Kapitel 5
Die Stadt am Meer
(656 n. Chr.)
»Ich habe die große Stadt des Abendlandes erobert und es fällt mir nicht leicht, alle ihre Reichtümer und Schönheiten aufzuzählen. Ich werde mich darauf beschränken zu erwähnen, dass sie viertausend Paläste, viertausend öffentliche Bäder, vierhundert Theater oder Vergnügungsstätten und zwölftausend Obstläden besitzt. Die Stadt ist mit Waffengewalt und ohne Verhandlungen erobert worden. Die Muslime sind ungeduldig, die Frucht ihres Sieges zu genießen.«
Der Feldherr Amr Ibn al-As zur Eroberung Alexandrias
Bei jedem der wiegenden Schritte des Kamels hätte Daud am liebsten laut aufgestöhnt. Das Sitzen im Sattel war eine einzige Qual, die noch verschlimmert wurde, wenn sich der raue Stoff seines Gewandes an einer der langen, dunkelrot geschwollenen Striemen rieb, die seinen Körper bedeckten. Über seine linke Wange zog sich zudem eine aufgeplatzte Wunde, um die die Fliegen schwirrten. Jede Bewegung erinnerte ihn an den Augenblick, als der Suchtrupp zum Lager zurückgekehrt war und die Männer ihn vor seinen Herrn gestoßen hatten, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Zuerst war Ammâr schlaftrunken aufgefahren, dann hatten sich seine Augen zu Schlitzen verengt und bösartig gefunkelt. In dem feisten, mit roten Pusteln übersäten Gesicht hatte sich ein Mund geöffnet, aus dessen Winkel ein Speichelfaden in den Bart rann. Danach war der Mann blitzschnell aufgesprungen, um eine Maultierpeitsche aus dem Gepäck zu zerren. Wie von Sinnen hatte er auf den Jungen eingeprügelt, den sich am Boden Krümmenden getreten und beschimpft. Bis zuletzt Amr dazugekommen war, den Rasenden angefahren und von seinem wimmernden Opfer weggerissen hatte.
Das hatte Daud wohl das Leben gerettet, doch um den Preis, ihn zu einem Dasein zu verdammen, wie es hoffnungsloser kein Hund führen konnte. Trotz aller Schmerzen musste er weiterhin seinem Herrn dienen und jede Nacht mit auf dem Rücken zusammengebunden Händen verbringen. Als hilfloses Bündel einzuschlafen gelang ihm meist erst nach stundenlangem Liegen, wenn völlige Erschöpfung ihn lähmte. Doch dann war es oft nicht mehr weit bis zum Grauen des nächsten Morgens, bis zu dem Fußtritt, der ihn aus gnädiger Bewusstlosigkeit in erneutes Elend riss.
***
Tag um Tag verstrich auf diese Weise und Daud hatte mehr als genug Zeit, über das Los der Schwachen in dieser Welt nachzusinnen. Er war immer klein und zart gewesen, doch als Ziegenhirt brauchte man eher Flinkheit und scharfe Augen denn rohe Kraft. Und auch die Hilfsdienste im Haushalt des Kalifen hatten keine körperliche Stärke erfordert. Dort hatte ihm vielmehr sein unbändiger Wille Anerkennung eingetragen, sich die geschwungenen Schriftzeichen einzuprägen, um den Koran lesen zu können. Ja, er hatte bereits begonnen, das Wort Gottes auswendig zu lernen, als die Ermordung Uthmans alle Hoffnungen zerstört hatte. Mehr als Knechtschaft, Schläge und Demütigungen war bei Ammâr nicht zu erwarten. Er konnte nur immer wieder Allah anflehen und auf seine Gnade hoffen. Zu den Pflichten der Gläubigen gehörten die täglichen fünf Gebete, und kein Tag verging, an dem Daud nicht jedes einzelne mit der innigen Bitte beschloss, Allah möge ihn aus seinem Elend erlösen.
Erst langsam, fast unmerklich wurde ihm klar, dass Allah mit den Standhaften ist, dass er demjenigen hilft, der sich selbst helfen will. Wobei da, wo es an eigener Kraft fehlte und fremde Rettung nicht in Sicht war, nur eines blieb: Die List. So formten Dauds Lippen immer wieder unhörbar die dreißigste Sura, in der es heißt: »Und Listen schmiedeten sie, und Allah schmiedete Listen; und Allah ist der beste der Listenschmiede.« Wenn Listen Allah wohlgefällig waren, so durfte auch Daud sie gebrauchen – gebrauchen gegen die überlegene Kraft dieser Männer. Seine Gelegenheit würde kommen – diese Gewissheit hielt ihn aufrecht, ließ ihn die langen Tage auf dem wiegenden Kamelrücken ebenso überstehen wie die brennende Hitze, die Demütigungen der abendlichen Lager und die trostlose Einsamkeit der Nächte.
Doch eines Tages geschah etwas, das ihn aus seinem hasserfüllten Brüten riss. Sie waren nach Westen abgebogen, und der Weg schlängelte sich nun aus dem Gebirge hinab, als auf einmal der Ruf »Das Meer!« durch die Karawane lief. Sie ritten hinunter in eine mit Palmen bestandene Ebene, hinter der sich eine glitzernde Fläche in der Abendsonne erstreckte. Daud kniff die Augen zusammen und starrte überwältigt nach vorne. Vom Meer hatte er schon gehört, nicht zuletzt an den abendlichen Lagerfeuern der Karawane, doch waren ihm die Erzählungen wie bloße Aufschneidereien erschienen. Da solle es ein unendliches Wasser geben, hatte es geheißen, zum Trinken zu salzig, von Stürmen zu wilden Wellen gepeitscht, über das die Menschen in riesigen Schiffen fuhren, bis sie am Horizont verschwanden. Daud, der nie eine Wasserfläche gesehen hatte, die den Durchmesser eines Brunnens überstieg, war dies alles unglaublich erschienen. Doch jetzt erblickte er es mit eigenen Augen, und mit jedem Schritt, mit dem sich die Karawane dem kleinen Küstenort näherte, bei dem sie ihr Abendlager aufschlagen würden, wuchs in ihm eine unerklärliche Sehnsucht nach dem Meer.
Am Abend, als sie bei den würfelförmigen Häusern von Aqaba lagerten und die Männer sich ums Lagerfeuer versammelt hatten, um sich gegenseitig mit ihren Geschichten zu übertrumpfen, gelang es ihm, sich für einige Augenblicke unbemerkt fortzustehlen, um zum nahen Strand zu laufen. Er schnupperte den unbekannten Geruch des großen Wassers, lauschte dem beruhigenden Plätschern der Wellen, die sich am Ufer brachen, grub seine Zehen in den feuchten Sand und sah den Fischerbooten mit ihren dreieckigen Segeln nach. Im Osten röteten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die kahlen Berggipfel, während er an der Spitze dieser riesigen Wasserzunge stand, die an seinen Füßen leckte und sich in der Ferne allmählich verbreiterte, bis sie im Dunst des Horizonts aufging. Ich bin die Freiheit, schien sie ihm zuzuflüstern, auf mir gibt es keine Grenzen – und Daud wurde schlagartig klar, was er mehr als anderes auf der Welt ersehnte: Auf dem Meer sein, auf einem Schiff seine Weiten zu durchqueren, aufbrechen zu unbekannten Ländern, zu neuen Eroberungen, zu Ruhm, Macht und Ehre …
***
Die folgenden Tage fiel ihm trotz aller Schinderei das Reiten leichter, denn immer wieder schweiften seine Gedanken zum Meer und ließen ihn seine Lage wenigstens zeitweise vergessen. Angespornt von neuem Ehrgeiz vertrieb er sich unterwegs die Zeit damit, schwierige Worte, bei denen er sonst gestottert hätte, so lange leise zu wiederholen, bis er sie immer besser meisterte.
Erneut ritten sie nun endlos scheinende Felswüsten empor, durchquerten ausgedörrte Flusstäler und passierten hoch aufragende Schichten aus weißem Kalkstein, in denen dunkle Feuersteinknollen glänzten. Immer weiter zog die Karawane in Richtung der Abendsonne, bis das Land mit der Zeit wieder abfiel und nicht mehr ganz so lebensfeindlich wirkte. Noch einmal glänzte links das Meer, dann sahen sie erste Dörfer, in denen die Menschen ungewöhnliche Ledergürtel trugen und die Reisenden scheu anstarrten.
»Nasrani«, sagte einer der Mitreisenden zu Daud, als er den verwunderten Blick wahrnahm, mit dem dieser einen kleinen Turm musterte, auf dem ein Kreuz in den Himmel ragte. Daud hatte schon von diesem seltsamen Glauben gehört, dessen Anhänger sich Christen nannten und darauf beharrten, dass ihr Prophet Isa den Sklaventod am Kreuz gestorben sei. Dabei konnte doch jeder einsichtige Mensch in der vierten Sura des Korans nachlesen, dass nicht dieser Isa, sondern ein Anderer an seiner Stelle getötet worden war!
In Medina gab es keine Nasrani, doch Daud wusste, dass sie zu den Dhimmi gehörten, den Schutzbefohlenen des islamischen Reiches, die als ›Völker des Buches‹ ihren Glauben ausüben durften, sofern sie die muslimische Herrschaft anerkannten, die Kopfsteuer zahlten und die vorgeschriebene Kleidung trugen. Dieses Vorrecht galt auch für die Juden, die einst zahlreich in Medina gelebt hatten. Doch hatte der Prophet, gepriesen werde sein Name, sie dort der Verräterei angeklagt, sie vertrieben, in die Sklaverei verkauft oder töten lassen.
Endlich, als es nicht mehr weit bis Fustat, dem Ziel ihrer Reise, sein konnte, machten sie mittags am Rande eines Dorfes Halt, in dessen Mitte sich ein festungsähnliches Mauergeviert erhob, aus dem dumpfe, melodische Töne drangen. Ein sogenanntes Monastir, wie Daud aus den Gesprächen der Mitreisenden erfuhr, in dem Mönche lebten. Fromme Nasrani, die keine Familie hatten und nichts anderes taten, als ihr Leben der Verehrung dieses Isa zu widmen; von den Nakus genannten Klanghölzern wurden sie zum Gebet gerufen.
Nachdem ein hitziger Wortwechsel zwischen den Reisenden entbrannt war, machte sich schließlich eine Abordnung zu den Bewohnern des Monastirs auf, die bald schmunzelnd zurückkehrte, große Krüge geschultert. An diesem Tag ritten die Männer nicht mehr weiter, denn einige, darunter Ammâr, schienen es eilig zu haben, baldmöglichst das Lager aufzuschlagen. Der feiste Mann wirkte leutseliger als sonst und unterließ sogar die üblichen Kränkungen, als er Daud zu sich rief.
»Ich glaube, du hast jetzt genug für deine Aufsässigkeit gebüßt«, knurrte er und strich sich selbstgefällig über den Bart.
»Jawohl, mein Herr.« Daud hielt den Kopf gesenkt, damit der Mann nicht den Hass in seinen Augen funkeln sah.
»Ich könnte mir vorstellen, dir gegenüber gnädig zu sein. Dir also ab heute Nacht die Fesseln zu ersparen … sieh mich an!« Daud hob folgsam den Kopf. Der Mann wiegte den dicken Kopf und kratzte sich gedankenverloren einen Mückenstich. »Wie gesagt, ich könnte …«
Die kleinen Augen musterten abschätzend Daud, der an sich halten musste, nicht auszuspucken. Stattdessen nickte er nur stumm, bemüht, seinen Zügen einen ergebenen Ausdruck zu verleihen, und senkte gleich wieder den Kopf, da sein linkes Augenlid zu zucken begann.
»Voraussetzung wäre, dass du einsiehst, dass ich dich zu Recht gestraft habe.« Der Mann stand breitbeinig vor ihm und hakte selbstgefällig die Hände in seinen Gürtel aus rotem Seidenstoff. »Ich will«, sagte er geruhsam, »dass du verstehst, warum ich dich prügeln musste – auch wenn mir das nicht leichtfiel. Tust du das?«
Daud, der sich nur zu gut an die hämische Freude erinnerte, mit der Ammâr die Peitsche geschwungen hatte, grub die Fingernägel in seine Handballen und schluckte. Die Versuchung, seine Fäuste in diesen fetten Bauch zu rammen, der sich da vor ihm wölbte, ganz gleich, was danach kommen mochte, war fast übermächtig. Doch noch rechtzeitig besann er sich der List, der er sich verschworen hatte, und murmelte ergeben: »Ja, das tue ich. Ihr hattet R… Recht, mich zu prügeln …«
Der Mann schien ein wenig überrascht, grinste dann aber und rieb sich die Hände. »Das freut mich für dich. Ich werde dir die Fesseln ersparen, wenn du mir schwörst, mir nicht wieder zu entfliehen. Beim Namen Allahs und dem Leben deiner Eltern. Schwörst du mir das?«
Wieder war Daud versucht, dem Hundesohn seine Verachtung und Wut in das von Pusteln übersäte Antlitz zu spucken, doch wieder beherrschte er sich. Er dachte an seine Rache, die kommen würde, und antwortete mit ruhiger, und wie er hoffte, ergebener Stimme: »Das schwöre ich.« Sein Augenlid zuckte, doch darauf achtete Ammâr nicht.
Dieser Nachmittag verlief anders als sonst. Daud spürte bald, dass sich die Reisenden in zwei Gruppen gespalten hatten: Die Minderzahl der Fröhlichen und die Mehrheit der Sittenstrengen, zu denen auch Amr gehörte, die mit finsteren Blicken beobachteten, wie Krüge zu einer Lagerhalle geschafft wurden. Ammâr und einige Gefährten hatten die Dorfbewohner unter Hinweis auf die Verpflichtung von Dhimmis, reisende Muslime zu beherbergen, dazu gezwungen, den großen Bau leer zu räumen und ihnen zu überlassen. Wozu, das verstand Daud erst, als ihm bewusst wurde, dass die Krüge Wein enthielten, bei dessen Genuss die Männer unbeobachtet bleiben wollten. Bald saßen etwa zwei Dutzend in einem großen Kreise, ließen sich von Daud und anderen Dienern die Becher füllen, würfelten und schlürften die rote Flüssigkeit.
Plötzlich winkte Ammâr den Jungen zu sich, packte ihn am Ärmel seines Kaftans, zog ihn herab und hielt ihm den Becher unter die Nase.
»Hier! Trink, und stier nicht mehr so finster drein.«
Daud, dem der säuerliche Geruch in die Nase stieg, schüttelte abwehrend den Kopf.
»Der Prophet, sein Name werde geheiligt, hat Glücksspiele und Wein verboten: ›Oh ihr, die ihr glaubt, siehe, der Wein, das Spiel, die Op…pfersteine und die Pfeile sind ein Gräuel von Satans Werk. Meidet sie, vielleicht ergeht es euch wohl. Der Satan will nur zwischen euch Feindschaft und Hass werfen d… durch Wein und Spiel‹, heißt es in der fünften Sura des Korans.«
Der sitzende Mann sah verblüfft auf, als wisse er nicht, was er von dieser Antwort halten solle. Sein Nachbar, ein junger Mann mit rotem Turban, schlug ihm lachend auf die Schulter.
»Da hast du's, das Bürschlein kennt das Wort Allahs.«
Ammâr drehte den Becher in der Hand, als könne er es nicht fassen. »Kennen? Der? Von wegen«, knurrte er. »In der sechzehnten Sura heißt es nämlich: ›Und unter den Früchten die Palmen und Reben, von denen ihr berauschenden Trank und gute Speise habt. Siehe, hierin ist wahrlich ein Zeichen für einsichtige Leute.‹« Er wandte sich unwirsch an Daud. »So, nun widersprich einsichtigen Leuten nicht und trink!«
Daud merkte, dass die Gespräche in der Halle verstummt und alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Ruhig antwortete er. »In der zw… zweiten Sura jedoch heißt es: ›Sie werden dich befragen nach dem Wein und dem Spiel. Sprich: In beiden liegt große Sünde und Nutzen für die Menschen. Die Sünde in ihnen ist jedoch g… größer als der Nutzen.‹ Deshalb möchte ich nicht trinken.«
Einige Männer lachten, doch Ammâr schüttelte unwillig den Kopf. »Was versteht so ein hergelaufener Junge schon vom Koran? In der dreiundachtzigsten Sura steht über das Paradies zu lesen: ›Siehe, die Gerechten werden wahrlich in Wonne sein, auf Ruhebetten liegend werden sie ausschauen, erkennen kannst du auf ihren Angesichtern den Glanz der Wonne, getränkt werden sie vom versiegelten Wein, dessen Siegel Moschus ist – und hiernach mögen die Begehrenden begehren …‹ Wer von euch will mir weismachen, dass das, was uns im Paradies verheißen wird, eine Sünde sein soll?«
Die Männer grölten und tranken sich zu, während Ammâr erneut winkte und mit dem Zeigefinger bestimmend auf den Becher wies. »So, nun runter damit!«
Daud überlegte, wie er, ohne den Mann zu sehr zu reizen, nochmals ablehnen konnte, und entgegnete, diesmal bewusst stotternd. »Bi… bitte, ich bin schwach und W… W… Wein nicht gewohnt. Und da es in der vierten Sura heißt, ›Oh ihr, die ihr g… glaubt, nähert euch nicht tr… trunken dem Gebet, sondern w… wartet bis ihr wisset, was ihr sprechet …‹, m… möchte ich nicht trinken, denn bis zum Abendge…gebet ist es nicht mehr lang.«
Einen Augenblick sah ihn Ammâr fassungslos an, dann zuckte er mit den Schultern und leerte seinen Becher. »Das mag für Schwächlinge gelten. Ich jedenfalls werde davon nicht trunken«, brummte er, spuckte auf den Boden und ließ sich nachschenken.
***
Vor der Halle hatten die Dorfbewohner ein Feuer entzündet, über dessen Glut sich ein Spieß drehte, auf dem ein Schaf brutzelte. Ein alter Mann schnitt Stücke für die Reisenden ab, und Daud holte seinem Herrn einige der vor Fett triefenden Fleischbrocken. Dazu legte er auf den Teller noch frisches Brot und rote Melonenstücke, in denen die schwarzen Kerne glänzten. Selbst konnte er sich nur hastig einige Datteln in den Mund schieben, während er Ammâr mit einem Palmzweig die Fliegen und Wespen vom Leib hielt, die der Essensgeruch in Scharen anlockte. Erst als der Mann zufrieden rülpsend den Teller von sich schob, durfte er sich über die halb abgenagten Rippenstücke hermachen und die Reste des Brotfladens in sich hineinstopfen. Kaum war er fertig, ertönte von draußen die Stimme des Vorbeters. Die Männer verließen die Halle, wuschen sich an einem nahen Brunnen und breiteten ihre Gebetsteppiche auf einer freien Fläche nördlich der Straße aus, die vom Dorf kommend nach Fustat führte, das sie morgen erreichen sollten.
»La Ilaha illa Allah, Mohammed rasul Allah!«
Daud, der ganz hinten kniete, sah vor sich die Rücken der Betenden, die sich im rituellen Rhythmus hoben und senkten, bis die Stirnen fast den Boden berührten, während der Vorbeter, ein frommer alter Mann aus dem Lager der Strenggläubigen, mit lauter Stimme die vorgeschriebene Formel wiederholte:
»Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet!«
Sie waren gerade beim letzten Teil des Gebets angekommen, als Hufgetrappel Daud aufblicken ließ. Von Westen näherte sich ein Reiter, gefolgt von mehreren Fußgängern, darunter eine Frau in einem schlichten grauen Umhang. Der Junge erkannte die Männer an ihren besonderen Ledergürteln als Nasrani; die sie, wie ihm einer der Mitreisenden erzählt hatte, tragen mussten, damit man sie von den Gläubigen unterscheiden konnte.
Plötzlich wieherte das Pferd, bäumte sich auf, brach aus und galoppierte den Weg entlang auf die Knienden zu. Die Vordersten sprangen erschrocken auf und wichen einige Schritte zurück, stolperten über Betende aus den hinteren Reihen, stürzten zwischen diese und rappelten sich wütend schimpfend wieder auf. Vorne waren inzwischen einige Männer dem Pferd in die Zügel gefallen, hatten es zum Stehen gebracht, den Reiter aus dem Sattel gezerrt und schrien mit erhobenen Fäusten auf ihn ein.
Daud verstand kein Wort, offenbar redeten sie in der Sprache der Einheimischen – aber er begriff den Zorn der Gläubigen, deren Gebet durch diese Störung unwirksam geworden war. Jetzt sah er, wie die Fußgänger angelaufen kamen, allen voran die Frau, deren Kapuze zurückgefallen war, so dass ihre hochgesteckten, hellbraunen Locken sichtbar wurden. Er konnte seinen Blick nicht davon lösen, denn in Medina trugen Frauen außerhalb des Hauses ihr Haupt stets bedeckt. In diesem Augenblick schien etwas zu geschehen, dass er nicht sehen konnte. Die Stimmen der Muslime wurden schriller, drohender, die Gebärden heftiger, dazwischen hörte er die Frau, die offenbar Arabisch sprach und mit befehlsgewohnter Stimme die Männer anfuhr, sie loszulassen. Grölendes Gelächter war die Antwort, dann wütendes Geschrei der Nasrani, dazwischen die auf Arabisch protestierende Frau, bis zuletzt die Gruppe in Bewegung geriet und sich der Halle näherte. Daud bemerkte einige Männer, denen man die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hatte, aber er selbst hatte nur Augen für die Frau. Sie mochte Anfang Zwanzig sein, war größer als Daud, schlank und hoch gewachsen, und obwohl sie immer wieder von dem hinter ihr gehenden Ammâr gestoßen wurde, so dass sie mehr stolperte als ging, versuchte sie, dennoch ihre Würde zu bewahren.
»Das kommt davon, wenn man Nasrani auf Pferden reiten lässt«, bemerkte einer der Muslime abfällig zu Daud, als er dessen große Augen gewahrte. »Der Ungläubige behauptet, sein Tier sei ihm einfach grundlos durchgegangen, als sei es von etwas gestochen worden.«
»Und was geschieht jetzt mit ihnen?«, erkundigte sich der Junge unbehaglich.
»Wir behalten sie die Nacht über hier. Über den Mann wird morgen der Kadi zu Gericht sitzen, der bei … nun, gerade bei den anderen ist.« Damit machte der Mann eine Kopfbewegung in Richtung des Lagers der Strenggläubigen und lachte hämisch. »Heute Abend wollen wir hier lieber keinen missmutigen Richter rumschleichen haben, wenn du mich verstehst, mein kleiner Weinverächter.«
»Und …« Daud bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, während die fremde Frau an ihnen vorüberging »… und sie?«
»Da kommst du so schnell nicht dran!«, hörte er plötzlich Ammârs Stimme poltern, der sich umgewandt hatte und ihn spöttisch angrinste. »Allenfalls als letzter, wenn wir Männer mit ihr fertig sind. Komm mit!«
Mit hochrotem Kopf folgte ihm Daud in die Halle, die jetzt Öllampen mit ihrem flackernden Schein erhellten.
Die Gefangenen wurden in eine Ecke gestoßen und mussten sich dort auf den Boden kauern, während die Glaubenskämpfer einen großen Kreis bildeten. Einer nach dem anderen trat in seine Mitte, warf sich in die Brust und berichtete von seinen Taten, den Kämpfen gegen die Ungläubigen und der reichen Beute in den eroberten Städten. Von Gold, kostbar gewebten Stoffen, Schwertern mit edelsteinbesetzten Griffen und fein ziselierten Klingen, silbernen Gefäßen, Kästchen aus Elfenbein mit roten Rubinen, schnellen Pferden … und von Frauen. Frauen mit Haaren, die ihnen in weichen Wellen über die Schultern fielen, Frauen mit großen dunklen Augen, mit fein geschwungenen Nasen, sinnlichen Lippen, schlanken Taillen und langen Beinen, Frauen mit zärtlichen Händen, vollen Brüsten und üppigen Hinterteilen.
Die Zuhörer hingen an den Lippen der Erzähler, belohnten sie mit Applaus und ließen immer wieder die Weinbecher kreisen. Daud beobachtete sie mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung. Im Laufe der vergangenen Tage hatte er auch die guten Seiten der Männer schätzen gelernt: Ihre Offenheit, ihre Hilfsbereitschaft und ihre Fähigkeit, klaglos Härten zu ertragen. Obgleich die Wut über seine Verschleppung noch in ihm glomm, musste er sich doch eingestehen, dass er diese Krieger zugleich beneidete. So stark wie sie wollte er werden – so tapfer, siegreich, bewundert, begehrt – nur nicht so grob, unbeherrscht, gierig, lüstern …
Er horchte auf, als die Stimmen lauter wurden, fünf Männer sich erhoben, in die Mitte des Kreises traten und begannen, mit kleinen Holzpfeilen ein altes arabisches Glücksspiel zu spielen. Ammâr war dabei, und noch einige weitere Anführer. Alle schienen guter Laune zu sein, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, stellten auch einmal in scherzhaftem Tone die Männlichkeit des anderen infrage, nur um jedoch sogleich weiterzuspielen.
»Worum geht es?«, fragte er einen stillen jungen Mann, mit dem er sich in den letzten Tagen etwas angefreundet hatte, und der mit verkniffenem Mund zusah.
»Sie legen fest, wer als erster darf«, murmelte der Angesprochene und strich sich missmutig über das gelockte Haar.
»Was darf?«, fragte Daud arglos, obgleich ihn eine schreckliche Ahnung beschlich.
»Die Frau nehmen«, entgegnete der Mann. »Angeblich hat sie bei ihrer Gefangennahme einen von uns geohrfeigt. Eine Nasranifrau, die einen Muslimmann schlägt … das darf man nicht dulden. Damit hat sie sich außerhalb des Gesetzes gestellt, das sie als Dhimmi schützt.«
Daud schwieg, doch er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Erst jetzt verstand er, dass Ammârs Bemerkung von vorhin alles andere als ein Scherz gewesen war. Langsam stand er auf, ging gebückt zum Rand der Halle, und als er sicher war, dass ihn keiner beachtete, schlich er sich an der Lehmziegelmauer entlang bis zu der Ecke, in der die Gefangenen saßen. Die fünf Männer sahen auf; einer, ein Greis mit langem, weißem Bart, richtete das Wort an ihn. Daud verstand die Sprache nicht und schüttelte verlegen den Kopf.
»Er fragt, was du von uns willst«, hörte er die Stimme der Frau und sah sich um. Sie saß ein Stück entfernt, die zusammengebundenen Hände auf dem Schoß, und ihre großen, dunklen Augen strahlten eine Stärke aus, die ihn kurz den Blick niederschlagen ließ. Sogleich jedoch ärgerte er sich über sich selbst, und er musterte ihr regelmäßiges Gesicht mit der hellen Haut, den ausgeprägten Wangenknochen und den geschwungenen Brauen. Ihr Körper war von dem grauen Umhang verhüllt, doch hatte sie die Kapuze nicht wieder aufgesetzt, so dass Daud ihr Haar sehen konnte. Es war voll, leicht gewellt und aufgesteckt, nur an einer Seite hatte sich eine Locke gelöst und hing ihr auf die Schulter.
»Verstehst du mich?«, fragte sie in einem einfachen, aber fehlerfreien Arabisch, das aus ihrem Munde weich und melodisch klang. Er nickte befangen.
»Der Reiter soll morgen dem Kadi vorgeführt werden. Die anderen haben nichts zu befürchten, au… außer …«
Er zögerte und hielt inne, als die Frau mit gedämpfter Stimme zu übersetzen begann, sah die Nasrani nicken, und wartete, bis sie ihn wieder anblickte. Als er weitersprechen wollte, brachte er es jedoch nicht über sich. Sein Hals war wie zugeschnürt, er schluckte und begann stärker zu stottern. »Sie w… wollen … dir … Ge… Gewalt an … ttt… tun …«
Sie sah ihn fragend an, als hätte sie nicht verstanden, so dass er langsam, ruhiger wiederholte. »Gewalt antun. Einer nach d… dem anderen. Sie spielen um die Reihenfolge …«
Dröhnendes Lachen scholl von der Gruppe herüber und einer der Männer, ein hagerer Alter mit weißem Turban, reckte die Rechte wie ein siegreicher Feldherr. Jetzt schien die Frau zu begreifen, ihre gefesselten Hände verkrampften sich und nach kurzem Zögern murmelte sie: »Das ist die Strafe des Herrn für meine Unbeherrschtheit … Ich habe nicht gehandelt, wie es Jesus getan hätte, obwohl ich eine Braut Christi bin.«
»Was für eine Braut?«, fragte Daud verständnislos. »Und was hast du getan?«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Seit einer Woche bin ich eine Nonne, das ist ein weiblicher Mönch. Ich habe das Gelübde abgelegt, ein frommes Leben zu führen. Bevor ich für immer in mein Monastir eintrete, wollte ich zu dem Berg pilgern, auf dem einst Moses die Tafeln mit den zehn Geboten empfing …« Sie schwieg und senkte traurig den Kopf. »Aber gleich das erste Mal, als mich Gott in Versuchung führt, werde ich schwach und handele erneut wie die hochmütige Herrin, die ich in Alexandria war, anstatt demütig im Geiste von Jesus, den ihr Isa nennt …«
Daud sah sie verständnislos an. »Wie hätte denn dieser Isa ge… gehandelt?«
»Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, so halte ihm die andere hin, hat er einst gesagt. Und er hat auch so gelebt und ist so gestorben – für uns … Ich dagegen habe die mir auferlegte Prüfung nicht bestanden und eine Beleidigung mit einer Ohrfeige vergolten …«
Wieder brandeten die Stimmen aus dem Kreis der Männer empor, der zweite Gewinner schien festzustehen.
»Aber wenn man so duldsam ist, breitet sich d… dann nicht das Böse immer weiter aus?«, wunderte sich Daud.
»Und, tut es das so etwa nicht?«, gab sie zurück. »Böses mit Bösem zu vergelten, wohin führt das, außer zu neuem Übel?« Sie sah ihn prüfend an. »Woher kommt die Wunde in deinem Gesicht?«
Daud betastete die verschorfte Schwiele, die sich von der linken Augenbraue über die Wange zum Kinn zog. »Das hat mir mein Herr angetan«, sagte er leise, »aber eines Tages wird er dafür bezahlen!«, trumpfte er auf.
»Willst du ihn töten? Das musst du nämlich, sonst lässt er wieder dich bezahlen. Und seine Söhne werden dich töten. So geht das ewig weiter, wenn niemand die Kette unterbricht«, entgegnete sie ruhig. »Auge um Auge, und die Welt erblindet.«
Daud wusste nicht, was er antworten sollte und wechselte das Thema.
»Wieso kannst du unsere Spr… Sprache?«
»Weil ich sie gelernt habe, als unser Land von euch Sarazenen erobert wurde.« Sie schwieg eine Weile. »In Alexandria, bei mir zu Hause, sprechen wir Griechisch. Aber als meine Eltern noch in einer Stadt namens Karthago lebten, haben sie untereinander nur Latein gesprochen. Doch dann wurde mein Vater von Kaiser Herakleios nach Alexandria berufen, als dieser die Perser aus Ägypten vertrieben hatte.«
Daud war verwirrt ob all dieser Namen, die ihm nichts sagten. »Was ist das, Latein?«, fragte er zuletzt.
Die Frau sah ihn verwundert an, doch dann erklärte sie geduldig. »Das sprechen die Römer, die Rum, wie ihr sie nennt, im Westen ihres Reiches. In der Provinz Africa und in der Stadt Rom, wo einst die Kaiser regierten. Das war vor vielen Hundert Jahren, bevor unsere Herrscher ihre Hauptstadt nach Konstantinopel verlegten …«
Der Junge schwieg. Es gab so vieles, das er nicht wusste. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Die braunen Balken, auf denen das Ziegeldach ruhte, verschwammen in der Dunkelheit; ein Gecko lief mit ruckartigen Bewegungen die Lehmziegelwand empor. Einige Schritte entfernt starrten die Glaubenskämpfer auf die Männer in ihrer Mitte, unter denen die füllige Figur von Ammâr herausragte. Endlich fasste er sich ein Herz.
»Du musst fliehen, sonst f… fallen sie über dich her. Einer nach dem anderen. Vielleicht ka… kann ich dir helfen … Wie heißt du?«
»Thekla ist mein Name«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Nein, wie sollte das gehen? Es gibt nur einen Ausgang, und der ist bewacht.«
»Ich könnte ins Dorf laufen u… und Hilfe holen. Die Wand besteht aus Lehm – wenn einige Männer die Muslime abl… ablenken und andere unterdessen von außen ein Loch stemmen …« Einen wirren Augenblick lang stellte er sich vor, wie er die Fremde retten würde, um mit ihr zu fliehen; wie sie sich in ihn verlieben und seine Frau werden würde …
»Das ist unmöglich, und das weißt du auch«, unterbrach ihre weiche Stimme seine Gedanken, »doch es ist gut gemeint. Gib mir deine Hand.« Sie streckte ihm ihre gefesselten Hände entgegen und er nahm sie mit seiner Rechten. »Danke«, sagte sie leise. »Du bist gut, besser als mancher Christ … Wie heißt du?«
Der Junge fühlte, wie seine Augen feucht wurden und schämte sich gleichzeitig seiner Schwäche.
»Daud«, flüsterte er. »Soll ich dir wenigstens einen Dolch bringen, da… damit … ich meine, bevor die anderen …«
Ruhig schüttelte Thekla erneut den Kopf. »Nein, das verbietet mein Glaube. Nur Gott, der uns das Leben gegeben hat, darf es wieder nehmen.« Doch als sie seine Verzweiflung bemerkte, lächelte sie ihn mit einem Male an. »Mach dir keine Gedanken. Sie werden mich nicht schänden.«
Daud musterte sie unsicher, und plötzlich keimte Hoffnung in ihm auf. Er sah ihre dunklen Augen, die gerade Nase, den breiten, leicht geschwungenen Mund, die etwas geöffneten Lippen. So mussten die Jungfrauen des Paradieses beschaffen sein, in das jeder Kämpfer sofort eingehen würde, der für den Glauben fiel.
»Siehst du meinen Reisesack dort?« Daud folgte ihrem Blick und nickte. »Darin findest du einen Stein. Hol ihn heraus und bring ihn her.«
Der Junge tat, wie ihm geheißen. Der Stein war rund, sein Durchmesser betrug weniger als eine Daumenlänge. Außen trug er ein fünfzackiges, regelmäßiges Warzenmuster.
»Was ist das?«, fragte er verwundert.
»Das ist ein Seeigel. Solche Tiere leben im Meer. Diesen hier hat mir ein heiliger Mann geschenkt, der bei den Pyramiden lebt. Das sind große, von Menschen gemachte Berge. Dort hat er ihn gefunden – mitten auf dem trockenen Land.«
»Aber wie kommt er dahin? Und wieso ist er aus Stein?«
Thekla lächelte. »Gute Fragen. Kennst du die Geschichte von Noah und der großen Flut?«
Daud nickte. »Ja, in der elften Sura des Korans sagt Allah zu ihm: ›Und baue dir die Arche vor unseren Augen und nach unserer Offenb… Offenbarung, und sprich mir nicht weiter von den Ungerechten; siehe, sie sollen ertrinken.‹«
»So sagt auch die Überlieferung der Christen. Dieses Tier blieb nach der Sintflut zurück, und Gott ließ es zu Stein werden. Damit es die Zeiten überdauert und die Menschen nie sein Strafgericht vergessen. Ich schenke es dir.«
Daud befingerte ehrfürchtig den Stein. »Danke, danke vielmals. Allah sei mit dir.« Schnell steckte er die Gabe ein und sah die Frau scheu an.
»Darf ich … dein Haar berühren?«, fragte er stockend. Als sie nickte, nahm er andächtig die Locke, die sich gelöst hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger. Da erfüllten erneut Beifallsrufe die Halle, und als er herumfuhr, sah er einen zufrieden grinsenden Ammâr, der beide Hände über seinen Turban erhob, sie wie der Sieger in einem Kamelrennen schüttelte und sich in der Halle umblickte.
»Das ist Ammâr, mein Herr«, flüsterte Daud. »Ich m… muss sehen, was er von mir will, sonst schöpft er Verdacht.«
»Geh nur, Daud«, nickte Thekla, »und mach dir um mich keine Sorgen. Du kannst nichts für mich tun. Gott wird mir helfen …«
»Wirklich?« Er betrachtete sie ein letztes Mal, und sie erschien ihm schöner als jede Frau, die er jemals gesehen hatte. Dann stand er auf, schlich die Wand entlang zurück zu den Männern und kauerte sich an seinen Platz. Bald darauf waren die zwei letzten Gewinner ermittelt, und nach kurzem Jubel senkte sich Stille über die Halle. Die fünf Kämpfer traten von einem Bein aufs andere und grinsten verlegen, bis schließlich der hagere Alte mit dem weißen Turban ungeduldig das Schweigen brach.
»Schafft sie endlich her, ich bin der erste.«
Zwei am Rande Sitzende sprangen auf, und wenig später führten sie Thekla heran. Dauds Herz raste, als er sah, mit welcher Gelassenheit die schöne junge Frau den Männern entgegentrat, die sie mit ihren Blicken auszuziehen schienen.
Der Mann mit dem weißen Turban streckte zögernd seine Hand nach ihr aus, doch Thekla lächelte ihn an und fragte so laut, dass alle im Saal sie verstehen konnten: »Was wäre Euch wichtiger – mein Körper oder Unverwundbarkeit im Glaubenskrieg?«
Die Männer sahen sich erstaunt an. Der Alte stockte, schob seinen Turban hoch und kratzte sich den Nacken, bevor er stirnrunzelnd entgegnete: »Was soll diese Frage? Was hat das miteinander zu tun?«
»Ich bin eure Gefangene und weiß, dass ihr mir Gewalt antun wollt. Aber ich könnte euch etwas bieten, das viel mehr wert ist, als eine kurze, geraubte Lust …«
»So, und was könnte das wohl sein?«, erkundigte sich der Alte zweifelnd mit schräg gelegtem Kopf.
»Ich besitze eine Salbe, die unverwundbar macht, wenn man sie mit den richtigen Zaubersprüchen aufträgt. Ich wäre bereit, euch zu verraten, wie man sie herstellt und wie der geheime Zauber lautet«, antwortete Thekla mit der Zuversicht einer Händlerin, die weiß, dass sie ein unwiderstehliches Angebot macht. »Euch allen hier.«
Der alte Mann lachte meckernd, stemmte die Hände in die Hüften und bog sich zurück, bis sein Turban verrutschte. Doch als er merkte, dass die anderen seine Heiterkeit nicht teilten, entgegnete er spöttisch: »Unverwundbarkeit? Ach nein … und was willst du dafür?«
»Nicht viel, jedenfalls nicht für einen so mächtigen Zauber.« Thekla sah sich um. »Nur dass mich niemand anrührt, denn ich habe das Gelübde der Keuschheit abgelegt, und dass ich morgen früh meine Pilgerfahrt zum Katharinenkloster am Mosesberg fortsetzen kann. Dem Berg, der auch euch Muslimen heilig ist.«
»Solche Märchen kannst du einfältigen Kindern ins Ohr blasen.« Der Alte schüttelte abwehrend den Kopf. »Du willst dich nur herauslügen, um deine Haut zu retten …«
»Und Ihr, Ammâr, der Ihr offenbar ein größerer Krieger seid als dieser alte Mann hier, glaubt Ihr auch, dass ich lüge?«, fragte Thekla mit leiser Trauer in der Stimme, während sie einen Schritt auf den dicken Mann zu machte und ihre gefesselten Hände auf den vergoldeten Knauf seines Schwertes legte.
Der Angesprochene zögerte, zuckte mit den Schultern. »Ich falle jedenfalls nicht auf solcherlei Sprüche herein.«
»Ihr sollt auch nicht daran glauben, nur weil ich es sage«, erwiderte Thekla und blickte ihm fest ins Gesicht. »Aber würdet Ihr mir glauben, wenn Ihr es mit eigenen Augen sehen könntet?«
»Dass die Salbe unverwundbar macht?« Ammâr schüttelte abwehrend den Kopf. »Das ist unmöglich.«
»Meint Ihr, für Allah sei irgendetwas unmöglich? Denn ohne ihn könnte mein Zauber nicht gelingen, da er doch zum Nutzen eures Glaubens wäre«, gab Thekla zurück und wandte sich ab. »Aber wenn Ihr nicht wollt …«
»Schluss mit dem Gerede«, rief der Alte dazwischen. »Was schert mich Unverwundbarkeit? Für mich war das der letzte Feldzug, ich werde nie wieder das Schwert erheben …«
»Na ja, und ob du sonst noch was hochkriegst, ist auch nicht sicher«, fertigte ihn Ammâr unter dem Gelächter der Umstehenden ab, um sich erneut der Frau zuzuwenden. »Du sagtest, du willst es uns beweisen – wie soll das geschehen?«
Jetzt herrschte atemlose Stille in der großen Halle; nur das Zirpen der Zikaden war zu hören. Thekla schien kurz zu überlegen, bevor sie antwortete. »Einer von euch, vielleicht der Mann mit dem weißen Turban, müsste sich niederknien. Ich würde ihm die Salbe auf den Nacken streichen, den Zauber sprechen, und dann …«, bei diesen Worten lächelte sie Ammâr an, »dann würdet Ihr mit dem Schwert zuschlagen, so fest Ihr könnt …«
»Sie ist toll geworden, die Nasranihexe«, kreischte der Alte und wich einen Schritt zurück. »Glaubt ihr etwa, ich setze mein Leben bei solcherlei Blendwerk aufs Spiel? Soll sie doch ihr eigenes Hälschen mit dem Scheitanszeug bestreichen …«
»Ist schon gut«, nickte Ammâr beruhigend in seine Richtung, bevor er sich der Frau zuwandte. »Auf so etwas fallen wir nicht herein …«
»Und wenn ich selbst niederkniete, wie er es vorgeschlagen hat?«, unterbrach ihn Thekla. »Würdet Ihr mir dann glauben?«
Erneut erstarb das Gemurmel der Männer in der Halle, während sich Ammâr am Nacken kratzte. »Wärst du wirklich dazu bereit, nur um die Kraft deines Zaubers zu beweisen?«
»Ja«, entgegnete Thekla. »Was könnte ich denn mehr tun, um euch zu überzeugen? Oder liegt euch wirklich so wenig an Unverwundbarkeit im Kampf?« Bei diesen Worten wandte sie sich den Männern im Raum zu, und plötzlich schallte ein Gewirr von Stimmen durch die Halle, während die Sitzenden aufsprangen.
»Ja, lass sie es zeigen …« – »Wir wollen den Zauber sehen …« – »Wenn Allah will, wird er uns unverwundbar machen!«
Ammâr strich sich über den Bart. »Nun gut, wenn du willst … Wo ist die Salbe?«
»In meinem Reisesack da hinten«, entgegnete Thekla, »in einem kleinen Bronzedöschen. Der Junge da kann sie holen.« Bei diesen Worten zeigte sie auf Daud, der sofort nach hinten lief, nach kurzem Suchen das Döschen fand und es Thekla reichte, nachdem er ihr mit zitternden Fingern die Fesseln gelöst hatte.
Für die Dauer eines Herzschlages standen sich beide gegenüber, und Daud sah das Glänzen in ihren Augen, eine triumphierende Zuversicht, wie er sie nie bei einer Frau für möglich gehalten hätte. Mit der Wucht eines Schlages wurde ihm klar, dass er sie liebte, dass er ihr morgen folgen musste – ganz gleich, was er Ammâr geschworen hatte. Noch vor Sonnenaufgang würde er sich aus dem Dorf schleichen und in Richtung des Weges laufen, der zum Mosesberg führte. Und sobald die Pilgergruppe in Sicht käme …
»Danke«, sagte Thekla in diesem Augenblick, nahm ihm die golden schimmernde Bronzedose aus der Hand, öffnete sie und beugte den Kopf nach vorne.
Daud trat hastig in den Kreis der Zuschauer zurück, die die Hälse reckten, während die junge Frau mit ruhigen, sorgfältigen Bewegungen die Salbe auf ihrem Genick verstrich, vom Haaransatz bis zum Beginn der Schulter, und dabei Unverständliches murmelte. Dann hob sie wieder den Kopf, ließ ihren Blick über die Männer im Raum schweifen und sank langsam auf die Knie. Im Raum war nur das Rascheln der Schritte zu hören, als die hinten Stehenden versuchten, sich nach vorne zu drängen, um einen Blick zu erhaschen. Thekla lächelte, bevor sie Ammâr ein Zeichen machte, zu ihr zu treten.
»Zieht Euer Schwert«, sagte sie leise und deutete auf seinen Gürtel, an dem der Griff der Waffe glänzte. Atemlose Stille herrschte im Raum, alle schienen wie versteinert: Der Alte mit dem weißen Turban, die drei anderen Männer, die ebenfalls gewonnen hatten, die kniende Frau in dem dunklen Umhang, der ihren Körper bis auf Kopf und Hände verhüllte, sowie Ammâr mit seinem breiten, von roten Flecken übersäten Gesicht, auf dem sich jetzt Hilflosigkeit spiegelte.
»Worauf wartet Ihr noch?«, hörte Daud Theklas sanfte Stimme. »Oder lähmt Euch die Furcht?«
»Mich?« Ammârs Stimme dröhnte durch den Raum, als er das Schwert aus der Scheide zog. »Wovor sollte ich mich fürchten …« Doch die Langsamkeit, mit der er die Waffe hob, strafte seine laute Selbstsicherheit Lügen. Als die Klinge in Höhe ihres gesenkten Hauptes angekommen war, räusperte er sich.
»Und du willst uns die Kraft deines Zaubers beweisen, damit wir dich unversehrt laufen lassen?«, fragte er abermals nach.
»Ja, das will ich.«
Der Mann hob das Schwert um eine weitere Armlänge.
»Und ich soll so fest zuschlagen, wie ein kämpfender Krieger zuschlagen würde?«
»Ja, das sollt Ihr.«
»Nun, wie du willst.« Ammâr hob die Waffe, bis die Hände über seinem Kopf waren, so dass er Thekla durch die gespreizten Arme sehen konnte.
»Ihr habt es alle gehört«, rief er in den Raum. »Wollt ihr …« Noch einmal sah sich Ammâr um, und auch Daud stellte sich auf die Zehenspitzen und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Alle starrten auf die Frau, über deren Kopf die erhobene Klinge schwebte – hagere Männer und beleibte, junge mit glatten Gesichtern und solche, deren Falten von Wüstensonne, Sandstürmen und zahllosen Kämpfen zu erzählen schienen, kahle Köpfe und turbanbedeckte Häupter. Alle hatten nur Augen für den feisten, stehenden Mann und die zarte Frau mit dem gesenkten Haupt. »Wollt ihr euer Recht an dieser Frau für den Zauber der Unverwundbarkeit eintauschen?«
»Ja, wir wollen …« – »Zeig es uns …« – »Lass sie es beweisen …« – »Schlag zu, schlag zu, schlag zu!«
Rings um Daud schien ein Meer von Stimmen zu brodeln. Nur er selbst schwieg zunächst, betrachtete die kniende Thekla und begriff plötzlich, was jetzt folgen musste, was sie von Anfang an bezweckt hatte, warum ihre Augen so triumphierend glänzten. Das war kein Handel, sondern ein Opfer, ihr Ausweg aus der Schande. Und so schrie er als einziger verzweifelt: »Nein, nein, nein …!«
Doch es war schon zu spät.
Ammârs Klinge schnellte empor, um dann wie ein Blitz niederzusausen. Man hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem hässlichen Laut, als ob etwas zerrissen würde, dann hatte das Schwert das Genick durchtrennt. Theklas Kopf flog zur Seite, während der Körper mit dem blutspritzenden Hals nach vorne fiel. Von der Wucht des Hiebes vorwärtsgerissen, stolperte Ammâr, ließ die Waffe fahren und starrte fassungslos auf den Körper, dessen Blut seine Sandalen rötete.
Daud würgte der Ekel, dass er meinte, ersticken zu müssen. Als er aufsprang, um zum Ausgang zu stürzen, hörte er die kreischende Stimme des Alten mit dem weißen Turban: »Du elender Sohn einer Hündin, du hast sie getötet, du von den Dschinn Besessener hast mir meine …« – dann kniete er draußen und übergab sich. Immer wieder packte ihn der Krampf, krümmte er sich zusammen und würgte, bis nur noch Speichelfäden aus seinem Munde rannen.
Als seine Sinne zurückkehrten, hob er den Kopf und blickte sich zitternd um, als sei dies alles ein böser Traum, aus dem er sogleich erwachen musste. Doch um ihn herum war alles völlig unbewegt, blieb die Natur gleichgültig gegenüber dem Schrecklichen, das soeben in der Halle vorgefallen war. Er sah den nachtschwarzen Himmel, an dem unzählige Sterne funkelten und über den die Schatten der Fledermäuse huschten. Die Zikaden zirpten, eines der in der Nähe lagernden Kamele schnaufte und aus dem nahen Monastir schallten wieder die dumpfen Klänge des Nakus herüber. Daud brauchte eine Weile, bis er genügend Kraft gesammelt hatte, und als er aufstand, war es Hass, kochender Hass, der ihn aufrecht hielt. Er zwang seinen Zügen einen gleichgültigen Ausdruck auf, während sein linkes Augenlid wie verrückt zuckte, betrat die Halle, sah den mit einem Tuch bedeckten Körper in deren Mitte liegen und spürte, wie ihm die Wut neue Kräfte verlieh.
***
Ammâr saß einsam und zusammengesunken an seinem Platz. Er sah kurz auf, als er Daud gewahrte, und deutete stumm auf seinen Becher. Nachdem der Junge nachgeschenkt hatte, ging er in eine Ecke, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und ließ seinen wirren Gedanken freien Lauf. Erst als er ein Summen hörte, schrak er auf und sah, wie eine Wespe, die nicht mehr rechtzeitig zu ihrem Nest zurückgefunden hatte, angeflogen kam und sich auf die Wand setzte. Geistesabwesend beobachtete er, wie das kleine Tier ein Stück die raue Fläche emporkletterte, Halt machte und seine Flügel surren ließ. Ein kleines, schwaches Wesen, aber dennoch fähig, große Schmerzen zuzufügen, dachte er zerstreut, und dann keimte in seinem Kopf ein Gedanke. Diese Wespe war heimatlos und gefangen wie er, und Allah hatte sie ihm als Werkzeug seiner Rache gesandt. Er sah sich auf dem Boden um, bis er ein Stück alten Stoffes fand, das er so zusammenknüllte, dass er sie mit einer flinken Bewegung damit gegen die Wand pressen konnte. Behutsam öffnete er die Falten und packte das kleine Tier an den Flügeln, die er bedächtig zwischen seinen Fingerspitzen zerrieb. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Befriedigt beobachtete er, wie sich der gelbschwarze Hinterleib wand, aus dessen spitzem Ende ein kleiner Stachel herausfuhr.
Noch nicht, dachte er, aber gleich kannst du stechen. Da, wo es richtig schmerzt. Nur etwas Geduld …
Er musste nicht lange warten, bis Ammâr wieder nach ihm rief. Die Augen des Mannes waren glasig, seine ausgestreckte Hand zitterte so stark, dass Daud ihn bat, den Becher auf den Boden zu stellen.
»Mir auch Wein!«, rief ein anderer Mann, und ein dritter schob ebenfalls fordernd seinen Becher herüber. Daud holte den kleinen Krug und goss allen dreien ein, wobei er sich so vorbeugte, dass niemand sehen konnte, wie er die Wespe in Ammârs Becher fallen ließ. Danach stand er auf und stellte den Krug zurück zu den großen Vorratsgefäßen, wobei er sich verstohlen umblickte.
Ammârs massiver Umriss verharrte regungslos, und Daud befürchtete schon, der Mann sei bereits zu betrunken oder zu müde. Doch dann sah er, wie der Arm ausgestreckt wurde, die Finger sich um das braune Tongefäß schlossen und es mit einer fahrigen Bewegung zum Mund führten.
»Du trinkst zu viel«, sagte einer der anderen Männer, »noch bist du nicht im Paradies!«
»Spar dir deine klugen Reden«, murrte Ammâr, doch ließ er den Becher wieder sinken und stierte ihn an. Daud durchfuhr es heiß und kalt. Ohne die surrenden Flügel würde die Wespe nicht zu hören sein, aber vielleicht zu sehen? Wie lange würde sie sich im Wein winden, bevor sie matt wurde und ertrank?
Wieder hob der dicke Mann den Becher, setzte ihn an die Lippen, und jetzt schluckte er schlürfend. Daud sah den Adamsapfel pulsieren, und einen Herzschlag später geschah es. Wie von einem glühenden Eisen berührt, schleuderte Ammârs Hand den Becher zu Boden und zuckte zum Unterkiefer, während seinem Mund ein gurgelnder Schrei entfuhr. Der Junge sah, wie der Mann etwas ausspuckte, wobei er fluchte und stöhnte, während die anderen beiden aufgesprungen waren und sich zu ihm herunterbeugten. Immer mehr Kämpfer liefen herbei, und auch Daud gesellte sich zu der Gruppe und fragte in besorgtem Ton.
»W… was ist ge… geschehen? Was hat er?«
»Etwas scheint ihn in die Zunge gestochen zu haben«, rief jemand in diesem Augenblick, und Daud musste alle Selbstbeherrschung aufbieten, um sich sein Triumphgefühl nicht anmerken zu lassen. Der Schmerz, den der verhasste Ammâr jetzt erlitt, war nur ein winziger Vorgeschmack, verglichen mit der Strafe, die er für seine Taten verdient hatte. Für den Mord an dem Kalifen, die Peitschenhiebe und den Tod Theklas. Eines Tages, dessen war sich Daud gewiss, würde er stark genug sein, ihn zum Kampf zu fordern und ihm sein Schwert in den Wanst zu rammen.
Doch dazu sollte es nie kommen.
»Holt einen Hakim«, gellte eine Stimme durch den Raum, »im Lager der anderen ist einer, schnell!« Daud sah, wie zwei Männer zum Ausgang rannten und in der Nacht verschwanden. Verwundert schüttelte er den Kopf. All das wegen eines Wespenstiches? Doch als er sich vorsichtig der Stelle näherte, wo Ammâr saß, erschrak er über die Veränderung, die mit dem pustelübersäten Gesicht vor sich gegangen war. Der Mund stand offen, pfeifend entwich der Atem, und Mundpartie wie Hals wirkten dick geschwollen. Daud drängte sich noch näher, sah, wie sich der ganze Körper in Zuckungen wand, wie der Mann sich an die Gurgel griff, während sein Gesicht blau anlief, und er mit fast unverständlicher Stimme röchelte. »Helft mir … ich ersticke …«
Die Umstehenden riefen wild durcheinander, aber niemand konnte sagen, wie zu helfen sei, während Ammârs Augen aus den Höhlen traten und er langsam zu Boden sank. Sein Mund schien Worte formen zu wollen, doch außer hilflosem Lallen drang kein Laut über die geschwollenen Lippen. Allmählich erstarben die zuckenden Bewegungen, bis der Mann zuletzt mit offenen Augen liegen blieb. Als wenig später der Arzt neben ihm kniete, konnte er nur noch den Tod feststellen.
»Das ist die Strafe Allahs«, hörte Daud einen Mann neben sich murmeln, und er nickte unwillkürlich, obwohl er an andere Untaten dachte als an den Weingenuss. Plötzlich überfiel ihn Erschöpfung, sein Kopf war leer, und er schlurfte zu seinem Nachtlager, wo er bald darauf einschlief.
***
Die folgenden Tage erlebte Daud wie durch einen Schleier. Am nächsten Morgen wurde Ammâr begraben, während man die gefangenen Nasrani freiließ und ihnen die Leiche Theklas übergab, die sie mit düsteren Mienen entgegennahmen, um sie in der Kirche des Dorfes aufzubahren.
Anschließend brach die Karawane auf. Schweigend ritten die Männer, bis sie am späten Nachmittag nach Fustat gelangten, dem großen Feldlager, das Amr Ibn-el As, der Eroberer Ägyptens, vor fünfzehn Jahren angelegt hatte, als er die benachbarte Rumfestung Babylon belagerte. Nach wie vor bildete es das Zentrum der Muslime in der eroberten Provinz, und um die große, überdachte Ziegelmoschee scharten sich Zelte und einfache Lehmziegelhäuser. Als die Männer die staubige Hauptstraße des Ortes entlangritten, wurden sie überall von Freudenrufen der Glaubenskämpfer begrüßt. Einer nach dem anderen verschwand in den Seitengassen, bis zuletzt nur noch Amr, einige seiner Männer und Daud übrig waren. Der Anführer rief den Jungen zu sich und musterte ihn.
»Es scheint, als habe es Allah beliebt, deiner Knechtschaft schneller als erwartet ein Ende zu setzen.« Daud nickte stumm und fragte sich, was der seltsame Tonfall bedeuten solle, doch Amr fuhr fort. »Halt dich weiter vom Wein fern und kehre mindestens ein Jahr lang nicht nach Medina zurück. Wenn du mir das schwörst, kannst du von mir aus gehen, wohin du willst …«
»Ich schwöre es«, antwortete Daud mit klarer Stimme, und diesmal war er sich gewiss, dass er nicht in Versuchung geraten würde, den Schwur zu brechen. »Ich möchte so gerne zum Meer …«
»Dann solltest du nach Alexandria gehen«, erwiderte der hagere, sonnengebräunte Mann und lächelte. »Dort suchen sie immer Männer, die auf der Flotte der Gläubigen dienen. Vor allem jetzt, da Uthman tot ist, der wenig von der Seefahrt hielt …« Amr zeigte zu den halbrunden Türmen und den mächtigen Mauern, die sich einige Hundert Schritte entfernt gegen den Abendhimmel erhoben. »Dort, bei der Festung Babylon, gibt es einen Hafen, von dem aus Schiffe nilabwärts gehen, nach Alexandria. Und jetzt lauf, bevor ich es mir anders überlege …«
So begann Dauds Zeit in Ägypten.
Die erste Nacht schlief er am Fuße der großen Mauer. Am folgenden Tag streifte er auf der Suche nach einer Anstellung durch die mächtige Rumfestung, in der sich jetzt die Nasranis der Umgebung niedergelassen hatten, doch fast niemand verstand ihn. Am Ende fand er eine Stelle als Schreiber bei einem Kaufmann, der jede Sprache der Welt zu radebrechen schien, und für den er arabische Briefe in sauber geschriebenem Kufi abfasste. Dabei ließ er keinen Augenblick ungenutzt, um Griechisch zu lernen, das alle Einheimischen höherer Stände benutzten. Abends ging er oft zur Westseite, wo zwischen zwei riesigen Rundtürmen der Flusshafen lag, genoss die letzten Sonnenstrahlen, sah den flachen Barken zu und erkundigte sich nach dem Preis einer Passage bis Alexandria. Sobald er genug Geld beisammen hatte, sagte er dem verdutzten Kaufmann Lebewohl und bestieg frohgemut das nächste Getreideschiff. Gemächlich trieben sie auf der breiten Wasserfläche entlang, die zu beiden Seiten von grünen Feldern und Dattelpalmen gesäumt wurde, und einer der Schiffer wies mit ausgestrecktem Arm auf seltsame, spitze Berge, die ein Stück westlich aufragten.
»Die Pyramiden«, erklärte er, als er den fragenden Ausdruck des Jungen bemerkte, »dort liegt auch der Vater des Schreckens, ein steinernes Ungeheuer mit Menschenkopf und Löwenkörper.«
Wenige Tage später erreichten sie den Ort Chaireou, wo die Ladung auf kleinere Kähne umgeladen wurde. Am nächsten Morgen fuhren sie auf einem links abgehenden Kanal weiter, bis sie am Nachmittag die sonnenbestrahlten Mauern Alexandrias, der weiß glänzenden Marmorstadt, aufragen sahen. Der Kanal durchquerte die Stadt, und Daud durfte noch ein Stück mitfahren, bis der Kahn den Getreidespeicher erreichte.
Mit einem Dankeswort sprang er an Land, mitten hinein in die Menschenmenge, und ließ sich treiben. Lastenträger und fliegende Händler, Barbiere am Straßenrand und fordernd ihre Schalen reckende Bettler, verhängte, von Sklaven getragene Sänften und hoch bepackte Maulesel, einladend winkende Mädchen in düsteren Seitengassen und laut hämmernde Kupferschmiede, Betrunkene an Schanktresen und stumm dahineilende, schwarz gewandete Mönche – in den sich rechtwinkelig kreuzenden Straßen der Riesenstadt mischte sich Volk aus aller Herren Länder. Hier wirbelten Sprachfetzen durcheinander, roch es abwechselnd nach Kümmel, Teer, Weihrauch, Eselsmist, Hammelbraten, Rosenwasser und toten Fischen.
Als Daud ein großes, palastartiges Gebäude mit dem Kreuzsymbol sah, spürte er einen Stich im Herzen, musste an Thekla denken und beschloss, herauszufinden, wo ihre Familie lebte. Doch der Angestellte des Metropoliten von Alexandria, in dessen Amtssitz er gelandet war, hörte Daud zwar aufmerksam zu und murmelte ein kurzes Gebet, als er vom Tod der jungen Nonne erfuhr, doch helfen konnte er auch nicht.
»In dieser Stadt leben über hunderttausend Menschen«, seufzte er. »Wenn du nicht mehr über die Familie weißt, kann ich nichts machen. Vor allem, da viele beim Eintritt ins Kloster einen neuen Namen annehmen.«
Daud nickte verstehend, bedankte sich, fragte nach dem Weg zum Westhafen und ging über den langen Damm bis zu der Insel Pharos, auf der sich ein dreistöckiger Leuchtturm erhob. Staunend reckte er den Hals vor dem Bauwerk aus weiß schimmerndem Marmor, auf dem bei Einbruch der Dämmerung ein hoch aufloderndes Feuer entzündet wurde. Er bewunderte die unzähligen Schiffe, deren Masten in der Dünung schwankten, lauschte dem Kreischen der Möwen und sog gierig den salzigen Geruch des Meeres in seine Lungen. Dann schlenderte er zurück, aß etwas in einer Hafenkneipe und suchte sich ein Bett im Schlafsaal einer billigen Absteige. Nachts träumte er davon, auf einem Schiff der muslimischen Kriegsflotte anzuheuern, um alles zu lernen, was man als Seefahrer wissen musste. Eines Tages würde er das Kommando eines schnellen Seglers übernehmen, die unendliche Weite auf der Jagd nach Beute durchqueren, ja, so reich und mächtig werden, dass man ihn zum Hofe des Kalifen rief. Einer wunderschönen Frau würde er begegnen, die Thekla ähnelte, und die für immer sein Lager teilen sollte. Und eines fernen Tages würde er die Flotte befehligen, die Konstantinija, die Hauptstadt der Ungläubigen, erobern würde …