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Als sie vom See zurückkamen, betrat Felix als
Letzter das Haus, sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass die Tür
zu Katjas Zimmer nun wieder geschlossen war.
»Kann ich noch duschen?«, fragte Katja, worauf Mike nickte. »Klar,
lass dir Zeit. Wir haben ja schließlich Urlaub!« Er selbst ging ins
Schlafzimmer, zog sich um und suchte nach seinem Handy. Als er es
nirgends finden konnte, rief er in den Wohnraum hinüber: »Felix,
warst du an meinem Handy?«
»Nein, warum?«, antwortete Felix und steckte dabei den Kopf in das
Schlafzimmer. »Weil ich es nicht finden kann! Ich bin sicher, dass
es auf meinem Nachtkästchen lag!«
Felix runzelte die Stirn: »Stimmt! Ich erinnere mich. Als ich
vorhin eure Zigaretten geholt habe, lag es auch noch dort.« Sein
Vater sah ihn mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte und
dann erinnerte er sich an das komische Gefühl, als er alleine in
dem Haus war. Vorsichtig fragte er: »Glaubst du, es war jemand
hier?« Mike, dem dieser Gedanke auch schon gekommen war, wollte
seinen Jungen nicht verängstigen: »Ach Quatsch, dann hätten wir
doch ein Auto gehört und außerdem, was sollte jemand hier wollen?«
Dann verfiel er ins Scherzhafte: »Du kannst aber mal nachschauen,
ob ein paar deiner alten und selten gewechselten Socken
fehlen.«
»Ich wechsle immer meine Socken!«, stieg Felix darauf ein. »Immer
seltener«, stichelte Mike weiter. Felix wollte gerade protestieren,
als Petra in das Zimmer kam und mit der Hand, in der sie das Handy
hielt, wedelte: »Suchst du das hier?«
»Wo war es?«, fragte Mike ein wenig beruhigter. »Na drüben auf der
Küchenplatte.«
»Hast du es dort hingelegt?« Mikes Tonfall war jetzt fast
beschuldigend und Felix zog es vor, sich in sein Zimmer
zurückzuziehen.
»Wird das ein Verhör?«, beschwerte sich Petra, fuhr dann aber fort:
»Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber möglicherweise habe
ich es beim Aufräumen mitgenommen.«
Mike erwiderte nichts mehr, sondern nahm das Gerät in Empfang und
drückte den Knopf, der den Standby-Modus beendete. Für einen kurzen
Augenblick leuchtete das Hauptmenü auf dem Display auf, dann ging
nichts mehr.
»Verflucht!«
»Was ist?« Petra sah ihren Mann kritisch an.
»Irgendjemand hat doch an dem Ding herumgespielt, es hat sich
aufgehängt!«, schimpfte Mike und blickte zu der Wand, hinter der
das Zimmer seines Sohnes lag.
»Ich frage ihn nochmal!« Petra wusste, dass ihr Mann bei solchen
Angelegenheiten gerne einmal unangemessen laut wurde. Mike nahm
leise schimpfend den Akku aus dem Handy und Petra verschwand in
Felix’ Zimmer.
Fünf Minuten später kam Petra zurück und setzte sich neben ihrem
Mann auf das Bett. »Er war nicht an deinem Handy, dazu hatte er
viel zu viel Angst!«
»Angst vor mir?«, fragte Mike etwas empört.
»Nein, er hatte Angst alleine im Haus zu sein! Er kann es nicht
erklären, aber er beschrieb es mit der Angst, die einen manchmal in
einem dunklen Keller überkommt.«
»Jaja, sonst die große Klappe, aber am helllichten Tag Angst
haben«, lachte Mike und sah zufrieden dabei zu, wie sein Handy ohne
Probleme wieder startete. Dann wechselte er das Thema: »Wollen wir
dann langsam los?«
Petra gab ihm einen Kuss auf die Wange, stand auf und zog ihr
Strandkleid aus, was Mike zu einem leisen Pfiff inspirierte. »Denk
gar nicht daran!«, sagte Petra lachend und streifte sich schnell
eine dünne Bluse über.
Es wurde fast 13 Uhr, bis alle fertig waren und im Auto saßen.
Dann fuhren sie langsam über den Schotterweg, der erst durch die
große Wiese führte, um anschließend von einem dunklen Waldstück
verschluckt zu werden. Jedenfalls sah es für Felix so aus, als die
gleißende Mittagssonne schlagartig von den dicht stehenden Bäumen
abgehalten wurde und man im ersten Moment fast nichts mehr sah.
Auch Mike ging es nicht besser und seine Hand ging automatisiert
zum Lichtschalter am Armaturenbrett. Da sich seine Augen aber
schnell an das fehlende Licht gewöhnt hatten und er wusste, dass
die Straße schon nach wenigen hunderten Metern an den See stoßen
würde, ließ er das Licht aus.
»Was wollen …«, weiter kam Petra nicht. Mike war voll auf die
Bremse gestiegen und alle vier wurden in ihren Sicherheitsgurt
gedrückt. Keine fünf Meter vor ihnen stand eine ausgewachsene
Elchkuh und starrte sie mit ihren dümmlichen Augen an.
»Hat jemand einen Fotoapparat dabei?«, fragte Mike, nachdem sich
der erste Schock gelegt hatte, doch Petra verneinte.
»Nimm doch dein Handy!«, schlug Katja vor.
Mike zog es aus der Hosentasche, ließ das Fenster herunter und
schoss ein paar Fotos. Dann startete er den durch die Vollbremsung
abgestorbenen Motor und das mächtige Tier verschwand zwischen den
Bäumen. »Wow!«, stieß Mike aus: »Im Zoo sehen Elche irgendwie
kleiner aus!«
»Sind die gefährlich?«, fragte Felix, worauf sein Vater den Kopf
schüttelte: »Nein, überhaupt nicht! Normalerweise hauen Elche
sofort ab, wenn sie Menschen wittern. Diesen hier haben wir wohl
überrascht. Vermutlich ist das Haus nicht das ganze Jahr vermietet
und die Tiere haben hier sonst ihre Ruhe.«
Noch langsamer als zuvor setzten sie die Fahrt fort und kamen
schließlich ohne weitere Zwischenfälle am kleinen Hafen von Tonstad
an.
»Und jetzt?«, fragte Petra.
Mike zog erneut das Handy heraus und stellte erfreut fest, dass die
Netzanzeige vollen Empfang anzeigte. »Ich möchte erst einmal Peter
anrufen! Wollt ihr in der Zwischenzeit etwas anderes
machen?«
»Lass uns doch ein bisschen in den Läden stöbern«, schlug Katja
ihrer Mutter vor, wofür sie von Felix einen abwertenden Blick
erntete.
»Gute Idee!«, fand Petra und öffnete ihre Tür.
»Kann ich dann solange zum Hafen?«, fragte Felix, der nichts mehr
hasste, als sinnlos in Geschäften herumzustehen.
»Na klar!«, antwortete Mike und bestimmte: »Dann würde ich sagen,
wir treffen uns später alle unten bei den Booten wieder!«
Die Familie trennte sich, wobei Mike im Auto sitzen blieb, sich
eine Zigarette anzündete und die Nummer seines Partners in den
Kontakten seines Handys suchte. Dann drückte er auf ANRUFEN und kurz darauf begann das Freizeichen zu
tuten.
»Hallo, Mike!«, ertönte Peters erstaunlich gut gelaunte Stimme aus
der Freisprechanlage des Autos.
»Hallo, Peter! Was haben sie denn mit dir gemacht, bist du auf
Drogen?«
»Nein, warum?«
»Weil du am Freitag noch am Boden lagst und jetzt so klingst, als
hättest du einen Lottogewinn gemacht«, antwortete Mike mit
erleichterter Stimme, da er seinen Partner in einem anderen Zustand
erwartet hatte, und trotzdem fragte er: »Wie geht es dir denn
inzwischen?«
Peter wusste natürlich, worauf sein Freund
hinaus wollte. »Es ist sicher nicht weg, aber die Bilder werden
blasser.« Dann konnte er nicht länger an sich halten: »Und es gibt
sehr gute Nachrichten!«
Es folgte ein kurzes Schweigen in der Leitung, bis ihn Mike fast
anfuhr: »Na rede endlich!«
»Sie haben ihn!«, platzte Peter heraus.
»So schnell? Glaube ich nicht!«, reagierte Mike zurückhaltend. Es
konnte nicht sein, dass seine SOKO zwei Jahre lang einem Phantom
hinterherjagte und die von Interpol nur ein paar Tage
brauchten.
»Kannst du aber glauben! Offensichtlich hat man aufgrund des
Pressedrucks fast die gesamte Internetabteilung von Interpol auf
die E-Mail, wegen der wir beim Lagerhaus waren, angesetzt. So genau
habe ich es auch nicht verstanden, aber wie es aussieht, hat unser
Henrik etwas übersehen. Auf jeden Fall konnten sie den Weg der
E-Mail zurückverfolgen und du wirst nicht glauben, wo diese
geschrieben wurde. Dieser Arsch saß ungefähr fünfzig Meter neben
dem Lagerhaus in einer Einzimmerwohnung, und hat uns wahrscheinlich
schon beobachtet, als wir noch im Auto warteten.«
»Haben sie ihn schon verhört?«, warf Mike ein, worauf einige
Sekunden Ruhe in der Leitung war.
»Also hier im Protokoll steht …«, wollte Peter gerade
ansetzen, als ihm sein Partner ein weiteres Mal ins Wort fiel:
»Protokoll? Wo bist du denn? Ich dachte, du sitzt zu Hause und
erholst dich!«
Peter lachte: »Nein, ich bin in unserem Büro, aber das erzähle ich
dir später. Also Folgendes … Hier im Protokoll steht, dass
sich das SEK von Samstag auf Sonntagnacht Zutritt zu dieser Wohnung
verschafft hatte, aber auf keinerlei Gegenwehr gestoßen
war.«
Mike runzelte die Stirn: »Und das bei einem
Serienkiller?«
»Lässt du mich jetzt vielleicht einmal ausreden?«, beschwerte sich
Peter am anderen Ende der Leitung- »Finzer, so hieß der Kerl,
konnte sich nicht mehr wehren! Er hatte wohl vergessen, dass sein
Notebook noch am Strom hing, und ist damit in die Badewanne
gestiegen.«
Nun schwieg Mike eine Weile. Eigentlich hätte er sich freuen
sollen, aber irgendetwas sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Daher
entgegnete er matt: »Und die sind sich sicher, dass sie den
Richtigen haben? Ich meine, der Typ läuft seit Jahren unbehelligt
durch die Gegend und schnappt sich fast nach Belieben kleine Jungs.
Er hat sich in diesem Keller völlig unbemerkt eingerichtet, seine
ganz persönliche Freakshow, mit allen nur denkbaren technischen
Spielereien, und steigt dann mit seinem am Strom hängenden Notebook
in die Badewanne und röstet sich selbst? Wie glaubwürdig klingt
das?«
»Das habe ich ja auch erst gedacht«, gab Peter zu, »aber die
Beweise sind eindeutig! Man hat DNA im Keller gefunden, außerdem
konnte man auf dem Notebook kleine Filmsequenzen wiederherstellen,
bei denen offensichtlich selbst den Jungs von Interpol ziemlich
schlecht geworden ist. Es stimmt einfach alles!«
»Und genau das ist es, was mich nachdenklich macht!«, stellte Mike
fest, fuhr dann aber fort: »Aber gut, es wäre ja schön, wenn es
dieses Monster erwischt hätte. Und sollte nach einem halben Jahr
nichts mehr passiert sein, glaube auch ich daran!«
»Du bist ein Schwarzseher!«, warf Peter ein. Doch Mike widersprach
umgehend: »Nein! Ich habe nur schon zu viel gesehen!« Dann fummelte
er sich eine weitere Zigarette aus der Packung und fragte: »Aber
jetzt erzähle, warum bist du im Büro? Du willst mir doch nicht
erzählen, dass dich Karl schon wieder arbeiten lässt.«
Peter räusperte sich und Mike glaubte, ein Grinsen hören zu können:
»Kannst du dich an die Stationsärztin im Krankenhaus erinnern?«
Mike dachte kurz nach, dann fiel es ihm wieder ein: »Meinst du die
leicht untersetzte, mit dem hübschen Gesicht? Die, die mich
rausgeworfen hat, als sie dir einen neuen Tropf angelegt
hat?«
»Ja genau! Susanne!« Nun musste auch Mike grinsen, da er sich
bereits vorstellen konnte, was jetzt kam. »Aber die war doch
höchstens Ende zwanzig«, warf er ein.
»Nicht ganz! Sie ist Mitte dreißig und hat am Samstag ein paar
Überstunden gemacht, um einen traumatisierten Patienten intensiv zu
betreuen.«
»Du hast doch nicht im Krankenhaus …«
Peter lachte: »Nein, aber wir sehen uns heute Abend wieder. Und
weil Susanne mich ebenfalls so schnell wie möglich in freier
Wildbahn treffen wollte, hat sie mir schon gestern einen
1-a-Entlassungsbericht geschrieben. Karl wollte natürlich, dass ich
noch einige Tage zu Hause bleibe, aber was soll ich da? Also habe
ich ihm das Schreiben von Susanne unter die Nase gehalten, das mir
Diensttauglichkeit bescheinigt. Dank dieses Schreibens und dem
toten Irren kann ich jetzt zumindest am Schreibtisch arbeiten. Karl
hat sich zwar wie ein Aal gewunden, mir dann aber wenigstens
Telefondienst zugestanden. Also nehme ich in den nächsten zwei
Wochen die Anrufe über Ufosichtungen und
Nachbarschaftsstreitigkeiten entgegen.«
Auch Mike konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: »Was aber sicher
kein Problem ist, weil du sowieso nur an deine Ärztin
denkst!«
»Stimmt«, rutschte es seinem Partner heraus und jetzt lachten
beide.
Nachdem sie sich noch eine Weile über Banalitäten unterhalten
hatten und das Gespräch zum Ende kam, konnte es sich Mike nicht
verkneifen, seinen Partner noch einmal zu ermahnen, vorsichtig zu
sein. Es war nur ein Gefühl, aber er hielt den Fall noch lange
nicht für abgeschlossen.
»O. k., dann lass uns mal Schluss machen, meine Familie wartet
bestimmt schon. Obwohl, meine beiden Frauen sind gerade shoppen, es
kann also dunkel werden, bis die wiederkommen.« Wieder lachten
beide und Peter scherzte: »Ich hoffe, du hast den Kreditrahmen
deiner VISA Card eingeschränkt.«
»Habe ich! Ach, weil es mir gerade einfällt. Wir haben in unserem
Haus keinen Handyempfang, schreibe mir eine SMS, falls du mich
erreichen möchtest. Ich rufe dich dann zurück, wenn wir mal wieder
unterwegs sind!«
»Alles klar! Macht euch einen schönen Urlaub und grüß deine Familie
von mir!«, erwiderte Peter.
»Und dir viel Spaß bei deinen Doktorspielchen«, war das Letzte, was
Mike sagte, dann legte er auf und fast im gleichen Augenblick
erschienen drei kleine Symbole am oberen Rand seines Smart-phones.
Er zog die Anzeige nach unten und stellte fest, dass das Gerät
einige Updates durchführen wollte, die er auch bestätigte. Dann
steckte er es in seine Gürteltasche und blieb noch einige Minuten
im Wagen sitzen, um über das Gespräch nachzudenken. Sollte die
Sache wirklich so zu Ende gegangen sein? Im Grunde hätten sie dann
überhaupt nichts erreicht. Ganz im Gegenteil, selbst der Junge, den
Peter erschossen hatte, wäre völlig umsonst gestorben. Aber hätte
der Täter ihn am Leben gelassen? Sicher nicht, und das einzig
Tröstliche war, dass Peter ihm vermutlich einige Qualen erspart
hatte. Die Bilder in Mikes Kopf waren blass, aber nie verschwunden!
Ein Umstand, den sein Beruf mit dem eines Rettungssanitäters oder
Feuerwehrmannes gemein hatte. Man konnte nicht lernen, mit dem, was
man sah, umzugehen. Entweder man konnte es oder eben nicht. Und im
Augenblick hatte er alle Opfer wieder glasklar vor seinem inneren
Auge. Dieser Psychopath hatte nichts ausgelassen! Jeder der Jungen
wurde zweifelsfrei über einen langen Zeitraum gequält, wurde viel
zu fest gefesselt, wurde geschlagen, und wenn man den letzten
Ausdruck in ihren toten Gesichtern richtig deutete, flehten sie am
Ende den Tod herbei. Ebenfalls sicher war, dass ausnahmslos jedem
die Kopfhaut noch im lebenden Zustand abgezogen wurde und niemand,
nicht einmal die Profiler, hatte eine Antwort darauf, warum der
Täter dies machte.
Mike zündete sich die dritte Zigarette an, stieg aus dem Auto und
schlug ganz bewusst eine falsche Richtung ein. Er musste erst noch
ein paar Meter laufen, um den Kopf wieder freizubekommen. Petra
hatte, auch wenn sie es nie zeigte, schon genug unter seinen
beruflichen Problemen gelitten und es war seine Pflicht, die Arbeit
wenigstens im Urlaub von ihr fernzuhalten.
»Und, wart ihr erfolgreich?«, fragte er seine Frauen schon von
Weitem, erntete aber nur einen bösen Blick von seiner Tochter.
»Hier gibt es überhaupt nichts! Ich frage mich, wie es die Leute
hier schaffen, überhaupt Klamotten am Leib zu haben?«, nörgelte
Katja, was Mike zum Lachen brachte: »So schlimm wird es schon nicht
sein!«
»Doch, ist es!«, bestätigte Petra, und forderte dann mit einem
verschmitzten Lächeln: »Du wirst nicht drum herumkommen, mit uns in
eine größere Stadt zu fahren!«
»Heute?«, fragte Mike mit erschrockenem Gesichtsausdruck, was
diesmal seine Frau zum Lachen brachte. Ohne weiter darauf
einzugehen, fragte Petra: »Und was machen wir jetzt?«
»An dem Strand, wo ich gestern mit Sjören war, ist eine Art
Strandcafé. Wollen wir da mal hinschauen?« Katja hatte schon vorher
gehofft, irgendwie in die Nähe der Badebucht zu kommen und packte
die Gelegenheit beim Schopf.
Das Ehepaar warf sich einen wissenden Blick zu und ging dann auf
den Vorschlag ihrer Tochter ein. Nachdem sie Felix von den Anglern,
die in der kleinen Hafenanlage verteilt standen, weggezerrt hatten,
gingen sie zurück zum Auto und Katja lotste ihren Vater zu dem
Abzweig am anderen Ende des Ortes.
Die kleine Bar schien eine Art Geheimtipp zu sein, denn wieder
Erwarten standen bereits fünf weitere Autos und einige Zweiräder
auf dem provisorischen Parkplatz. Ohne den Ausblick auf die
sattgrünen Wälder Finnlands hätte man fast den Eindruck haben
können, irgendwo im Süden zu sein. Von dem hauptsächlich jungen
Publikum saßen einige ziemlich cool wirkende Jungs und Mädchen mit
halb geöffneten Surfanzügen lässig auf den
Plastikstühlen.
Familie Köstner ließ die erste Musterung über sich ergehen und nahm
dann an einem der freien Tische Platz.
»Was darf ich bringen?«, fragte, nur Sekunden später, eine junge
Frau in bunten Hippieklamotten.
»Oh, Sie sprechen Deutsch!«, stellte Mike erstaunt fest.
»Das sollte man, wenn man aus München kommt!«, lautete die Antwort
ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Dann wartete sie geduldig, bis
ihre Gäste die übersichtliche Karte studiert hatten.
Nachdem Mike seine Tochter, die mit ihren Augen den Strand
abzutasten schien, zum dritten Mal angesprochen hatte, ohne dass
diese reagierte, bestellte er ihr einfach eine Cola mit.
Die Getränke wurden gebracht, doch an Katjas Zustand hatte sich
nichts geändert.
»Hast du keine Handynummer?«, fragte Petra, von dem Verhalten ihrer
Tochter schon etwas genervt.
»Was?« Katja schien aus einer anderen Welt zu kommen. »Ob du keine
Handynummer von Sjören hast, habe ich gefragt.«
»Nein! Da wir am Haus sowieso keinen Empfang haben, bin ich gar
nicht auf die Idee gekommen«, antwortete Katja knapp und wendete
den Blick wieder in Richtung Strand.
Mike machte eine Grimasse, die in etwa Scheiß-Pubertät! heißen sollte, und entlockte
seiner Frau damit ein Lächeln. Alle, außer Katja, genossen die
besondere Atmosphäre dieses Ortes und Mike schaffte es seit Langem,
sich richtig zu entspannen. Nach einem kleinen Imbiss und einer
weiteren Runde Cola hob er seine Hand, um der Kellnerin anzuzeigen,
dass er zahlen wollte. Im gleichen Moment hellten sich Katjas
Gesichtszüge auf: »Da ist ja Hanna!«
»Wer ist da?«, fragte Mike mit Unverständnis.
»Hanna«, wiederholte Katja. »Ich habe sie gestern kennen gelernt.
Sie gehört zu der Clique von Sjören. Darf ich kurz
hingehen?«
»Geh ruhig, wir wollen jetzt eh noch etwas am Strand spazieren
gehen«, schaltete sich Petra ein, worauf Katja fast aufsprang.
»Aber bleib hier in der Nähe, bis wir wieder zurück sind!«, konnte
Petra ihrer Tochter gerade noch hinterherrufen, dann war sie auch
schon außer Hörweite.
Katja wusste, dass Hanna kaum Deutsch und nur wenige Worte Englisch
sprechen konnte, aber irgendwie würde sie schon herausbekommen, ob
Sjören heute noch hierher kommen würde.
»Hallo!«, begrüßte sie die junge Finnin, noch bevor sie ganz vor
ihr stand. Hanna saß auf einer Badematte und schaute nicht wie die
anderen Strandgäste in Richtung See, sondern hinauf zum Parkplatz.
Erst als Katja direkt vor ihr stand und ihr damit die Sonne nahm,
blickte sie von ihrem Handy auf. »Hallo!«, erwiderte sie, mit einem
Gesichtsausdruck, als hätte sie Katja noch nie gesehen. Katja ließ
sich nicht verunsichern und fragte sie auf Englisch, ob sie sich
nicht an sie erinnerte und dass sie doch gestern mit Sjören hier
gewesen war.
Hannas Blick verdunkelte sich. Dann suchte sie kurz nach den
richtigen Worten, was ihr Englisch aber auch nicht besser machte.
Irgendwie machte das Mädchen einen dümmlichen Eindruck auf Katja
und so, wie sie die wild durcheinander geworfenen Worte verstand,
wusste Hanna nicht, ob Sjören noch kommen würde.
Katja gab auf, murmelte ein kurzes »Bye« und sah sich unschlüssig
um. Ihre Eltern verschwanden gerade hinter einer weit entfernten
Baumgruppe, die dicht am Strand stand. Um diese noch einzuholen,
hätte sie rennen müssen, worauf sie bei der Wärme keine Lust hatte.
Also blieb ihr nur, sich an die Bar oder an den Strand zu setzten.
Da sie noch etwas Geld eingesteckt hatte, wählte sie die schattige
Bar.
»Du siehst aus, als würdest du auf jemanden warten!«, begrüßte sie
die Bedienung ein zweites Mal und lächelte sie dabei freundlich
an.
»Stimmt!«, erwiderte Katja und ein neuer Hoffnungsschimmer keimte
in ihr auf. »Kennen Sie vielleicht Sjören? Er ist oft mit seinen
Freunden zum Baden hier.«
»Ach darum warst du gerade bei Hanna.« Das war zwar nicht die
Antwort, welche sich Katja erhofft hatte, zeigte aber, dass hier
offenbar jeder jeden kannte.
»Also kennen Sie ihn?«, fragte Katja erneut.
»Aber klar! Ich denke, er müsste in …«, sie sah auf ihr
Swatch-Imitat, »… ungefähr zehn Minuten hier sein! Bei dem
Wetter kommt er immer direkt nach der Schule her.«
Die Aussage erzeugte ein ungewolltes Lächeln um Katjas Mund, was
auch der Bedienung nicht entging und ohne jede Diskretion fragte
sie: »Du magst ihn wohl?«
Eigentlich erzählte Katja nicht gleich jedem von ihrem Leben, aber
sie mochte die junge Frau in ihren bunten Klamotten, und die
Tatsache, dass sie ebenfalls aus Deutschland kam, ließ sie etwas
schneller Vertrauen fassen, also antwortete sie: »Ja! Wir haben uns
gestern kennen gelernt und er hat mich mit hierher zum Baden
eingeladen.« Dann runzelte sie die Stirn, da ihr ein Gedanke
gekommen war, und fragte misstrauisch: »Wieso, müsste ich
irgendetwas wissen?«
Doch die Bedienung machte zu ihrer Erleichterung eine abwehrende
Geste: »Nein, nein! Sjören ist schwer in Ordnung.« Dann wurde ihre
Stimme leiser und sie beugte sich etwas zu Katja herunter. »Und er
ist hier auch nicht der große Touristen-Mädchen-Herzensbrecher. Das
wolltest du doch wissen oder?« Katjas Lächeln erstrahlte erneut,
wurde aber sofort wieder auf die Probe gestellt, als die junge Frau
weiterredete: »Allerdings solltest du dich etwas vor Hanna in Acht
nehmen. Sjören war letztes Jahr kurz mit ihr zusammen, und obwohl
zwischen den beiden schon lange wieder Schluss ist, könnte man
meinen, sie wäre sein Wachhund.«
»O. k. Danke!«, stotterte Katja, erholte sich aber schnell
wieder und streckte ihre Hand aus. »Ich bin übrigens
Katja!«
Die junge Frau gab ihr ebenfalls die Hand: »Und ich Jessi!«
Eifriges Winken vom Nachbartisch beendete ihre kurze Unterhaltung.
Jessi musste weiterarbeiten und Katja beobachtete Hanna, die sich
inzwischen von ihrem Handydisplay gelöst hatte und nun wie gebannt
in Richtung Zufahrtsweg starrte, von wo ein leises Motorengeräusch
herüberdrang. Wenige Sekunden später tauchte Sjören zwischen den
Bäumen auf, stellte seine Maschine im Schatten ab und zog sich den
Helm über den Kopf. Da er sich offenbar unbeobachtet fühlte, zupfte
er noch die kurzen blonden Haare zurecht und blickte dann kurz zur
Kontrolle in den Rückspiegel seines Mofas. Katja musste
grinsen.
Auf dem Weg zum Strand erblickte er Hanna und steuerte auf sie zu.
Katja wollte ihn schon rufen, als er von selbst einen Blick zur Bar
warf und sie entdeckte. Sein Gesichtsausdruck wechselte
augenblicklich von angespannt, auf entspannt und das Lächeln,
welches Katja so an ihm gefiel, zog sich über sein Gesicht. Er hob
die Hand, um Hanna zu grüßen, wechselte dann die Richtung und stand
kurz darauf vor Katja. Die Frage der Begrüßung erledigte sich von
alleine, da er sie einfach in den Arm nahm und ihr auf jede Wange
ein Küsschen gab. Hanna war vergessen!
»Wie kommst du denn hier her?«, fragte er sichtlich
erfreut.
»Ich habe meinen Eltern von dem Strand erzählt … sie sind
gerade etwas spazieren.« Katja spürte, dass sie schon wieder rot
wurde, daher fragte sie schnell: »Wie geht es dir?«
»Ich habe heute Ärger wegen dir bekommen«, sagte er gespielt
empört. Katja konnte nicht anders und wendete den Blick zum Strand,
und damit zu seiner Exfreundin.
»Nicht mit ihr«, stellte Sjören fest und sagte nach einer kurzen
Pause: »Zumindest noch nicht.« Dann runzelte er die Stirn: »Du
weißt von Hanna und mir?«
Noch bevor Katja antworten konnte, war Jessi hinter die beiden
getreten und verkündete: »Ich bin für klare Verhältnisse!« Sjören
fuhr herum und die Bedienung sprach weiter: »Außerdem finde ich,
dass Katja wissen sollte, mit wem sie es bei ihr zu tun
hat!«
Sein Gesichtsausdruck wurde kurz sorgenvoll, dann nachdenklich und
schließlich wieder lockerer: »Du hast recht! Bei ihr …«, er
nickte zu Hanna, »… weiß man nie!«
Katja wollte das Thema beenden: »Und warum hast du nun Ärger wegen
mir bekommen?«
Er versuchte, ernst zu bleiben: »Weil ich gerade Deutschunterricht
bei Frau Kaspar hatte!« Katja verstand nichts, doch er löste das
Geheimnis auf: »Offensichtlich habe ich in den paar Stunden mit dir
einiges von deinem Dialekt übernommen und das hat Frau Kaspar
überhaupt nicht gefallen!« Beide lachten und Katja sagte gestelzt:
»Dann werde ich jetzt immer ordentlich hochdeutsch sprechen.«
Wieder lachten sie und als Katja erneut zum Strand hinunterschaute,
sah sie gerade noch, wie Hanna am Ende der Bucht
verschwand.