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Karlson und Langström hatten Mühe Mike zu
folgen und holten ihn erst an der Tür zur Hütte ein. »Petra«, stieß
er entsetzt aus und ging in die Knie.
»Großer Gott«, murmelte auch Langström und presste sich eine Hand
vor den Mund. Karlson schien, trotz Petras halb abgeschnittenem
Kopf, die Nerven zu behalten, sagte etwas zu seinem Kollegen und
zog dann die Waffe. »Ist er da drin?« Langström war es sichtlich
unangenehm, Mike jetzt ansprechen zu müssen, aber sie konnten kein
Risiko eingehen.
Mike starrte erst in das leere Haus, schüttelte dann den Kopf und
sagte in gefährlich ruhigem Tonfall: »Ich glaube nicht! Er ist mit
meinem Sohn in den Wald und ich werde mir diesen feigen Bastard
jetzt holen!« Mit diesen Worten stieg er über die Leiche seiner
Frau, ging in die Küche und holte sich das größte Messer, welches
er finden konnte.
Als er das Haus wieder verlassen hatte, sprach Karlson gerade
letzte Anweisungen in ein kleines Handfunkgerät und steckte es
anschließend wieder an seinen Gürtel. Langström machte eine
abwehrende Geste in Richtung Mike. Doch dazu, ihm zu sagen, dass er
nicht mitgehen konnte, kam er nicht. Sein Vorgesetzter fiel ihm ins
Wort und nach einigen Sätzen übersetzte er für Mike: »Es ist nicht
gut, wenn Sie uns begleiten, aber leider brauchen wir Sie! Unsere
Kollegen können den Helikopter bei diesem Wetter nicht benutzen und
werden frühestens in einer Stunde hier sein. Sind die beiden den
Berg hinauf?«
Mike wäre unter keinen Umständen zurückgeblieben, aber so wurde ihm
wenigstens die Diskussion darüber erspart. Mit einem Nicken sagte
er: »Ja, sie sind den Berg hoch. Wo ist eigentlich Ihr
Auto?«
»Das mussten wir vorne an der Hauptstraße zurücklassen, da gleich
zwei Bäume quer lagen. Aber das Auto würde uns jetzt auch nichts
nützen, wir wissen, wo er Ihren Sohn hingebracht hat. Kommen Sie,
ich erzähle Ihnen alles Weitere, während wir gehen.« Mit diesen
Worten nickte er Karlson, der bereits eine kleine Landkarte
studierte, zu und die drei setzten sich in Bewegung.
Die Polizisten machten extra einen Bogen um die Stelle, an der
Katja lag, aber Mike musste hinübersehen und ihr Anblick trieb ihn
an, noch schneller zu laufen.
Die erste Zeit eilten sie schweigend nebeneinander her, dann begann
Langström keuchend zu erzählen: »Wir haben heute Nachmittag einen
Anruf Ihres Kollegen aus Nürnberg erhalten. Er und sein Kollege
Henrik Krone haben herausgefunden, wer hinter den Kindermorden
steckt.«
»Wer ist es?«, fragte Mike und glaubte nicht richtig zu hören, als
Langström ihm antwortete: »Es ist Noa Krone!«
»Krone?« Mike dachte, sich verhört zu haben.
Langström, der wusste, dass Mike den Namen kannte, nickte: »Sie
haben richtig gehört! Es ist der Bruder Ihres Kollegen Henrik Krone
und der Sohn des alten Björn Krone.«
Mike fiel die Geschichte der Deutschlehrerin ein. »Aber ich dachte,
dieser Noa ist als Kind tödlich verunglückt und wurde nie
gefunden.«
Langströms Tonfall wurde fast belehrend: »Sie als Polizist wissen
doch, wie oft sich Menschen absetzen, wenn sich ihnen die richtige
Gelegenheit bietet.«
Schweigend hetzten die drei weiter den Berg hinauf. Inzwischen
hatten sie den kleinen Bach erreicht, dem schon Felix vor ein paar
Tagen gefolgt war. Unsicher blickte sich Kommissar Karlson um und
zog dann erneut die kleine Skizze heraus.
Die kurze Pause nutzte sein Kollege, um Mike in knappen Worten den
Rest zu erzählen: »Soweit Ihre Kollegen herausgefunden haben, ging
Noa unter falschem Namen zur französischen Fremdenlegion, wo er als
Abhörspezialist ausgebildet wurde. Wann dann der Schalter in seinem
Hirn umsprang, wissen wir noch nicht. Auf jeden Fall war er immer
näher an seinem Bruder dran, als dieser ahnen konnte. Er wusste von
dessen Tätigkeit bei der Polizei und hatte sich wohl aus Henrik
Krones Wohnung unbemerkt die Zugangschipkarte für den
Polizeirechner kopiert. Auf diese Weise kannte er jeden Ihrer
Berichte und jeden Ihrer geplanten Schritte. Außerdem nutzte er den
Hauptrechner Ihrer Dienststelle, um Handys abzuhören und seine
eigenen Nachrichten zu anonymisieren. Die Ausbildung der
Fremdenlegion muss wirklich gut sein, denn er hat so gut wie keine
Spuren hinterlassen!«
Karlson unterbrach Langström und deutete gerade den Berg hinauf.
Mike hatte während Langströms Erzählung für wenige Augenblicke
ausgeblendet, was passiert war. Doch die Bilder waren sofort wieder
präsent. Ohne auf die Kommissare zu warten, sprang er in den
kleinen Bach und lief im Wasser weiter. Das Gewitter hatte sich
etwas verzogen, aber noch immer fielen schwere Regentropfen vom
Himmel und überlagerten Felix’ Schreie.
Mike musste sich das Messer unter den Gürtel stecken, um weiter
voranzukommen. Immer steiler zog sich der Hang nach oben und immer
öfter mussten sie kleine Wasserfälle überbrücken. Ein Blick auf die
Uhr zeigte Mike, dass seit dem Verschwinden seines Sohnes weitere
zwanzig Minuten vergangen waren, aber das Gelände ließ es nicht zu,
noch schneller zu laufen.
Nach einer weiteren Felskante drehte sich Mike um und stellte fest,
dass sie bereits auf halber Höhe des Berges waren. Vor ihm lag eine
Art Terrasse, in deren Mitte sich das Wasser etwas staute und ein
kleines Becken bildete. Als er sich auf seine Knie stützte, um
besser atmen zu können, fiel sein Blick auf einen kleinen blauen
Gegenstand, der neben dem Becken lag. Ohne auf seine Lungen zu
achten, lief er zu der Stelle und hob es auf.
»Was haben Sie?«, fragte Langström, der etwas zurückgefallen
war.
Mike hielt es ihm entgegen. »Es sieht aus wie der Verschluss einer
Tube.«
Karlson deutete Mike zu warten und sah auf die Karte, dann sagte er
etwas zu Langström. Dieser nickte und wandte sich an Mike: »Da
drüben …« ‒ er deutete quer zum Hang, wo sich kaum
sichtbar eine schmale Kante entlang einer Felswand dahinzog –
»… muss es eine Höhle geben. Sie bleiben jetzt bitte hinter
uns!« Dann zog er seine Waffe und folgte Karlson, der bereits ein
Stück vorangegangen war. Mike wäre am liebsten an den beiden
vorbeigestürmt, versuchte aber das Bild dieses Irren, der alleine
mit seinem Sohn war, zu unterdrücken und zog stattdessen das Messer
aus seinem Gürtel. Als Polizist hatte er es immer verurteilt, wenn
andere Selbstjustiz übten. Jetzt war er selbst soweit, und er
wusste, wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er diesen Noa
töten!
Vorsichtig, den Rücken an die Felswand gedrückt, schoben sich die
drei entlang der nassen und rutschigen Felskante, welche sich in
einem leichten Bogen um ein etwa zwanzig Meter hohes Felsmassiv
zog. Immer wieder mussten sie sich den Regen, der jetzt wieder
stärker geworden war, aus den Augen wischen, um überhaupt etwas
sehen zu können. Das Wasser lief in kleinen Sturzbächen die
Felswand hinunter und durchnässte auch die letzten noch trockenen
Stellen ihrer Kleidung. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war es,
schnellstmöglich Felix zu helfen. Auch wenn die beiden Kommissare
Katja und Petra gesehen hatten, nur Mike wusste, wozu dieser
Psychopath noch fähig war. Für ein paar Tage hatte er es fast
geschafft, seine Erlebnisse in dem verlassenen Versandhauskeller zu
verdrängen, aber jetzt war alles wieder da. Und das Schlimmste war
noch nicht einmal der Junge, den Peter versehentlich erschossen
hatte. Fast noch tiefer eingebrannt hatten sich die Bilder der
Folterbank mit dem Teddy darauf und die Wand mit den unendlich
vielen Haarteilen kleiner Jungs. Beides überstieg die eigene
Vorstellungskraft, und doch konstruierte der eigene Kopf weitere
Bilder, die abscheulicher nicht sein konnten.
Ein qualvoller Schrei, der aus höchstens zehn Metern Entfernung
gekommen war, holte Mike in die Realität zurück. Doch anstatt
schneller zu gehen, blieben die beiden Kommissare vor ihm stehen.
Mike missachtete jede Regel des Selbstschutzes und brüllte:
»Verdammt, das war Felix, lassen Sie mich vorbei!« Sie an dieser
Stelle zu überholen, war unmöglich, und da Karlson sich noch immer
nicht bewegte, hätte Mike die beiden am liebsten von der Kante
gestoßen.
Wieder kreischte Felix’ Stimme scheinbar aus dem Fels heraus und
die Wörter überschlugen sich vor Angst: »Neeeeiiiinnn, nicht,
auuuuaaa.« Mikes Magen verkrampfte sich.
Endlich kam auch in Karlson Bewegung. Er nickte Langström zu und
nahm die letzten Meter ohne jede Vorsicht.
Der Höhleneingang war mit einem Tarnnetz und Zweigen verdeckt und
davor wurde aus der Felskante eine kleine Terrasse, auf der sie
sich besser bewegen konnten. Karlson nahm die drei Schritte zu der
anderen Seite des Eingangs tief geduckt und drückte sich dort gegen
die Wand. Langström tat es ihm auf seiner Seite gleich und beide
hielten ihre Waffen im Anschlag. Mike wäre am liebsten sofort in
die Höhle gestürmt, doch der Profi in ihm hielt ihn in dem Wissen,
damit seinen Sohn zu gefährden, zurück.
Wieder drang Felix’ Stimme nach außen, doch dieses Mal sehr viel
leiser und von Tränen erstickt: »Auuaaa … das tut so weh.
Warum machen Sie das?« Dann hörten sie Noas ruhige und überzeugte
Stimme: »Sei nicht traurig; das muss leider sein.«. Und als würde
man einem Kind erklären, warum es in die Schule musste, redete er
weiter: »Weißt du Felix, deine Eltern haben dir eine Menge falscher
Gedanken und Hoffnungen in deinen Kopf gepflanzt und das alles ist
jetzt unter deinen Haaren gespeichert. Es gibt also keinen anderen
Weg, um diesen ganzen Müll zu entfernen.« Dann herrschte kurz Ruhe,
bevor Noa tröstend sagte: »Aber wir machen jetzt eine kurze Pause,
damit du dich erholen kannst und du wirst sehen, wie bewusst und
erleichternd dann die restliche Prozedur ist. Viele Jungs vor dir
haben das auch schon erleben dürfen, und jeder einzelne von ihnen
hat vor Freude geweint und geschrien.« Es folgte erst leises
Schluchzen, dann ein Ton, wie er bei dem Verschieben von Stühlen
entsteht, und schließlich herrschte Stille.
»Los jetzt!«, zischte Mike. Langström hatte zwar schon eine kleine
Taschenlampe aus dem Gürtel gezogen, zögerte aber noch. Die beiden
Kommissare nickten sich noch einmal zu, zogen das Tarnnetz etwas
zur Seite und schlüpften von beiden Seiten in die Höhle. Ungeachtet
dessen, dass Mike keine Pistole hatte, folgte er ihnen.
Hektisch flogen die Lichtpunkte ihrer beiden Lampen durch die
Höhle. Dank der schon einsetzenden Dämmerung brauchten die Augen
nicht lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und alle drei
waren sich fast augenblicklich sicher … hier war
niemand!
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Mike, dann fiel sein Blick auf den
kleinen Klapptisch in der Mitte des Gewölbes. Der Bildschirm des
Laptops war zwar schwarz, aber ein leises Summen zeigte an, dass er
lief. Karlson ging, immer noch die Waffe im Anschlag, tiefer in die
Höhle hinein, als sich plötzlich ein batteriebetriebener
Bewegungsmelder einschaltete und sein schwaches Licht verbreitete.
Und auch an dem kleinen Kästchen, das an dem Gerät hing, begann ein
LED-Lämpchen wie wild zu blinken. Jeder dachte zuerst an eine Bombe
und alle drei gingen reflexartig in die Hocke, doch dann ertönte
Noas Stimme aus einem kleinen Lautsprecher neben dem
Laptop.
»Ah, wie ich sehe, haben Sie es endlich geschafft! Angesichts
dessen, dass ich Ihren Sohn habe, hätte ich etwas mehr Tempo
erwartet, aber es passt zu Ihrem Egoismus, Herr Köstner.« Die
letzten Worte spie er fast aus, dann wurde er wieder ruhiger:
»Wären Sie bitte so freundlich und würden eine Taste auf dem Laptop
drücken … Danke!«
Zögernd ging Mike zu dem Gerät und auch die beiden Kommissare
traten hinter ihn. Sein Zeigefinger zitterte, als er auf eine Taste
drückte und damit dem Monitor Leben einhauchte.
»Das ist nicht wahr«, stöhnte Mike und sein Verstand war kurz davor
abzuschalten. Die Kamera zeigte das Wohnzimmer des
Ferienhauses.
Felix saß kompliziert gefesselt auf einem Stuhl in der Mitte des
Raumes und quer über seine Stirn zog sich ein feiner roter Strich,
aus dem in unregelmäßigen Abständen Blutstropfen herausliefen und
bereits sein rechtes Auge verklebt hatten. Das verbliebene linke
Auge war weit aufgerissen und starrte fassungslos auf seine Mutter,
die ihm, auf einen weiteren Stuhl gebunden, gegenübersaß. Noa hatte
es irgendwie geschafft, den haltlosen Kopf zu fixieren und die
beiden Augenlider mit Klebeband offen zu halten. Mit Katja hatte er
sich nicht so viel Mühe gegeben! Sie saß scheinbar teilnahmslos auf
dem Sofa und ihr bläulich blasses Gesicht sah aus, als wäre sie
eingeschlafen.
»So, ist die Familie jetzt vollzählig?«, fragte Noa, als würde es
um eine Geburtstagsansprache gehen. Dann stellte er mit einem Blick
in die Kamera fest: »Ich kann euch zwar nicht sehen, gehe aber
davon aus, dass ihr ein gutes Bild habt!«
Fassungslos drehte sich Mike vom Monitor weg und stieß einen
verzweifelten Schrei aus. Dieser Schrei riss Karlson und Langström
aus der perversen Faszination dessen, was gerade, nur ein paar
hundert Meter weiter unten am See, stattfand. »Los!«, schrie
Langström und stürzte zur Höhle hinaus. Mike und Karlson folgten
ihm. Ohne sich mit dem schmalen Grad aufzuhalten, rutschten sie
einfach den etwa fünf Meter schräg abfallenden Fels hinunter, und
landeten in einem Dornengestrüpp. Adrenalin und das Leben des
Jungen ließen sie die Schmerzen ausblenden, und ohne dass es einer
weiteren Absprache bedurft hätte, rannten sie erst bis zu dem Bach
und dann in dessen Wasserlauf weiter hinunter. Immer wieder glitten
ihre Schuhe auf den glatten Steinen aus, aber sie ignorierten ihre
aufgeschlagenen Knöchel und hetzten immer weiter. An der letzten
steilen Stelle erwischte es dann Karlson. Er verfehlte einen
kleinen Absatz, stürzte eineinhalb Meter hinunter und schlug mit
dem Bein auf einem spitzen Felsbrocken auf. Die anderen beiden
waren sofort bei ihm, aber ihr Versuch ihn in die Höhe zu ziehen,
scheiterte kläglich. Karlson wechselte ein paar schnelle Worte mit
Langström, und als dieser nickte, zog sein Vorgesetzter die
Dienstwaffe heraus und gab sie Mike.
Doch bevor Langström sich wieder in Bewegung setzte, sah er Mike
prüfend an: »Ich habe ihm versprochen, dass Sie sie nur im Notfall
einsetzen!«
Mike deutete ein Nicken an, drehte sich dann um und rannte weiter.
Endlich erreichten sie die Zufahrtsstraße unweit der Stelle, an der
man den toten Sjören gefunden hatte.
Trotz seines erbärmlichen Seitenstechens konnte Mike seine
Geschwindigkeit noch steigern und spurtete, ohne auf Deckung zu
achten, über die offene Wiese. Langström war zwar etwas
zurückgefallen, schaffte es aber Anschluss zu halten.
Endlich hatte Mike die Hütte vor sich, trat ohne jedes Zögern die
Eingangstür auf und stürmte in das viel zu stille Wohnzimmer.
Wieder zeigte sich seine Erfahrung als Polizist. Er versuchte
keines der Opfer anzusehen und drehte sich stattdessen mit der
vorgespannten Waffe in alle Richtungen. Inzwischen war auch
Langström angekommen und tat es ihm gleich. Erst als sie jede Tür
aufgestoßen und alle Ecken kontrolliert hatten, eilte Mike zu
seinem Sohn und kniete sich vor ihm nieder.
Das blasse Gesicht war jetzt blutüberströmt und noch immer sickerte
mehr davon aus dem rohen Fleisch, wo eigentlich seine Kopfhaut
hätte sein sollen.
Langström musste zunächst den Kopf abwenden, riss sich dann aber
zusammen und zog sein Messer heraus, um den Jungen loszuschneiden.
Er umrundete den Stuhl und raunte verzweifelt: »Scheiße.«
Noa war auf Nummer Sicher gegangen und hatte Felix auch noch die
Pulsadern geöffnet.
Mikes Hände wollten das Gesicht seines kleinen Sohnes trösten,
wussten aber nicht, wo sie ihn berühren durften. Felix Augenlider
zuckten erst ein wenig, schafften es dann aber gegen das
verkrustete Blut anzukommen. Sein Blick war unendlich weit entfernt
und doch schien er seinen Vater zu erkennen. Ohne einen Ton zu
sagen, formten seine blassen Lippen ein erleichtertes »Papa!«, dann
senkte sich sein Kopf zur Seite und der Blutstrom an seinen
Handgelenken versiegte.
Für Mikes Bewusstsein war Felix das letzte Bindeglied zwischen
Realität und Abgrund gewesen. Taumelnd schlang er die Arme um
seinen Sohn und riss ihn mit sich auf den Boden. Die zerteilten
Fesseln fielen stumm in einen See aus Blut und saugten es auf, als
könnten sie es auf diese Weise für Felix erhalten. Die bitteren
Tränen seines Vaters tropften in die offene Wunde auf seinem Kopf,
aber das spielte keine Rolle mehr. Das Leben des Jungen war
versiegt und genau dies wurde Mike in diesem Augenblick bewusst.
Sanft legte er den schlaffen Körper seines Sohnes auf den Boden und
stand auf. Petra, Katja, Felix … Der Tod war in diesen Raum
gekommen und hatte ihm alles genommen.
Sein Blick fiel durch die große Glasscheibe und blieb im Garten
hängen. Keine fünfzig Meter entfernt stand der Tod und lächelte ihn
an.
Ohne Langström etwas zu sagen, lief Mike mit energischen Schritten
zu der Terrassentür und riss diese zur Seite. Das Schiebeelement
raste bis zu seinem Anschlag und schlug dort regelrecht ein. Mit
einem lauten Schlag platzte die große Scheibe und tausende Scherben
fielen zu Boden.
Mike nahm dies alles nicht mehr wahr. Er trat hinaus, hob die Waffe
und legte auf Noa an. Aber Noa war nicht alleine! Leicht versetzt
zwischen ihm und Mike, stand der alte Björn und hatte ein
Jagdgewehr auf seinen Sohn gerichtet.
»Uhu … so viele verbitterte Väter auf einmal«, höhnte Noa laut
genug, dass auch Mike es hören konnte.
Der alte Björn hatte es kommen sehen. Einen kurzen Augenblick,
bevor Mike abdrückte, machte er die Lücke zu.
Als hätte der Alte einen Tritt in den Rücken bekommen, taumelte er
auf seinen Sohn zu, schaffte es aber auf den Beinen zu bleiben und
sogar noch zwei weitere Schritte auf Noa zuzugehen.
Einige Sekunden lang sah er ihm einfach in Augen, bis er sich
schließlich zu Mike umdrehte und auf Deutsch rief: »Das ist mein
Blut! Das ist meine Schuld!« Dann hob er das Gewehr falsch herum
vor sein Gesicht und drückte ab.
Das großkalibrige Geschoss zerfetzte beiden gleichzeitig den
Schädel. Und auch wenn Mike es selbst erledigen wollte, fühlte sich
dieses Ende richtig an. Er ließ die Waffe fallen und sank neben ihr
auf den Boden, wo er regungslos, die Beine dicht an den Körper
gezogen, sitzen blieb.
Langström steckte sein Funkgerät weg, ging neben Mike in die Hocke
und sagte leise: »Es wird gleich Hilfe hier sein.« Während er die
Worte sprach, nahm er die Waffe seines Vorgesetzten und steckte sie
unter seinen Gürtel.
Irgendwann kamen zwei Sanitäter und griffen Mike unter die Arme.
Aber er stand von alleine auf und ging mit ihnen zu dem
Krankenwagen. Man gab ihm irgendwelche Spritzen, dann verschwamm
die Welt um ihn herum und ein traumloser Schlaf gönnte seiner Seele
eine Pause.