gespreizten Körper. »Komm her«, befahl er einem seiner Männer, der soeben mit einer Säge durch die Türe trat. Dann wandte er sich an seine Begleitung.
»Die beste Buße, so scheint mir, ist die, welche zukünftige Sünden verhindert. Ohne Hände beispielsweise fehlt das wichtigste Werkzeug, Schlimmes zu tun.« Er schien eine Weile nachzusinnen, strich sich über den Kinnbart, um gedankenvoll hinzuzufügen: »Aber noch sicherer scheint es mir, wenn auch die Füße fehlen, um sich an den Ort der Übeltat zu begeben.« Er zeigte auf den rechten Fuß des Bischofs, der begonnen hatte, ein Gebet zu sprechen. »Fang an. Aber nicht zu hastig. Wir haben Zeit.«
Patricius kam sich vor wie in einem Nachtmahr. War dieses Ungeheuer wirklich der eitle, etwas prahlerische Sohn des Herzogs, dem er in den letzten Monaten gelegentlich über den Weg gelaufen war? Ein getaufter Christ, der sonntags in der kleinen Kirche von Reganesburg zur Messe kniete? Und warum sagte Haimhram nichts, ließ sich lieber verstümmeln, als die Wahrheit zu gestehen? Verzweifelt sah er sich um, ob nicht von irgendwo Hilfe käme. Doch niemand war zu sehen; der hohe Raum versank in Düsternis, kaum von der Laterne erhellt.
Der Mann setzte die Säge am Fußgelenk an und zog sie einmal vor und zurück. Der gefesselte Körper bäumte sich auf, ein Stöhnen unterbrach die gemurmelten Gebete. Fragend sah der kniende Knecht zu seinem Herrn auf.
»Weiter – oder habe ich etwas von aufhören gesagt?«
Bei der nächsten Bewegung der blutigen Säge zerriss ein Schrei aus dem Munde des Bischofs die Stille. Patricius fühlte, wie sich der Griff des Mannes lockerte, der seinen rechten Arm festhielt, als dieser sich vorbeugte, um besser sehen zu können. Er spannte alle Kräfte an, riss sich los, schlug dem links neben ihm stehenden Knecht seine Faust ins Gesicht, dass dieser aufheulend zusammensackte – und war frei. Mit wenigen Sprüngen hatte er Lantpert erreicht, der sich verblüfft umsah, und ihn niedergeworfen. Rasend vor Wut stürzte er sich auf den Liegenden und begann ihn zu würgen, als er plötzlich Schritte hörte, einen Stich im rechten Oberschenkel sowie einen Schlag in die linken Rippen spürte, bevor ein Hieb seinen Kopf traf, der sein Bewusstsein in Tausend nächtliche Sterne zerbersten ließ.
***
Dumpfe, pochende Schmerzen waren das erste, das in Patricius' Bewusstsein drang. Allmählich löste er sich aus seinem Albtraum, in dem er auf dem Felsen gestanden hatte, von steigender Flut umspült, während sich der Seedrache mit gebleckten Zähnen näherte. Memilian hatte ihn wegzerren wollen, doch dann war es nicht mehr Memilian gewesen, sondern der alte Jude, der ihn mit sich riss, hinein in einen glitschigen Gang, den sie entlanghasteten. Hinter ihnen war ein Schaben und Kratzen zu hören, und als Patricius sich umwandte, sah er, dass der Drache die Form einer riesigen Ratte angenommen hatte, die sich durch den Gang hinter ihnen zwängte. Eine Ratte, deren spitzes Gesicht die Züge Lantperts trug und deren geöffnete Schnauze eine Reihe blutiger Zähne zeigte, die einer Säge glichen …
In Panik fuhr er empor, nur um sogleich wieder stöhnend zurückzusinken. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie zerschlagen, aber sein Kopf, der rechte Oberschenkel und die linken Rippen schmerzten besonders. Sein Mund war ausgetrocknet, er musste Fieber haben.
»Wasser«, murmelte er und war dankbar, als jemand seinen Kopf anhob und ihm einen Becher an die Lippen setzte. Vorsichtig schluckte er, öffnete die Augen und blickte in das Gesicht einer Frau mittleren Alters, die ihn besorgt anstarrte. Ihr Gesicht war sonnengebräunt, das schwarze Haar von grauen Strähnen durchzogen.
»Urso«, rief sie aufgeregt, »Urso!«
Währenddessen ließ Patricius seine Blicke durch den Raum wandern. Er konnte einen Webstuhl erkennen, neben dem sich einige flache Bottiche stapelten. Von dem spitzen Dach, durch dessen Sparren Stroh quoll, baumelten geräucherte Schinken und Würste. Dem Rauschen nach zu schließen, schien es heftig zu regnen. Von draußen näherten sich Schritte, und schon beugte sich ein junger Mann über sein Lager. Schwarze Locken, aus denen Wasser tropfte, umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht mit dunklen Augen, die besorgt auf den Kranken herabblickten. Er fragte etwas in einer seltsamen Sprache, die entfernt an Latein erinnerte, und Patricius antwortete auf Bajuwarisch.
»Danke, es geht. Wo bin ich?«
»Im Dorf Valei«, antwortete der Mann und lächelte fröhlich. »Ein Wunder, dass du noch lebst. Du hattest eine Platzwunde am Kopf, einen Stich im Oberschenkel, gebrochene Rippen und den ganzen Körper voller blauer Flecken. Als wir dich fanden, hielten wir dich zunächst für tot.«
»Und Haimhram?« Mit einem Male kehrte die Erinnerung zurück. »Der Bischof, was ist mit ihm geschehen?«
Urso zögerte, sein heiteres Jungengesicht wurde schlagartig düster. »Wir alle haben diese furchtbaren Schreie gehört, sie wollten nicht aufhören. Ich war gerade mit einer Wagenladung Fässer und Holzschalen in Helphindorf. Doch niemand besaß den Mut, zu helfen. Erst als die Reiter fort waren … da sind wir hingelaufen. Du lagst besinnungslos am Boden, daneben dieser Mann auf der Leiter. Ringsum war alles glitschig vor Blut. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas Entsetzliches noch nicht gesehen …« Urso konnte einen Augenblick nicht weitersprechen, schluckte und wischte sich mit dem Ärmel seines Gewandes die Augen. »Seine Hände und Füße fehlten, man hatte ihm Augen und Zunge herausgerissen, dazu Nase und Ohren abgeschnitten und … und ihn entmannt. Trotzdem war er noch am Leben … aus seinem blutigen Mund kamen schreckliche Laute. Einige Männer aus dem Dorf haben ihn notdürftig verbunden, auf einen Wagen geladen und sind mit seinen Dienern aufgebrochen. Aber unterwegs, so habe ich gehört, da bewegte er seine Armstümpfe so, dass sie ihn absetzten, und kaum hatten sie das getan, da starb er.«
Einen Moment herrschte Stille, nur vom Rauschen des Regens unterbrochen. »Und weiter?«, fragte Patricius leise.
»Seine Diener sollen mit seiner Leiche noch ein Stück bis Aschaim gezogen sein, um ihn in der dortigen Kirche zu begraben. Ich habe dich auf meinem Wagen hierher gefahren. Das war vor einer Woche, seitdem schüttet es wie aus Kübeln.«
Patricius lies sich zurücksinken und schloss die Augen. Sogleich kehrten die schrecklichen Bilder zurück, erneut versank er in seinen wirren Albträumen, bis er eine Woche später schwach, aber fieberfrei erwachte. Noch immer goss es, und im Dorf lief das Gerücht um, das sei die Strafe des erzürnten Christengottes für den begangenen Frevel. Langsam, auf einen Stock gestützt, schlurfte Patricius im Haus umher, saß am Feuer und führte lange Gespräche mit Urso, wenn dieser von seinen Schreinerarbeiten zurückkehrte. So erfuhr er, dass sein Retter ein Walche war, wie die Romanisch sprechenden Abkömmlinge der Römer von Franken und Bajuwaren genannt wurden. Einige Tagesreisen in Richtung Sonnenaufgang, so erzählte Urso stolz, gäbe es noch zahlreiche Romanenorte wie Valei, in denen so viele Walchen lebten, dass man kaum je ein Wort der Barbarensprache hören müsse. Er war der Neffe eines örtlichen Bauern und hauste mit einer alten Magd zusammen, doch hatte er nie Lust zur Landwirtschaft verspürt und drechselte am liebsten feine Becher, Teller oder kunstvoll verzierte Schalen.
Als der Regen endlich aufhörte, waren die nahen Berge mit Schnee bepudert, so dass an eine Weiterreise vor dem Frühjahr nicht zu denken war. Patricius vertiefte sich wieder in seine Schriften, und da er sah, wie aufmerksam Urso ihn beobachtete, fragte er ihn eines Tages, ob er Lesen und Latein lernen wollte. Ein begeistertes Kopfnicken war die Antwort, und so saßen sie viele Abende beim Kerzenschein zusammen, gebeugt über den Kommentar zu den Paulusbriefen. Urso war gelehrig, doch wenig sorgfältig, und wenn er meinte, etwas verstanden zu haben, so sprang er gleich zum nächsten Wort oder Satz. Dafür interessierte er sich immer mehr für die Lehre, die aus den Briefen des Apostels sprach, und wollte gerne Christ werden. Im Dezember, als im Dorf die Schweine geschlachtet und ihr Fleisch über den stets brennenden Feuern geräuchert wurde, gab Patricius dem Drängen des Jungen nach. Am 25. taufte er ihn in einer Scheune unter neugieriger Anteilnahme der Dorfbewohner, denen er zuvor abwechselnd auf Romanisch und Bajuwarisch eine Predigt über Jesu Geburt gehalten hatte. Von dem Tag an lief Urso voller Stolz umher, jede Redewendung seines Meisters nachahmend.
Patricius, der oft nicht wusste, ob er darüber lachen oder ungehalten sein sollte, beschloss, weiterhin den Glauben zu verbreiten, Neubekehrte aber erst dann in die Gemeinde aufzunehmen, wenn er gewiss sein konnte, dass sie die christlichen Lehren auch beherzigen würden. In der Herde des Herrn gab es schon mehr als genug Wölfe im Schafspelz – von kleinen Heuchlern bis hin zu Mördern wie Lantpert.
***
Als die ersten Schneeglöckchen blühten, konnte Urso auch schwierige Texte, lesen wie schreiben, nur sein Latein hörte sich für den Mönch oft seltsam an, da er die Worte verschliff und die Grammatik vereinfachte, wie es in seiner romanischen Muttersprache üblich war. Nach den Briefen des Apostels Paulus hatte er sich die Sprüche Salomos vorgenommen, deren volkstümliche Weisheit ihn begeisterte.
Patricius dagegen hatte seine alte Stärke zurückgewonnen, half bei Arbeiten wie dem Holzhacken oder Brettersägen. Gelegentlich brach er zu Wanderungen in die Dörfer der Umgebung auf, wo er predigte und meist einige Nächte verbrachte. Einmal, als er von einer solchen Reise zurückkehrte, sah er ein junges Paar Hand in Hand durch das Dorf spazieren und sich verliebt anlächeln. Da er wusste, dass sie heiraten wollten, sprach er nach dem Abendessen mit Urso darüber, der jedoch herumdruckste, bis er zuletzt ein Geständnis ablegte.
»Sie sind schon verheiratet.«
»Wie, etwa nach Sitte der Heiden? Die beiden kamen doch oft, um meine Predigten zu hören!«
»Nein, nein, nicht nach Heidensitte …«
»Ja, wie denn dann?«, fragte Patricius verwundert. »Wer hat sie getraut?«
Urso schluckte und rieb mit Daumen und Zeigefinger das Bärenzahnamulett, das er trotz Taufe nach wie vor um den Hals trug.
»Ich war es!«, erklärte er schließlich, nachdem er sich ein Herz gefasst hatte.
»Du? Aber du kannst doch gar nicht, du darfst doch …«
»Keine Angst, ich habe mir genau gemerkt, wie das gemacht wird.«
»So?« Patricius kniff die Augen zusammen. »Und wie?«
Urso beschrieb den Ablauf der Handlung und schloss mit den Worten: »Und so erklärte ich sie zu Mann und Frau!«
»Was?«, schrie Patricius und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass ein Holzteller zu Boden sprang. »Wie kommst du dazu?«
Verschreckt knetete Urso die Hände. »Du warst tagelang weg, die beiden hatten es schrecklich eilig. Und da der Apostel Paulus selbst sagt, heiraten sei besser als Brunft leiden …«
Unwillkürlich musste Patricius lächeln und wies seinen jungen Freund milde zurecht. »Aber du hast nicht das Recht, sie nach Gottes Gesetz miteinander zu verbinden. Daher weiß ich nicht, ob sie jetzt aus Jesu Sicht in Unzucht miteinander leben.«
»Dann traue sie zur Sicherheit einfach nochmals!«
»Ach Urso, das ist nicht so einfach. Wären sie nämlich doch verheiratet, so würden sie zum zweiten Male heiraten, also Bigamie begehen. Eine genauso schwere Sünde – du verstehst?«
»Hmmm …« Verwirrt strich sich Urso durch seine schwarzen Locken. »Selbst wenn sie die zweite Ehe mit dem gleichen Menschen eingehen, mit dem sie schon zusammen sind?«
»Vielleicht wäre es eine Sünde, vielleicht auch nicht.« Patricius zuckte mit den Schultern. »Ich werde jetzt lieber nichts tun und die Frage dem Heiligen Vater vorlegen, sobald ich nach Rom komme.«
Urso merkte auf. »Nach Rom? Wann willst du reisen?«
»In einigen Monden, wenn die Pässe offen sind.«
»Aber doch nicht alleine, die Berge sind gefährlich. Da gibt es Bären, Wölfe, Steinschläge, Wetterstürze, Räuber – ich kenne mich aus, ich bin da aufgewachsen!«
»Wieso? Kommst du nicht von hier?«
»Nein, mein Vater war Fischer an einem großen See im Hochgebirge, der nach uns Walchen benannt wurde. Sein Boot kenterte in einem Sturm, und er ertrank. Da zog meine Mutter hierher, zu ihrem Bruder; vor drei Jahren ist sie gestorben.«
»Du willst mir als Führer dienen?« Patricius sah Urso zweifelnd an. »Wie alt warst du denn, als ihr von dort weggegangen seid?«
»Nun«, Urso senkte den Blick, »noch jung. So fünf oder eher vier Jahre …«
»Na, mit der Erfahrung wärst du sicher eine große Hilfe!«
»Besser als nichts! Außerdem soll man gefährliche Reisen nie alleine unternehmen.«
»Das ist wahr«, entgegnete Patricius, versöhnlicher gestimmt. »Also komm mit, wenn du hier wegkannst.«
»Juchuh!« Urso tanzte jubelnd durch den Raum. »Rom sehen, die Paläste, die Kirchen, die Heiligenbilder, all die Pracht, von der du mir erzählt hast – und von Valei wegkommen«, fügte er verschmitzt hinzu. »Ohne dich wäre es öde hier!«
Einen Mond später war es warm genug, die Reise zu wagen. Urso hatte seine fertigen Fässer und Schüsseln gegen Würste, Käse und Wanderschuhe eingetauscht und das Werkzeug bei seinem Onkel eingelagert. Patricius ging nochmals durch den Ort, verabschiedete sich von den Dorfbewohnern und ermahnte diejenigen, die er bekehrt hatte, ein christliches Leben zu führen. Da hörte er hinter einer Scheune ein kleines Kind weinen. Unwillkürlich trat er leise näher, um zu horchen. »Und hiermit taufe ich dich. In Nomine Patria et Filia!«, hörte er Ursos helle Stimme, gefolgt von einem Aufheulen. Als der Mönch um die Ecke stürzte, sah er Urso, wie dieser einen nackten Säugling aus einem mit Wasser gefüllten Bottich hob.
»Was treibst du da?«, schrie er. »Hast du schon wieder …«
Urso fuhr auf und zitterte derart, dass er beinahe das tropfende Kind fallen ließ. »Das ist der jüngste Sohn meiner Tante. Ich wollte ihn noch schnell taufen, bevor wir …«
»Im Namen des Vaterlandes und der Tochter! Falls dein verdorbenes Latein überhaupt einen Sinn ergibt, du gotteslästerlicher Esel!«
»Aber es ist doch noch ganz winzig«, entgegnete Urso beschwichtigend und wickelte das weinende Kind in ein Tuch, »und versteht sowieso kein Latein!«
»Ja, ist denn der böse Geist in dich gefahren?« Patricius zitterte vor Erregung. »Was maßt du dir an? Gott versteht sehr wohl, was für einen Schindluder du hier mit seinem Sakrament treibst.«
»Ich wollte einfach auch mal taufen, so wie du!«
»Aber dazu hast du kein Recht! Geht das in deinen belockten Walchenschädel? Weißt du was?« Patricius keuchte. »Ich breche sofort auf – und du bleibst hier! Sonst tunkst du mir noch den Heiligen Vater in den Tiber!«
»Nein, das kannst du mir nicht antun!«
»Und ob ich das kann!« Patricius marschierte mit langen Schritten zu Ursos Haus, stieß die Türe auf und begann, seine wenigen Habseligkeiten in seinen Wandersack zu stopfen. Urso, der ihm nachgelaufen war, stand in der Tür und versperrte ihm den Ausgang, das weinende Kind im Arm. »Was stehst du rum und glotzt? Bring lieber den Balg zurück!«
»Ich will mitkommen. Du hast es mir versprochen!«
»Nein!« Patricius schwang sich den Sack über die Schulter, schob sich an Urso vorbei und trat auf den staubigen Hauptweg. »Verschwinde!«
»Ich komme mit. Denk an die Bären, Wölfe und …«
»Steinschläge, Wetterstürze – ich weiß«, gab der Mönch barsch zurück. »Mein Leben liegt in Gottes Hand.«
Urso lief ihm nach, den greinenden Säugling im Arm. »Du hast kaum Vorräte!«
»Dann suche ich mir Beeren oder Pilze!«
»Die gibt es erst im Sommer!«, wandte Urso ein.
»Dann wird mir Gott Manna schicken, wenn er will! Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Urso verstummte, blieb stehen und schaukelte das Kind, während er dem Mönch nachblickte, bis dieser hinter einer Wegbiegung verschwand.
***
Am Abend des folgenden Tages saß Patricius erschöpft an seinem Lagerfeuer, nur gelegentlich aus seinen Gedanken gerissen, wenn ein harziger Ast unter Funkenstieben zerbarst. Je höher der Pfad sich in die Berge wand, umso schwieriger wurde das Vorankommen, da überall Schmelzwasser die Hänge herabrieselte und den Weg mit einer glitschigen Schlammschicht überzog. Außerdem gingen seine hastig zusammengerafften Vorräte zur Neige und alle Versuche, in einem Bergbach Forellen zu fangen, waren kläglich gescheitert. Reisenden zu begegnen, konnte Patricius so früh im Jahr nicht hoffen, die Bergalmen lagen noch verlassen, und wenn nicht bald ein Wunder geschah, wusste er nicht, wie er es über den vor ihm aufragenden Hauptkamm des Gebirges schaffen sollte.
Da hörte er ein Rascheln auf dem Pfad hinter sich, ein Stein polterte zu Tal. Räuber? Ein Bär? Patricius fuhr auf, seinen Wanderstab in der Rechten. Mit der Linken zog er einen rotglühenden Ast aus der Glut, den er funkenstiebend schwenkte.
»Wer ist da?«
»Ich bin es, dein Freund!« Bei diesen Worten trat ein dunkel gelockter Mann in den Flammenschein, einen prallen Sack über den Schultern. »Du gingst zu schnell, und ich musste Vorräte für uns beide schleppen.«
»Du? Aber hatte ich dir nicht …«
»Ja schon.« Urso ließ den Sack zu Boden plumpsen, öffnete ihn, holte einen Brotlaib heraus, hielt ihn dem Mönch hin und bemerkte: »Das Planen eines Emsigen bringt Überfluss; wer aber allzu rasch handelt, dem wird's mangeln.« Auf Patricius' verblüfften Gesichtsausdruck hin setzte er heiter hinzu. »Die Weisheit Salomos. Darf ich nun mit nach Rom kommen?«
»Also gut, du darfst«, knurrte der Mönch. »Aber nur, wenn du mir gelobst, weder eigenmächtig zu taufen noch Ehen zu schließen!«
»Versprochen!«, lachte Urso und zog noch einen Käselaib aus dem Sack. »Aber vergiss nicht – jetzt habe ich dir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet!«
***
Am Nachmittag des vierzehnten Juni erreichten sie Rom. Auf dem Weg zu der Stadt, die – zusammen mit einem bis nach Ravenna reichenden Landstreifen – zum Territorium des Kaisers in Konstantinopel gehörte, hatten sie das von den Langobarden beherrschte Norditalien durchqueren müssen. Zum Schutz vor den Räuberbanden, welche die verlassenen Landstriche unsicher machten, hatten sie sich unterwegs einer fränkischen Pilgergruppe angeschlossen. Gemeinsam beteten sie zuerst am Grab des Apostels Petrus in der langgestreckten Basilika, die Kaiser Konstantin einst erbaut hatte, bevor sie sich Quartier in einem nahen Hospiz suchten.
Am nächsten Morgen durchwanderten sie die Stadt auf dem Weg zum Sitz des Papstes im Lateranpalast. Doch Patricius hatte kaum Augen für die ungeheuren Ruinen, die sich beidseitig der Straße erhoben, noch nahm er die seltsame Unruhe war, die in der Bevölkerung herrschte – so sehr war er von der Vorfreude erfüllt, endlich dem Stellvertreter Christi auf Erden gegenübertreten zu können. Am Lateran angekommen, mussten er und Urso sich durch ein Gewimmel von Pilgern, Mönchen und Almosenempfängern hindurchfragen, bis Patricius einem abweisend blickenden Priester Haimhrams Briefe übergeben konnte. Kurze Zeit später erschien der Mann erneut, doch diesmal wie verwandelt, und erklärte, der irische Peregrinus würde sofort vorgelassen; seinem Begleiter sollte für die nächsten Tage eine Zelle im nahen Kloster St. Pancratius zugewiesen werden.
Mit angehaltenem Atem folgte Patricius dem Priester eine Marmortreppe hinauf, durch düstere, verwinkelte Gänge, vorbei an unzähligen altersdunklen Türen, bis sie am Ende vor dem Arbeitszimmer des Papstes standen.
Patricius erblickte einen kahlen, gebeugten Mann, der in einem mit Elfenbeineinlagen verzierten Sessel saß, den Besucher mit wachen Augen musterte und ihm seine Hand mit einem Goldring hinstreckte, den Patricius mit den Lippen berührte. Papst Martin erkundigte sich eingehend nach den Verhältnissen in Irland und am Hof der Agilolfinger in Reganesburg, verstummte entsetzt, als er von dem Ende Haimhrams erfuhr und befahl sogleich seinem Sekretär, eine Messe für das Seelenheil des Märtyrers lesen zu lassen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er, als er Patricius' Gesichtsausdruck bemerkte. »Er hat die Unwahrheit gesagt. Aber das tat er weder aus Eigennutz noch um jemanden zu schädigen. Er nahm, wie Jesus, fremde Schuld auf sich. Somit handelte er als wahrer Glaubenszeuge, Gottes Wort getreu bis in den Tod.«
Patricius nickte beschämt. So hatte er die schrecklichen Ereignisse bisher nicht gesehen. In diesem Augenblick pochte es heftig an die Türe, und ein Diener stürzte herein.
»Theodorus, der neue Exarch, und sein Sekretär Pellurios sind eingetroffen. Sie marschieren mit ihren Soldaten direkt hierher!«
Papst Martin sprang auf, raffte einige Dokumente zusammen und lief aus der Türe. »In die Basilika«, rief er dem Mönch zu. »Schnell!«
In der Kirche angekommen, ließ Martin die Tore verrammeln und gab Befehl, dem Statthalter des Kaisers auszurichten, er fühle sich unwohl und könne niemanden empfangen. Der Tag verging mit vielen geflüsterten Gesprächen, aus denen sich Patricius allmählich ein Bild machen konnte: Aufgrund theologischer Streitereien, verschärft durch die alte Rivalität zwischen dem Patriarchen von Konstantinopel und dem Papst in Rom, hatte der junge Kaiser Konstans die traditionell notwendige Zustimmung verweigert, als der römische Klerus vor vier Jahren Martin zum Papst gewählt hatte. Stete Angriffe der ungläubigen Sarazenen an der Ostgrenze des Reiches hätten dem Kaiser bislang die Hände gebunden, hieß es, doch jetzt sei der Exarch aus Ravenna als sein Vertreter gekommen, um den Papst zur Rechenschaft zu ziehen. Während Patricius seine Augen über die im Halbdunkel glänzenden Mosaike, die Marmorverkleidungen, die Heiligenbilder und die goldgeschmückten Altäre wandern ließ, brachten Späher immer neue Berichte von dem, was außerhalb der Kirche vor sich ging: Anfangs habe Theodoros höflich gewartet, doch dann den Befehl gegeben, den Papstpalast nach Waffen zu durchsuchen. Als keine Beweise für Umstürzlertum gefunden worden seien, habe der Exarch die anwesenden Diakone und Priester zusammentreiben lassen, um ihnen die Anklage auf Hochverrat vorzulesen und sie aufzufordern, Martin unverzüglich abzusetzen und einen neuen Papst zu wählen. Doch hätten die Kirchenmänner bislang der Drohung getrotzt, während zugleich die Stimmung im Volke immer gereizter würde.
Der Papst hörte sich alles schweigend an, schüttelte gelegentlich den Kopf, doch ohne etwas zu tun oder zu befehlen. Als die Nacht hereinbrach, ließ er eine Liege holen und vor den Altar stellen. »Schlaft, meine Brüder«, sagte er leise. »Nur Gott weiß, warum er uns diese Prüfung auferlegt.«
Patricius streckte sich in einem Winkel auf dem Boden aus, doch konnte er lange keine Ruhe finden. Mitternacht mochte schon vergangen sein, als er langsam in den Schlaf sank – nur um sogleich gewaltsam geweckt zu werden. Donnernde Schläge gegen das Kirchenportal, das Geräusch splitternder Balken, trampelnder Stiefel, Schreie und flackerndes Fackellicht erfüllten den Raum. Soldaten in Kettenpanzern rissen den Papst von seinem Lager, der Exarch trat vor und überreichte Martin das kaiserliche Dekret.
»Hiermit erkläre ich dich zum Gefangenen! Du bist angeklagt, vor drei Jahren den hochverräterischen Aufstand meines Vorgängers, des Exarchen Olympios unterstützt zu haben. Außerdem hast du dir ohne kaiserliche Bestätigung die Nachfolge Petri angemaßt!«
»Verflucht seist du, Gottloser!«, schrien die anwesenden Priester. Einige stürzten sich auf die Bewaffneten, wurden jedoch rasch überwältigt und in Ketten gelegt. Wie zum Hohn begannen zwei Soldaten, mit ihren Schwertern die Kerzen von den Altären zu schlagen. Andere führten unterdessen die Gefangenen ab, unter denen sich auch Patricius befand. Draußen mussten sie sich ihren Weg durch eine unübersehbare Menschenmenge bahnen, die Schmähungen gegen den Kaiser brüllte, Steine warf und versuchte, den Papst und sein Gefolge zu befreien.
»Pellurios, bring sie zum Palatin!« Theodorus' Stimme verriet seine Erregung. »Ich werde versuchen, den Pöbel zu beruhigen.«
Die nächste Stunde wurden der Papst, die gefangenen Priester sowie Patricius in einer düsteren Prozession durch das nächtliche Rom getrieben, begleitet von Verhöhnungen der Soldaten. Zuletzt ging es den Palatinshügel empor, durch endlose, nach Schimmel riechende Gänge des Kaiserpalastes, bis sich die Türe eines Gewölbes hinter ihnen schloss.
Am Abend des Folgetages betrat Pellurios den Kerker, begleitet von fackeltragenden Soldaten.
»Martin, da du dir das Amt des Papstes angemaßt hast und des Hochverrates beschuldigt wirst, soll dir im Angesicht des Kaisers der Prozess gemacht werden. Du hast das Recht, dir sechs Begleiter auszuwählen!«
»Wir wollen alle mitkommen!«, schrien die Anwesenden wild durcheinander, »alle!«
»Nein«, fuhr sie der Sekretär des Exarchen an. »Sechs müssen reichen!«
Bedächtig stand Martin auf, sah sich um und ging auf einen der Gefangenen zu. »Willst du mich begleiten?«, fragte er leise, und als der Mann bejahte, wählte er den nächsten aus, bis zuletzt sein Blick auf Patricius fiel. »Du auch, Peregrinus?«, fragte er, worauf Patricius stumm nickte.
Noch in der gleichen Nacht wurden die Sieben abgeführt. Begleitet vom Marschtritt der Soldaten, stolperten sie in ihren Ketten durch die Straßen, ließen die hoch in den Nachthimmel ragenden Türme eines Stadttores hinter sich, hörten das Quietschen, als die Flügel geschlossen wurden, gefolgt vom Schaben des großen Riegels. Bald darauf vernahmen sie das Rauschen des Tibers. Von Fackeln erhellt, lag ein flaches Flussschiff am Ufer. Pellurios ließ die Taue lösen, die den Kahn am Ufer festhielten, und alle Lichter löschen.
»Nach Portus!«, hörte Patricius, der auf dem Deck kauerte, den Sekretär rufen. »Zum Schiff nach Konstantinopel!«